Fjodor Dostojewski
Kaum ein Autor steht aus Sicht des Publikums so für Russland wie Dostojewski. Und kaum ein Autor provoziert so unterschiedliche Reaktionen. Für die einen ist er ein Genie, das dem menschlichen Geist wertvolle Offenbarungen gebracht habe (Semjon Frank ). Für die anderen ist er ein durchschnittlicher Schriftsteller, mit einem zeitweiligen „Aufblitzen unübertrefflichen Humors, das sich leider mit ausgedehnten Ödländern der literarischen Banalitäten“ abwechselt (Vladimir Nabokov ). Für viele Europäer ist er neben Tolstoi ein Schriftsteller, dem man zutraut, das als geheimnisvoll ebenso verklärte wie gefürchtete russische Wesen, die zum Klischee verkommene „russische Seele“, zu deuten. Gleichzeitig sind viele LeserInnen von Dostojewski ratlos und irritiert, stoßen sie in seinen publizistischen Texten oder Briefen doch auf Stellen, die Russlands Sonderweg hervorheben und die angebliche Vorherrschaft der Juden verurteilen. Wer also ist Fjodor Michailowitsch? Und was zeichnet sein Werk aus?
Fjodor Michailowitsch Dostojewski wird am 11. November (30. Oktober nach dem damals gebräuchlichen julianischen Kalender) 1821 in Moskau geboren. Will man dem Phänomen Dostojewski auf die Spur kommen, so sollte die Suche jedoch in Sankt Petersburg beginnen, in der Stadt, mit der sein Leben und Schaffen verbunden sind wie mit keiner anderen. Bereits mit 16 Jahren verlässt er sein Geburtshaus in Moskau, das neben dem ehemaligen Marienspital – Dostojewskis Vater war dort Arzt – steht und heute ein kleines Museum beherbergt. In die damalige russische Hauptstadt Sankt Petersburg kam Dostojewski, um an der Militärischen Ingenieurtechnischen Universität zu studieren. Er wird zwar zum Ingenieur ausgebildet, quittiert aber bereits kurz nach seinem Studienabschluss den Staatsdienst.
Hinterhöfe und Hintertreppen
Als Hauptstadt und geistiges Zentrum war Sankt Petersburg zu Dostojewskis Zeiten sowohl Raum der Literatur als auch Ort der Literaturproduktion, -distribution und -rezeption, schlicht „the Place to be“. Dostojewski logiert unter mehreren Dutzend Adressen, für wenige Tage oder mehrere Jahre am Stück. Es ist seine Stadt. Sankt Petersburger Reisetouren haben heute Spaziergänge auf den Spuren von Dostojewski und seinem berühmtesten Romanhelden Raskolnikow (Verbrechen und Strafe , Original: Prestuplenije i nakasanije, 1866) im Programm. Diese Spaziergänge führen jedoch nicht zu den üblichen Sehenswürdigkeiten, Palästen und Kathedralen, sondern in Hinterhöfe und zu Hintertreppen, in dunkle und beklemmende Schenken, Dachböden und Keller. Diese bieten den Protagonisten Dostojewskis den Raum für ihre meist karnevalesken Begegnungen und Dialoge, die die mehrstimmige fiktionale Welt des Schriftstellers kennzeichnen.
Bei realen oder mentalen Spaziergängen durch die Stadt begegnet man den Protagonistinnen und Helden aus Arme Leute (Bednyje Ljudi, 1846) und Weiße Nächte (Belyje notschi, 1848), erlebt die Schizophrenie von Jakow Goljadkin (Dwoinik, dt. Doppelgänger, 1846), der im Schneetreiben seinen eigenen Doppelgänger trifft, und verliert mit Fürst Myschkin (Idiot , 1868) angesichts der von Rogoshin ermordeten Nastassja in einem typischen Petersburger Hinterhofloch den Verstand. Ebenfalls in Sankt Petersburg befindet sich die Sphäre des Untergrundmenschen (Sapiski is podpolja, dt. Aufzeichnungen aus dem Kellerloch /Aufzeichnungen aus dem Untergrund, 1864). Der Bordellbesuch und die gescheiterten Anrempelungen auf offener Straße sind klar in Sankt Petersburg angesiedelt, die letztere Szene auf der Lebensader der Stadt, dem Newski Prospekt. Der titelgebende Untergrund oder Keller – podpolje – wie auch die ganze Kehrseite der Stadt sind jedoch auch metaphorisch zu verstehen: Es handelt sich in gewisser Weise auch um die „Keller“, „Hinterhöfe“ und „Hintertreppen“ des menschlichen Geistes, die Dostojewski zum Thema seiner Romane macht.
Leben und Tod
In Sankt Petersburg fängt Dostojewskis Karriere an. Seine erste eigene Publikation – zuvor hatte er Übersetzungen veröffentlicht –, der Briefroman Arme Leute, machte ihn gleich zum gefeierten Autor. Der einflussreiche Kritiker Wissarion Belinski erklärte, in Fjodor Michailowitsch habe man einen neuen Gogol gefunden. Doch der Erfolg war nur von kurzer Dauer. Vor seinem Tod 1848 wandte Belinski sich von Dostojewski ab.
1849 geschah die Katastrophe: Dostojewski wurde mit weiteren Teilnehmern des sogenannten Petraschewzenkreises verhaftet, in dem man sozialistische Ideen und Texte diskutierte. Im Prozess warf man ihm vor, er habe den verbotenen Brief Belinskis an Gogol von 1847 vorgelesen, in dem Belinski an den Grundfesten der russischen Zarenherrschaft von Orthodoxie (prawoslawije), Selbstherrschaft (samodershawije) und Volkstümlichkeit (narodnost) rüttelt. Dostojewski wurde zum Tode verurteilt. Am 22. Dezember 1849 waren die ersten drei Verurteilten bereits an die Hinrichtungsstelle geführt worden. Das Erschießungskommando stand bereit. Doch dann wurde ein Erlass des Zaren verlesen, wonach Dostojewski in Lagerhaft sollte. Der Erlass stammte bereits vom November des Jahres, die Hinrichtung war eine Scheinhinrichtung gewesen. Stefan Zweig beschreibt die Szene in seinen Sternstunden der Menschheit (1927) unter dem Titel Heroischer Augenblick.
Die „mildere Strafe“ (Stefan Zweig), die Dostojewski selbst zuteil wurde, bestand in vier Jahren Zwangsarbeit (katorga) und Lagerhaft mit anschließend fünf Jahren Militärdienst.
Dostojewski suchte nach neuen Verfahren, die Grenze zwischen Leben und Tod literarisch zu fassen. Mit vorherigen Versuchen, etwa dem von Victor Hugo in Der letzte Tag eines Verurteilten (Le dernier jour d’un condamné, 1829), war er unzufrieden, da dieser, wie Dostojewski in der Vorrede zu seiner Erzählung Die Sanfte (Krotkaja, 1876) ausführt, die unwahrscheinliche Situation annehmen muss, ein Todgeweihter könne noch bis zur letzten Minute Aufzeichnungen machen.
Das Verfahren, das Dostojewski stattdessen entwickelte, war der Analysegegenstand von Michail Bachtin, der mit seinen Studien zu Dostojewskis „Polyphonie“ die russische Literaturwissenschaft maßgeblich beeinflusste. Durch das gleichberechtigte Nebeneinander innerer und äußerer Stimmen verschiedener Protagonisten versuchte Dostojewski, dem menschlichen Erleben schriftlich so nahe wie möglich zu kommen. Und die Stimme des Autors ist in dieser Polyphonie nur eine der Stimmen, die über die anderen nicht dominiert.
So lässt Dostojewski Jahrzehnte später den „Idiot“ Fürst Myschkin Überlegungen zur Psyche eines zum Tode Verurteilten anstellen, die auf den Moment von 1849 zurückgehen:
„Aber der ärgste, stärkste Schmerz wird vielleicht nicht durch Verwundungen hervorgerufen, sondern dadurch, daß man mit Sicherheit weiß: nach einer Stunde, dann: nach zehn Minuten, dann: nach einer halben Minute, dann: jetzt in diesem Augenblick wird die Seele aus dem Körper hinausfliegen, und man wird aufhören, ein Mensch zu sein, und daß das sicher ist; die Hauptsache ist, daß das sicher ist“.
„Fünf Elefanten“ oder der „Große Pentateuch“
Erst 1859 kehrte Dostojewski nach Sankt Petersburg zurück und setzt das Schreiben fort. Seine Lagererfahrungen fanden Niederschlag in dem fiktionalisierten Band Aufzeichnungen aus einem Totenhaus (Sapiski is mjortwogo doma, 1861–1862). 1861 erscheint Dostojewskis erster Roman nach den Jahren der Haft und Verbannung: Erniedrigte und Beleidigte (Unishennyje i oskorbljonnyje). Und 1866 kam dann mit Verbrechen und Strafe (Prestuplenije i nakasanije) der erste Roman des „Großen Pentateuch“ heraus – oder der erste der „fünf Elefanten“, wie Übersetzerin Swetlana Geier Dostojewskis Hauptwerk bezeichnete. Einerseits aufgrund ihres gewaltigen Umfangs, andererseits wegen der gewichtigen in ihnen verhandelten Themen. Es geht um Verbrechen, Familienstrukturen, sozialistischen Terror, sexuellen Missbrauch und immer wieder die Frage nach Gott, der Situation des Menschen in der Welt und Erlösung, die in Dostojewskis Welt meist über die Sündenerfahrung führt.
Der Roman Verbrechen und Strafe machte Dostojewski auch international bekannt. Die Geschichte um den verarmten ehemaligen Studenten Rodion Raskolnikow, der sich zum Ausnahmemenschen erklärt und zum Beweis dafür, dass für ihn die normalen Gesetze nicht gelten, eine Pfandleiherin und ihre Schwester erschlägt, erschien bereits 1882 in deutscher Übersetzung unter dem Titel Raskolnikow. Ins Deutsche wird er in der Folge etwa 20 Mal übertragen, meist unter dem Titel Schuld und Sühne, 1997 in der Übersetzung von Swetlana Geier dann als Verbrechen und Strafe.
Der Spieler und der Schreiber
Seine Arbeit am Raskolnikow-Roman hatte Dostojewski zwischendurch aus finanziellen Gründen unterbrechen müssen. Dem Glücksspiel verfallen, hatte er in Wiesbaden und in anderen Kurstädten in Deutschland – im Zarenreich waren Casinos verboten – am Roulettetisch sein Geld verspielt. In dieser Notsituation unterschrieb Dostojewski, noch während er an Verbrechen und Strafe arbeitete, einen Vertrag mit einem Verleger, in dem er sich dazu verpflichtete, alle Einnahmen aus seinen bisherigen Publikationen an ihn abzutreten, sollte er es nicht schaffen, innerhalb eines guten Jahres zusätzlich einen weiteren Roman zu schreiben. Dostojewski ließ sich eine Stenographin empfehlen und diktierte Anna Snitkina in Rekordgeschwindigkeit den Text, der als Der Spieler (Igrok, 1867) bekannt werden sollte. Das Unternehmen gelang, im Anschluss machte Dostojewski Anna einen Antrag, sie heirateten.
Das stenographische Diktat ermöglichte es Dostojewski, sein ohnehin schnelles Schreiben noch zu beschleunigen. Schon um die Zeitschriften, die ihm und seinem Bruder Michail den Lebensunterhalt sichern sollten, zu füllen, war er darauf angewiesen, rasch und auf den Veröffentlichungstermin abgestimmt Texte zu produzieren. Diese Publikation als Fortsetzungsroman bedingte den Einsatz spannungssteigernder Verfahren und unerwarteter Wendungen, die das Publikum dazu bringen sollten, auch die Folgeausgaben zu kaufen. Gut zu erkennen ist dies bereits in Verbrechen und Strafe. Es gibt kaum eine Seite des Romans, auf der nicht das Wörtchen „wdrug“ (plötzlich) stünde. Beim Idiot folgen auf langsame Überblicksbeschreibungen unweigerlich emotionale Auseinandersetzungen, die in dramatischen Situationen gipfeln, so etwa die Szene, in der Nastassja Filippowna das gerade von Rogoshin empfangene Geldbündel ins Feuer wirft. Der Roman wogt von einem Skandal zum nächsten und gipfelt im Mord. Ähnlich verhält es sich auch bei Bessy (Böse Geister ).
Diese drei Romane bilden zusammen mit Der Jüngling (Podrostok, dt. auch Ein grüner Junge, 1875) und den Die Brüder Karamasow (Bratja Karamasowy, 1880) Dostojewskis Hauptwerk.
„Dämlicher russischer Nationalist“
In den letzten Lebensjahren schwor Dostojewski dem Glücksspiel ab und erlebte – finanziert durch die Einnahmen aus dem Tagebuch eines Schriftstellers (Dnewnik pissatelja) – seiner letzten publizistischen Publikationsreihe in Form einer Zeitschrift – mit Frau und Kindern relativ ruhige Jahre, in denen er auch gesellschaftliche Anerkennung fand. In seinem Dnewnik und anderen publizistischen Texten greift er ähnliche Themen auf wie in seinen Romanen. Als Denker positionierte er sich mit seinen Thesen im Streit der Slawophilen und Westler mehr im slawophilen Lager, wobei er eine eigene Ausgestaltung in Form der „potschwennitschestwo“ (Bodenverhaftung) entwickelt. Die Auseinandersetzung mit Dostojewski als Philosoph und Publizist fällt jedoch äußerst kontrovers aus.
Im Tagebuch finden sich zahlreiche Passagen, mit denen Freundinnen und Freunde von Dostojewskis Romanen und Erzählungen ihre Schwierigkeiten haben. Thomas Mann brachten sie zu dem Urteil, dass „Dostojewski – in Maßen“ zu genießen sei (so der Titel von Manns Vorwort zu einer amerikanischen Dostojewski-Ausgabe). Im selben Text bezeichnet Mann Dostojewski aber als „großen Russen“ und erklärt, früher habe er „das tiefe, verbrecherische Heiligenantlitz Dostojewskis“ geschätzt. In der Widersprüchlichkeit dieser Beschreibung kommt die Spannbreite der Reaktionen zum Ausdruck, mit denen zahlreiche Rezipienten Dostojewskis Werk begegnen.
Die Widersprüchlichkeit Dostojewskis führt für viele dazu, zwischen Dostojewski als Schriftsteller und Dostojewski als Philosoph zu unterscheiden. Merab Mamardaschwilli etwa erklärt Dostojewski als Schriftsteller zu einem „Phänomen“ der russischen Kultur, der Philosoph Dostojewski sei dagegen ein „dämlicher russischer Nationalist“.
„Vollkommen normales Genie“
Doch auch Dostojewskis Rezeption als Schriftsteller fällt oft kontrovers aus – und zwar nicht nur wegen der Themen, sondern auch wegen der Art und Weise, wie er seine Romane schreibt. Unter Intellektuellen findet sich eine lange Reihe derjenigen, die Dostojewski als Schriftsteller auf das Schärfste ablehnen. Iwan Bunin sagte etwa über Dostojewski, er sei ein „ekelhafter Schriftsteller … Er packt einen immer bei den Ohren und stößt und stößt und stößt einen mit der Nase in diese unmöglichen, herbeifantasierten Abscheulichkeiten, diese geistige Kotze“.
Anders nimmt es der polnische Science-Fiction-Autor und Philosoph Stanisław Lem wahr, der von Dostojewski begeistert war. Dostojewski sei „nun ein vollkommen normales Genie, also selbst wenn er Idiotismen schreiben wollte, schaffte er das nicht, ein absoluter König Midas, was er auch berührte, verwandelte sich in Gold, aus dem Besuch bei einer alten Hure konnte er allerhöchste Metaphysik machen“.
Einig war sich Lem mit Mann in der Einschätzung, dass Dostojewskis Texte von „genialischer Krankheit“ zeugten. Mann sah sich „vor dem Genie als Krankheit und der Krankheit als Genie, vor dem Typus des Heimgesuchten und Besessenen, in welchem der Heilige und der Verbrecher Eines werden“. Passenderweise wird die Schläfenlappenepilepsie, an der Dostojewski litt, mitunter auch als Dostojewski-Syndrom bezeichnet.
Zu Sowjetzeiten bereitete der „vertrackte Russe“, als den Sigmund Freud Dostojewski charakterisierte, Schwierigkeiten, nicht zuletzt wegen seines Beharren auf der Rolle der Orthodoxie für Russland, wie sie vor allem im Tagebuch zutage tritt. Erst 1956 konnte mit Beginn des Tauwetters eine zehnbändige Ausgabe seiner gesammelten Werke in Angriff genommen werden, vorher wurde Dostojewski nicht gedruckt. Auch in den Folgejahrzehnten schafften es höchstens die frühen Werke wie Erniedrigte und Beleidigte in die Lehrpläne.
Umso größeren Zuspruch erfährt er während der Perestroika und zu postsowjetischen Zeiten. 1997 errichtete man ihm vor der Moskauer Nationalbibliothek, der „Leninka“, ein Denkmal. Einen weiteren Guss nach gleicher Vorlage kann man seit 2006 in Deutschland besichtigen. Die Stadt Dresden ehrt damit ihren Dauergast: Dostojewski hatte bei zwei längeren Aufenthalten hier insgesamt etwa zweieinhalb Jahre lang gelebt.
Sowohl in Russland als auch in Deutschland allgegenwärtig sind Theaterinszenierungen und Verfilmungen seiner Werke. Allein der Idiot wird mehr als 20 Mal verfilmt. Dass Dostojewski keinen einzigen Text unmittelbar für die Bühne geschrieben hat, gerät leicht in Vergessenheit angesichts der zahlreichen Dramatisierungen.
Die Welt errettende Russentum
Als Dostojewski 1857 in Baden-Baden beim Westler Iwan Turgenjew zu Gast war, dem er obendrein noch Geld schuldete, konnte er sich nicht beherrschen und warf Turgenjew vor, dieser wisse ja gar nicht mehr, wie es in Russland sei, er möge sich doch ein Fernrohr zulegen. Wie sich Dostojewski hier selbst zum Russlandkenner erhob, wird er auch im 20. und 21. Jahrhundert gerne zu einem solchen stilisiert. Vor der Präsidentschaftswahl 2012 erschienen etwa in Sankt Petersburg auf Flugblättern Karikaturen, die Dostojewski im Gespräch mit Wladimir Putin zeigen. Der Künstler Daniil Tichonow legte Dostojewski Aufrufe zu nationaler Einheit in den Mund sowie Aussagen über leidvolle Erfahrung und Größe des russischen Volks. Er greift dabei Passagen aus dem Tagebuch auf. Darin lässt sich Dostojewski über das die Welt errettende Russentum aus, dessen Erlöserrolle als „Gottesträger-Volk“ sowohl Frankreich und Deutschland als auch die slawischen Völker noch erkennen würden. Auch antisemitischen Vorstellungen von den Juden als Ausbeuter der unschuldigen russischen Bauern finden sich darin. Die Verunglimpfung des britischen Premierministers Disraeli, dessen Aussehen Dostojewski als „jüdisch“ bezeichnet und mit dem einer Tarantel vergleicht, ist kaum sympathisch. Seine Begeisterung für den Krieg und die Kritik, alle Kriegsgegner seien Feiglinge, sind Gründe dafür, dass nationalsozialistische Ideologen wie Joseph Goebbels mit Begeisterung Dostojewski lasen.
In Russland greift man heute gerne Dostojewskis Ideen von der christlich-moralischen Vormachtstellung Russlands auf. Putin zitiert Dostojewski häufig und empfiehlt die Lektüre: „Für diejenigen, die es nicht gelesen haben, kann ich nur empfehlen, sich anzusehen, was Dostojewski über den eurasischen Vektor der russischen Politik geschrieben hat. Außerordentlich interessant, als wäre es heute geschrieben worden. Bitte schauen Sie es sich an, wenn Sie es noch nicht getan haben.“
Genie, Nationalist, mittelprächtiger Krimi-Autor – wer nun ist Fjodor Michailowitsch Dostojewski? Je nach Lesart muss das Urteil anders ausfallen. Und über allem schwebt Dostojewski, das Phänomen.