Dostojewski Unterschrift

Die Brüder Karamasow

Text: Warwara BabizkajaÜbersetzung: Ruth Altenhofer11.11.2021

Ein theosophisches Traktat, ein Krimi über einen Vatermord – entlang der ewigen großen Fragen und nicht zuletzt über Liebe und Geld

Wovon handelt dieses Buch?

Die Brüder Karamasow [russ. Titel: Bratja Karamasowy] ist Dostojewskis letzter Roman, der letzte seiner fünf großen Romane1, in dem er der modernen Gesellschaft einen Ausweg aus der weltanschaulichen Sackgasse andeutet und gegen Phänomene polemisiert, die er als Geschwüre seiner Zeit bezeichnet: Atheismus, Materialismus, utilitaristisch-sozialistische Moral, Zersetzung der Familie. Es ist ein theosophisches Traktat in Form eines Krimis über einen Vatermord, ursprünglich konzipiert als erster Teil des Lebens eines großen Sünders, der durch Versuchungen geläutert wird. Drei Brüder – Dimitri, Iwan und Alexej Karamasow – diskutieren über ewige Fragen (Ist die Seele unsterblich? Verfügt der Mensch über einen freien Willen, oder wird er ausschließlich von den Gesetzen der Natur dirigiert? Gibt es einen Gott und Schöpfer?), parallel dazu kollidieren sie in finanziellen und Liebesangelegenheiten. Wie Dostojewski schrieb: „Wenn es mir gelingt, dann werde ich hier etwas Gutes machen: Ich möchte bewusst machen, dass ein reiner, idealer Christ nichts Abstraktes, sondern etwas ganz Anschauliches, Reales, Mögliches und Greifbares ist und dass das Christentum Russlands einzige Zuflucht vor allem Bösen ist.“

Wie ist es geschrieben?

Die Hauptfabel des Romans – ein Kriminalmelodram, gemischt mit einigen sich überschneidenden amourösen und finanziellen Affären – wechselt ab mit eingestreuten eigenständigen Werken. Ein solches ist etwa das sechste Buch Der russische Mönch, das das Leben und die Lehren des Starez Sossima beschreibt, das Kapitel Die Jungen, außerdem Iwan Karamasows Poem Der Großinquisitor und Die Hochzeit zu Kana in Galiläa. Auch Beichten und Manifeste ohne direkten Bezug zur Handlung zählen hierzu, etwa die drei Beichten eines heißen Herzens von Dimitri Karamasow (In Versen, In Prosa und Mit den Fersen nach oben). Der Handlungsstrom wird immer wieder von theologischen Disputen unterbrochen, die verschiedene Figuren in verschiedenen Registern führen – einmal Starez Sossima in seiner Zelle, ein andermal der alte Karamasow mit Smerdjakow, Aljoscha, Mitja, Iwan und dem Teufel in höhnischem Ton Beim Kognak.

Ausnehmend wichtig in diesem Roman ist das fantastische Element – Träume, ein von Iwan halluziniertes Gespräch mit dem Teufel und Aljoschas Vision. Realistisch kann man dieses Werk wohl nur bedingt nennen. So erklärte Michail Bachtin die „unglaubwürdigen und künstlerisch nicht gerechtfertigten“ Skandale, die in Dostojewskis Romanen und vor allem in Die Brüder Karamasow im Überfluss vorhanden sind, zur spezifischen „Karnevalslogik“ von Dostojewskis künstlerischer Welt: „Die Karnevalisierung […] erlaubt eine Ausdehnung der engen Szene eines persönlichen Lebens in einer bestimmten, beschränkten Epoche zu einer universellen, allgemeinmenschlichen, Mysterien-Szene.“

Eine andere Eigenheit von Dostojewskis Prosa sieht Bachtin in ihrer Polyphonie: Alle bekennenden Aussagen seiner Helden sind „durchdrungen von dem angespannten Bezug zum antizipierten fremden Wort über sie, zur fremden Reaktion auf ihr Wort über sich selbst“. Typisch für alle Helden der Brüder Karamasow sind Doppelgedanken: Ein Gedanke kommt im Inhalt ihrer Worte zum Ausdruck, der andere, oft unbemerkt von ihnen selbst, in der Konstruktion ihrer Sätze, in ihrer Intonation und in nicht immer nachvollziehbaren Pausen. Ein Beispiel für diese innere Stimme ist Iwans Gespräch mit dem Teufel. Die Erzählerstimme fügt, wie Bachtin feststellt, dieser Polyphonie nichts hinzu und hat denselben Stellenwert wie alle anderen Stimmen.

Wie ging es weiter?

Dostojewski starb am 28. Januar (9. Februar) 1881, zwei Monate nach der Veröffentlichung der Brüder Karamasow, an Lungentuberkulose. Zu seinem Begräbnis kamen zigtausende Trauergäste, der Sarg wurde bis zum Grab auf Händen getragen. Die Grabinschrift stammt aus dem Johannesevangelium: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht.“ Diese Worte hatte Dostojewski den Brüdern Karamasow als Epigraph beigefügt.

Die Brüder Karamasow wurden weltweit als Dostojewskis geistiges Vermächtnis verstanden und beeinflussten die Literatur des bereits nahenden 20. Jahrhunderts: Franz Kafka, James Joyce, François Mauriac, Thomas Mann (insbesondere Doktor Faustus), Francis Scott Fitzgerald, John Steinbeck. Bekanntlich war Die Brüder Karamasow das letzte Buch, das Lew Tolstoi gelesen hat. Vom Einfluss dieses Werks auf ihr Leben und ihren Blick auf die Welt sprachen Ludwig Wittgenstein, Martin Heidegger und Albert Einstein. Albert Camus widmete Iwan Karamasow etliche Zeilen in seinem Essay Der Mensch in der Revolte, Sigmund Freud nannte Die Brüder Karamasow den besten Roman, der je geschrieben wurde, und widmete ihm den Artikel Dostojewski und die Vatertötung, in dem er nicht nur die Handlung des Romans, sondern auch Dostojewskis Biografie einer Analyse im Licht des Ödipus-Komplexes unterzog.

Die Brüder Karamasow wurden mehrmals auf die Bühne gebracht und verfilmt. Die ersten Inszenierungen wurden von der Zensur verboten, die in dem Roman „etwas moralisch Giftiges“ sah. Die erste erfolgreiche Aufführung fand erst 1899 statt, dafür gab es dann im 20. und vor allem im 21. Jahrhundert umso mehr Theaterstücke auf Grundlage des Romans – bis hin zur Ballettinszenierung und einer Rock-Oper.

Original: Polka, Bratja Karamasowy


Fußnoten

Die „fünf Großen“ Fjodor Dostoevskijs ist eine gängige Bezeichnung für seine späteren Romane, die ideologisch-thematische und poetisch-strukturelle Ähnlichkeiten aufweisen: Verbrechen und Strafe, Der Idiot, Die Dämonen, Der Jüngling und Die Brüder Karamazov.