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Belarus – die Geschichte eines Namens

Viktor Schadurski
Text: Viktor SchadurskiÜbersetzung: Tina WünschmannTitelbild: Anna Ivantsova20.02.2024

Belarus, ein Land an einer zivilisatorischen und religiösen Bruchlinie, an der Wasserscheide zwischen Ostsee und Schwarzem Meer, gelangt nur selten auf die Titelseiten deutscher Medien. Im Jahr 2020  zogen die Belarusen für kurze Zeit die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich, als sie die seit fast dreißig Jahren im Land herrschende prorussische Diktatur herausforderten. Nach den Massenprotesten von 2020 begann der Staat, Vertreter des sogenannten Russki Mir aktiver zu fördern. In der Folge wurde die belarusische Sprache im öffentlichen Raum weiter eingeschränkt und zivilgesellschaftliche Organisationen geschlossen, die sich für die Popularisierung der Nationalsprache und -kultur starkgemacht hatten.

Belarus ist seit Jahrhunderten eine Region mit starker eigener Identität, die sich von den Nachbarn unterscheidet. Die Eigenbezeichnungen und Fremdbezeichnungen des Territoriums und der Einwohner dieses Gebiets änderten sich im Laufe der Jahrhunderte. Sie migrierten zwischen Regionen, änderten Klang und Schriftbild. Nicht immer fiel die Eigenbezeichnung mit dem Begriff zusammen, den die Nachbarn nutzten. Der Name „Belarus“ für das heutige belarusische Territorium etablierte sich ab dem 16. Jahrhundert, zur offiziellen Bezeichnung wurde er aber erst nach der Gründung des souveränen Staates im 20. Jahrhundert.

Im Verlauf der Jahrhunderte existierten also, oft nebeneinander, zahlreiche Varianten, um das belarusische Gebiet  und seine Bewohner  zu benennen. Wir schauen uns der Reihe nach die wichtigsten davon an, ihre Herkunft und die Gründe, warum sie sich – im Unterschied zur Bezeichnung „Belarus“ – nicht etablieren konnten.

    Das Gebiet des heutigen Belarus wurde im Zuge der Großen Völkerwanderung ab dem 5.–6. Jahrhundert von den Ostslawen besiedelt. Bis zum 10. Jahrhundert siedelten auf diesem Gebiet Stämme wie die Kriwitschen, Radimitschen und Dregowitschen, die gemeinsam mit anderen Stämmen im Süden, Norden und Osten die gemeinsame Bezeichnung Rus erhielten und sich in einem Staatsgebilde mit dem Zentrum Kiew zusammenschlossen (Alte Rus, Kiewer Rus). Das Territorium dieses Feudalstaates entstand in erster Linie entlang des Handelsweges „von den Warägern zu den Griechen“, von der Ostsee zum Schwarzen Meer.1

    Die Begriffe „Rus“, „russki“, „rusin“, „rusitsch“ wurden bis zum 19. Jahrhundert für alle ostslawischen Völker der damaligen Kiewer Rus verwendet2. Der Wortstamm „Rus“ in der heutigen Bezeichnung des belarusischen Staates und der Nation wurzelt also tief in der Geschichte. Er war verständlich und wurde in dokumentierenden Quellen des Mittelalters weithin verwendet. Die zentrale Frage ist also, wann und wie das Attribut „Belaja“ (dt. weiß) hinzugekommen ist. Doch dazu kommen wir etwas später.

    Die Ostslawen, die die Sumpf- und Waldgebiete auf dem Territorium des heutigen Belarus kolonisierten, trafen auf andere Indoeuropäer, die bereits früher dorthin gekommen waren, nämlich baltische Stämme („Litwa“, „Jatwjagi“ und andere). Auch wenn die Beziehungen untereinander alles andere als ideal waren, so blieben doch viele baltische und von den Balten aus dem finno-ugrischen übernommene Gewässernamen und Ortsnamen erhalten (Polozk, Witebsk, Dwina, Drissa u. a.). Sie zeugen von der langen Koexistenz verschiedener ethnischer Gruppen. Durch gegenseitige Beeinflussung und natürliche Assimilation entstand die sogenannte balto-slawische Synthese, durch die sich die Belarusen von den anderen ostslawischen Völkern unterschieden und abgrenzten.

    Kollage © Anna Ivantsova / dekoder.org

    Ein großer Teil der nördlichen und zentralen Gebiete von Belarus war bis ins 10. Jahrhundert nach Christus vom Stammesverband der Kriwitschen besiedelt (Polozkije Kriwitschi). Dieser Name blieb nicht nur in Ortsnamen und Gewässernamen erhalten, sondern auch in den lettischen Wörtern für Belarus und Russland. Auf Lettisch heißt Belarus Baltakrievija (balts – weiß, Krievija – Rus, Russland), was die lange Koexistenz der beiden Völker widerspiegelt. Das Ethnonym  Krywija wurde Anfang des 20. Jahrhunderts sogar als alternative Bezeichnung für den jungen Nationalstaat vorgeschlagen. Initiator und eifrigster Verfechter dieser Idee war Wazlau Lastouski3, Historiker und prominenter Vertreter der belarusischen Nationalbewegung.

    1910 veröffentlichte Lastouski in Wilna (Vilnius) die Kurze Geschichte der Belarus – ein aufsehenerregendes Ereignis. Das Buch war das erste populäre Werk, das von Belarusen für Belarusen geschrieben wurde, und der erste Versuch, die Geschichte des Landes zu periodisieren. Es stellt auch den ersten Versuch dar, die Geschichte Belarus‘ zu periodisieren. Von 1923 bis 1927 gab Lastouski in Kaunas zwölf Ausgaben der Zeitschrift Krywitsch heraus, veröffentlichte zudem ein russisch-belarusisches (krywizisches) Wörterbuch und eine Geschichte des belarusischen (krywizischen) Buchdrucks. Unter dem Einfluss der sowjetischen Propaganda zog der Wissenschaftler 1927 nach Minsk, in die BSSR, wo er bald auf Grundlage einer fingierten Anschuldigung verhaftet und 1938 schließlich erschossen wurde.

    Das Wort Krywija tragen zwar noch heute viele Folklore-Ensembles und Vereine im Namen, als Bezeichnung für Staat und Nation fand es jedoch nie ausreichend Unterstützung. Der Mehrzahl der Belarusen erschien es wohl zu archaisch und mythisch.

    Eine breiter bekannte Alternative zur Bezeichnung des belarusischen Territoriums, der Nation und des Staates war das Ethnonym Litwa. Grundlage dafür war, dass die belarusischen Gebiete mehrere Jahrhunderte zum Großfürstentum Litauen gehörten, was enormen Einfluss auf ihre Entwicklung hatte.

    Als Mitte des 13. Jahrhunderts mongolisch-tatarische Nomaden die östlichen und südlichen Territorien der Kiewer Rus plünderten und verwüsteten, entstand im Nordwesten des heutigen Belarus und im Südosten des heutigen Litauen das Großfürstentum Litauen . Es entwickelte sich bis zum 15. Jahrhundert zu einem der bedeutendsten europäischen Staaten, woran verschiedene Völker Mittelosteuropas ihren Anteil hatten: Litauer, Belarusen, Ukrainer, Polen, Russen und andere. Amtssprache des Großfürstentums Litauen war bis ins 17. Jahrhundert die Sprache der Ostslawen, sozusagen der Vorfahren der Belarusen und Ukrainer: die ruthenische Sprache .

    Die Untertanen des Großfürstentums Litauen nannten sich ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft Litwiny, was in erster Linie ihre Staatsangehörigkeit ausdrückte. So nannte der polnische Schriftsteller Adam Mickiewicz, der im 18. Jahrhundert auf dem Territorium des heutigen Belarus geboren wurde, sein Heimatland Litauen (Litwa)4. Die Bezeichnung Litwa für den Westteil des belarusischen Territoriums blieb in Europa bis zum Ende des Ersten Weltkriegs üblich5.

    Die 1919 auf den Ruinen des Russischen Zarenreiches geschaffene Litauische Republik (Lietuvos Respublika) wurde zum Nachfolgestaat des Großfürstentums Litauen erklärt (des historischen Litwa), eines multikonfessionellen und multiethnischen Staates. In der zeitgleich gegründeten BSSR wurde hingegen die russisch-imperialistische These behauptet, derzufolge die belarusischen Gebiete von den litauischen Fürsten erobert und jahrhundertelang national und religiös unterdrückt wurden, besonders nach der Vereinigung des Großfürstentums Litauen mit dem Polnischen Königreich zur Rzeczpospolita (1569)6. Mit dieser politisierten Geschichtsdarstellung, die seit dem 19. Jahrhundert verbreitet wurde, setzten sich einige belarusische Historiker kritisch auseinander, doch ihre Ansichten konnten sich in der Wissenschaft nicht durchsetzen. Zu erwähnen ist auch hier Wazlau Lastouski, der das 16. Jahrhundert als Goldenes Zeitalter der belarusischen Geschichte bezeichnete.

    Erst mit der Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit 1991 nahm die Erforschung des Großfürstentums Litauen wieder Fahrt auf. Doch dieser Prozess verlief nicht ohne Extreme. Dieses Interesse trieb auch Blüten wie etwa den Litwinismus, der nicht nur die Belarusen als hauptsächliche Nachfolger des historischen Litauen sieht, sondern ein entsprechendes Politonym auch als Namen für den neuen Staat und seine Bürger durchsetzen möchte. Ende der 1990er gab es zum Beispiel eine politische Initiative, Belarus in „Litauisches Großfürstentum – Belarus“ umzubenennen. Weder Krywija noch Litwa konnten sich also als Bezeichnung für das belarusische Territorium und Volk durchsetzen. Den „Sieg“ in dieser historischen Auseinandersetzung trug Belarus, die Weiße Rus, davon.

    Kollage © Anna Ivantsova / dekoder.org

    Im Zarenreich des 19. Jahrhunderts versuchten Historiker, darunter auch Belarusen, eine populäre Erklärung für die Herkunft der Bezeichnung Belaja Rus zu geben. Eine Version war, dass seit dem 13. Jahrhundert. jener Teil der Alten (Kiewer) Rus als „Weiße Rus“ bezeichnet wurde, der nicht unter die Abhängigkeit der mongolisch-tatarischen Horde geraten war. Andere Versionen zogen die weiße Farbe der Leinenkleidung oder die blonden Haare und die helle Haut der Bewohner als Ursachen für die Bezeichnung heran. Obwohl nicht ausreichend wissenschaftlich belegt, sind diese Interpretationen bis heute sowohl in Belarus als auch außerhalb populär.7 Doch nichts davon stimmt.

    Einer bis heute unter Historikern verbreiteten Version zufolge tauchte der Begriff Belaja Rus (Alba Ruscia) zum ersten Mal in einem geografischen Traktat auf, das zwischen 1255 und 1260 in lateinischer Sprache in Dublin verfasst wurde (Incipiunt Descriptiones terrarum). Das handschriftliche Dokument wurde wiedergefunden und 1979 veröffentlicht. Zum Zeitpunkt der Niederschrift des Traktats bis Ende des 15. Jahrhunderts war die Bezeichnung Alba Ruscia hauptsächlich auf das Territorium bezogen, in dessen Zentrum die Nowgoroder Republik lag, wohlbekannt in Europa als Partner der Hanse.8

    In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts taucht in historischen Schriften vermehrt das Ethnonym Belarusy auf

    Als 1471 der Moskauer Großfürst Iwan III. Nowgorod angriff und kurze Zeit später unterwarf, begannen viele schriftliche Quellen in Ost und West, statt Alba Ruscia den Namen Moscovia zu verwenden. Somit hatte im späten Mittelalter der Terminus Belaja Rus einen fließenden Charakter und war nicht an ein konkretes Territorium gebunden. In den Großfürstentümern Moskau und Litauen wurde er nicht verwendet.

    1555 gab der polnische Historiker Marcin Kromer in Basel das Buch „Geschichte der Polen“ (De origine et rebus gestis Polonorum) heraus, das auf dem Gebiet der zukünftigen Rzeczpospolita und in Westeuropa weite Bekanntheit erlangte. In diesem Werk wurden unter dem Begriff Belaja Rus alle Gebiete der Litauischen Rus zusammengefasst, in denen die Bevölkerung orthodox war (belarusische und ukrainische Gebiete). Diese Definition wurde im wissenschaftlichen Kontext und in intellektuellen Kreisen verwendet.9

    1563 eroberte der Moskauer Zar Iwan der Schreckliche das Gebiet Polozk und hielt es etwa 15 Jahre lang, was die Tendenz verstärkte, Belaja Rus nicht mehr für das Moskauer Reich (Moscovia) zu verwenden, sondern für das Polozker Gebiet, das jenes dem Großfürstentum Litauen im Osten abgenommen hatte. Nach der Befreiung von Polozk durch die Armee der kurz zuvor gebildeten Rzeczpospolita blieb die Bezeichnung Belaja Rus für die östlichen Teile des heutigen Belarus erhalten (Polozk und Mogiljow), deren Bevölkerung dem orthodoxen Glauben angehörte.

    In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts taucht in historischen Schriften vermehrt das Ethnonym Belarusy auf, erstmals verwendet vom polnischen Aufklärer Maciej Stryjkowski (1547–1593). In seinem Werk Chronik von Polen, Litauen, Samogitien und der ganzen Rus (1582) benennt er unter den slawischen Völkern auch die „litauischen Belarusen“.10

    Das erste bekannte Beispiel einer Eigenbezeichnung als Belaruse geht auf den aus dem Polozker Gebiet stammenden Dichter Solomon Ryssinski (Solomonis Risinius (Pantherus), 1560–1625) zurück, der 1586 bei der Immatrikulation an der Akademie Altdorf bei Nürnberg angab, er sei Solomo Pantherus Leucorussus (leuco ist altgriechisch für weiß).11 Diese Bezeichnung war jedoch selbst bei den Bewohnern des östlichen Belarus nicht weit verbreitet.

    Kollage © Anna Ivantsova / dekoder.org

    Im Verlauf des 17. Jahrhunderts festigte sich die Bezeichnung Belaja Rus schließlich für die Gebiete um Polozk und Mogiljow. Der Moskauer Zar Alexej Romanow (der Vater Peters des Großen) nahm die Bezeichnung Belaja Rus 1654, nachdem er diese Gebiete erobert hatte, in seinen Titel auf: Zar der Großen, Kleinen und Weißen Rus, Alleinherrscher. Dieser erweiterte Titel verwies auf die expansionistischen Bestrebungen des erstarkenden Moskauer Fürstentums. Mit der aktiven Verwendung des Terminus Belaja Rus wollte Moskau die historische und kulturelle Nähe der ostbelarusischen Gebiete zur Moskauer (Großen) Rus demonstrieren und sie auch begrifflich von Litauen entfernen.

    Die Verwendung der Bezeichnung Belarus ausschließlich für den Ostteil des heutigen Belarus blieb auch nach der Aufteilung der Rzeczpospolita erhalten. 1796 wurde innerhalb des Russischen Kaiserreichs in den angegliederten Gebieten das Belarusische Gouvernement mit der Hauptstadt Witebsk und das Litauische Gouvernement mit der Hauptstadt Wilno (Vilnius) gebildet. Eine Grundlage für die neue Verwaltungsstruktur bildete auch der Faktor Religion und die damit verbundene Umgangssprache der Bevölkerung. Die Bewohner des Belarusischen Gouvernements nannten sich selbst immer häufiger Belarusen, womit sie weniger den ethnischen als den toponymischen Charakter ausdrückten.

    Nach dem Novemberaufstand 1830/31 ergriff der russische Zar Maßnahmen, um die Selbständigkeit in den ehemaligen Gebieten des Großfürstentums Litauen einzudämmen. Die griechisch-katholische (unierte) Kirche wurde abgeschafft (1839), die Orientierung am Statut des Großfürstentums beendet und damit die Freiheiten für die polnisch-litauische Elite abgeschafft (1840). Für die Gebiete des heutigen Belarus und Litauens wurde der Begriff Nordwestliches Gebiet eingeführt, dessen Verwendung nach der Niederschlagung neuerlicher Aufstände 1863–64 noch aktiver forciert wurde.

    Der erste proklamierte Staat, der „Belarus“ im Namen trug, war schließlich die Belarusische Volksrepublik

    Ab der zweiten Hälfte der 1860er Jahre jedoch stimmte die Regierung, für die nun der Kampf gegen polnische Einflüsse im Vordergrund stand, einer Verwendung der Bezeichnung Belarusen zu, sodass dieses im Laufe der 1870er bis 1890er Jahre andere, konkurrierende Bezeichnungen verdrängte. Das Ergebnis dieses Prozesses zeigte sich 1897 bei der Volkszählung im Russischen Kaiserreich. Die ethnische Zugehörigkeit (Nationalität) wurde zwar nicht abgefragt, dafür aber die Muttersprache. Im Gouvernement Mogiljow gaben 82,4 Prozent der Einwohner „Belarusisch“ als Muttersprache an, im Gouvernement Minsk 76 Prozent, in Wilno – 56 Prozent, in Witebsk – 52,9 Prozent und in Grodno – 44 Prozent.12

    Allerdings verlief die Ausbildung einer nationalen Identität der hauptsächlich bäuerlich geprägten Bevölkerung von Belarus sehr langsam. Wichtigstes Kriterium der Selbstidentifikation der Belarusen war am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert noch immer die Konfession. Wer katholisch war, entschied sich für die Zugehörigkeit zur polnischen Ethnie, während viele orthodoxe Belarusen sich selbst Russen nannten. Um sich von Polen und Russen abzugrenzen, bezeichnete sich auch noch im 20. Jahrhundert ein Großteil der Belarusen als Tutejschyja (dt. Hiesige). Andere Ethnien, mit denen sie jahrhundertelang friedlich koexistiert hatten (Russen/Moskalen, Polen, Juden, Tataren, Litauer, Ukrainer u. a.), identifizierten die Belarusen eindeutig, bei der Benennung ihrer eigenen Identität hingegen hatten sie offensichtlich Zweifel.

    Der erste proklamierte Staat, der „Belarus“ im Namen trug, war schließlich die Belarusische Volksrepublik, deren vollständige Staatlichkeit nie hergestellt werden konnte. Später entstanden sowjetische Staatsgebilde unter der Bezeichnung „Belarus“. In den ersten Jahren des im November 1917 errichteten Regimes wollten die Bolschewiki in den Randgebieten des ehemaligen Zarenreichs eine „nationale Wiedergeburt“ anregen, um sie in der Propaganda nach innen wie nach außen für ihre politischen Ziele zu nutzen. Die offizielle These lautete, dass der Aufbau des Sozialismus auch ein Aufblühen der Nationalkulturen mit sich bringe – sozialistisch im Inhalt, national in der Form. Stalin machte Schluss mit diesem Experiment, viele Vertreter der neuen belarussischen Elite fielen dem Großen Terror zum Opfer .

    Nach dem Zweiten Weltkrieg, der Belarus verwüstete, die jüdische Bevölkerung weitgehend vernichtete und den Belarussen insgesamt ein sehr hohes Opfer abverlangte, unterdrückte die fortschreitende Sowjetisierung des Landes die Rückbesinnung auf eine nationale Identität. Diese wurde erst infolge der Perestroika, der Katastrophe von Tschernobyl und der Entdeckung der Massengräber von Kurapaty  wieder populär und somit zu einer bedeutsamen politischen Bewegung.

    Nach dem Zerfall der UdSSR im Dezember 1991 entstand auf der Landkarte Europas ein neuer Staat – die Republik Belarus, der zu seiner Gründung die Farben und das Wappen aufnahm, die auf die vorsowjetische und vorrussische Geschichte von Belarus verwiesen. Der Prozess der nationalen Identitätsfindung ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Davon zeugen die divergierenden politischen Bestrebungen oder der Kampf um unterschiedliche historische Narrative. Die Unabhängigkeit des Landes ist mehr und mehr bedroht, da die Abhängigkeit von Russland seit der Niederschlagung der Proteste im Land und seit der Verstrickung in den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine  deutlich zugenommen hat. Entgegen der Politik des autoritären Regimes steigt jedoch unter den hunderttausenden Belarusen, die ihre Heimat seit 2020 verlassen mussten, die Popularität der Muttersprache merklich an.13


    Anmerkung der Redaktion

    Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.

    Fußnoten

    Donnert, Erich (1983): Das Kiewer Russland – Kultur und Geistesleben vom 9. bis zum beginnenden 13. Jahrhundert. 1. Auflage. Urania-Verlag, Leipzig.

    In einigen Fällen blieben sie auch bis heute erhalten (Rusinen/Ruthenen in der Ukraine und angrenzenden Staaten). Die Wojewodschaft, deren Zentrum Lwiw bildete, trug über viele Jahrhunderte die Bezeichnung „Russkoje“ und wurde erst 1772 im Rahmen der ersten polnischen Teilung aufgelöst. 

    Lastoŭski, Vaclaŭ (1997): Vybranyja tvory / Uklad., pradm. i kamient. Ja. Januškieviča. Minsk.

    Mickiewicz, Adam (1834): Pan Tadeusz czyli ostatni zajazd na Litwie. Historja szlachecka z r. 1811 i 1812, we dwunastu księgach, wierszem, przez Adama Mickiewicza. Tom pierwszy. Wydanie Alexandra Jełowickiego, s popiersiem autora, Paryż.

    Baumgart, Winfried (1966): Deutsche Ostpolitik 1918. Von Brest-Litowsk bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Oldenbourg, München.

    Pašuto, Vladimir Terent’evič (1959): Obrazovanie litovskogo gosudarstva, Moskva.

    Dovnar-Zapolʹskij, Mitrofan Viktorovič (1891): Očerk istorii Krivičskoj i Dregovičskoj zemelʹ do konca XII stoletija, Kiev.

    Colker, Marvin L. (1979): America rediscovered in the thirteenth century? Speculum, S. 712—726.

    Kromer Marcin (1983): Historyja prawdziwa o przygodzie żałosnej książęcia finlandzkiego Jana i królewny polskiej Katarzyny, oprac. Janusz Małłek, Pojezierze, Olsztyn.

    Stryjkowski, Maciej (1582):  Kronika Polska Litewska, Żmodzka, y wszystkiey Rusi Kijowskiey, Moskiewskiey, Siwierskiey, Wołyńskiey, Podolskiey, Podgorskiey, Podlaskiey, etc.

    Poreckij, Jakov Il’ič (1983): Solomon Rysinskij : Solomo Pantherus Leucorussus (konec XVI — načalo XVII v.), Minsk, Izdatel’stvo BGU.

    Obščij svod po imperii rezul’tatov razrabotki dannych pervoj vseobščej perepisi naselenija, proizvedennoj 28 janvarja 1897 g. (1905), Sankt-Peterburg, T. 1–2.

    Im Ausland werden literarische Werke in belarusischer Sprache publiziert, Theaterstücke aufgeführt, Kulturprojekte organisiert, die mithilfe moderner Kommunikationstechnik allen Belarusen zugänglich gemacht werden. Die Geschichte geht weiter. Es besteht die Hoffnung, dass Belarus einen würdigen Platz in der zivilisierten Welt einnehmen und nicht mehr als „weißer Fleck“ in Europa wahrgenommen werden wird., sh. Bohn, Thomas M./Shadurski, Victor (Hrsg.) (2011): Ein weißer Fleck in Europa … Die Imagination der Belarus als Kontaktzone zwischen Ost und West. transcript, Bielefeld.

    Text: Viktor Schadurski
    Übersetzerin: Tina Wünschmann

    Redaktion: Mandy Ganske-Zapf, Ingo Petz
    Kollagen: Anna Ivantsova
    Veröffentlicht: 20.02.2024