Die ruthenische Sprache im Großfürstentum Litauen

Michael Moser
Text: Michael Moser12.05.2023

Ruthenisch? Schon mal gehört? Nein? Kein Problem. Michael Moser, Sprachwissenschaftler an der Universität Wien, erklärt die Ursprünge und Mysterien einer Sprache, die als Kanzleisprache des Großfürstentum Litauens zu Ruhm gelangte und die nicht selten zu einer Art „Alt-Belarusisch” vereinfacht wird.

In der westlichen Forschung hat sich für die Schriftsprache der Vorfahren von Belarusen und Ukrainern der Name „Ruthenisch“ etabliert. Aber wie hat sie sich entwickelt? 

Beginnen wir im Jahr 988: Die Christianisierung der Rus mit der Taufe von Wladimir I. zog die Übernahme und weitere Ausgestaltung einer slawischen Schriftkultur nach sich. Für das religiöse Schrifttum adaptierte man die von den Slawenaposteln Kyrill und Method entwickelte kirchenslawische Sprache, die auf der Grundlage südslawischer (bulgaro-makedonischer) Dialekte stand und dem Vorbild des Bibelgriechischen folgte. Für das offizielle weltliche Schrifttum der Rus (einschließlich der heute belarusischen und ukrainischen Gebiete) wurde auf der Grundlage der örtlichen Dialekte eine altostslawische Koine erarbeitet, also eine gemeinsame Sprache, die verschiedene Dialekte abdeckt.

Besonders in weltlichen Dokumenten spiegelten sich im Lauf der Zeit – vor allem nach dem Untergang der mittelalterlichen Rus (Zerstörung Kyjiws durch die Mongolen im Jahr 1240) – zunehmend örtlich begrenzte Sprachwandelprozesse wider, welche die Grundlage für die spätere Herausbildung der ostslawischen Sprachen bildeten. Diese wurden verstärkt, als der überwiegende Großteil der westlichen und südwestlichen Gebiete der Rus unter die Kontrolle des Großfürstentums Litauen kam. Dieses verfügte bis zur Reformation über keine eigene Schriftkultur. Deswegen wurde eben jene Sprache der Ostslawen (sozusagen die Vorfahren der Belarusen und Ukrainer) übernommen. Die Folge war eine fortschreitende Ausdifferenzierung der Dialekte und Schriftsprachen auf dem Gebiet des Großfürstentums und des Königreichs Polen einerseits sowie der später russischen Territorien andererseits.

Das Ruthenische war weder eindeutig belarusisch noch eindeutig ukrainisch

Das Großfürstentum Litauen war seit der Hochzeit des litauischen Fürsten Jogaila (Jagiełło) mit der polnischen Prinzessin Jadwiga im Jahr 1386 in Personalunion mit dem Königreich Polen verbunden, seit der Lubliner Union von 1569, welche zur Überführung der heute ukrainischen Gebiete in die Jurisdiktion des Königreichs Polen führte, in Realunion. Das Polnische wurde so zu einer der wichtigsten Kontaktsprachen für die ostslawische Bevölkerung, sowohl der polnisch als auch der litauisch beherrschten Gebiete.

In allen ehemaligen Gebieten der Rus führte man den alten Sprachennamen „rusьkyiь jazykъ“ fort, was übersetzt so viel wie „Sprache der Rus“ – und nicht etwa: „russisch“ – bedeutet. Auf den Spracharealen des heutigen Belarusischen und des heutigen Ukrainischen hielt man eine weitgehend gemeinsame Kanzleisprache, eine Weiterentwicklung der altostslawischen Koine, aufrecht. Die Unterschiede zum Russischen waren dabei so offenkundig, dass zwischen den Sprachen zunehmend übersetzt wurde. Von russischer Seite aus wurden die belarusisch und ukrainisch basierten Varietäten gleichermaßen mitunter als „litauisch“ oder „belorussisch“ bezeichnet. Im späten 17. Jahrhundert wurde für ukrainische Varietäten der Name „Kleinrussisch“ eingeführt. 

Aus der Hrammatyka Slovenskaja von Ivan Uževyč (1645)

Das Ruthenische war dabei weder eindeutig belarusisch noch eindeutig ukrainisch, wenngleich einzelne Texte sehr wohl dem heute belarusischen bzw. dem heute ukrainischen Bereich zugeordnet werden können. Denn wie die meisten geschriebenen Sprachen zeigte das Ruthenische Tendenzen zum Ausgleich mundartlicher Unterschiede. Dennoch können vor allem handschriftliche Texte aufgrund bestimmter dialektaler Merkmale häufig enger lokalisiert werden, während der Buchdruck die sprachliche Vereinheitlichung beförderte. Als wichtige Orientierungspunkte für die sprachliche Entwicklung fungierten zunächst eher Kulturzentren des belarusischen (Polazk, Vilnius), dann vor allem nach der Lubliner Union: die des ukrainischen Sprachraums (Lwiw, Ostrih, Kyjiw).

Die ruthenische Schriftsprache war ein Bildungsgut der Eliten im Sprachraum des heutigen Belarusischen und des heutigen Ukrainischen, erst recht galt dies für das Kirchenslawische. Die Reformation erreichte das Königreich Polen und das Großfürstentum Litauen mit großer Wirkkraft, die starke Auswirkungen auf die Sprachsituation hatte. Schon seit 1517 veröffentlichte Francysk Skaryna einige Drucke in einer Sprache, die zunächst nur zaghaft vom traditionellen Kirchenslawischen abwich, um die Bibel „dem gemeinen Volk“ verständlich zu machen. Vor allem seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde dann die oben erwähnte Kanzleisprache als Grundlage für eine frühneuzeitliche ruthenische Schriftsprache herangezogen. Diese wurde in unterschiedlichen Textsorten eingesetzt und auch zur Übersetzung der Bibel verwendet. Bezeichnet wurde diese Schriftsprache als „(prostyj) rus’kyj jazyk“ („ruthenische (Gemein)Sprache“). 

Während ihrer Blütezeit in der zweiten Hälfte des 16. und der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts stand diese Schriftsprache unter einem sehr starken Einfluss des Polnischen. Im Lauf der Zeit übernahmen die meisten ruthenischen Vertreter des Adels und des Bürgertums das Polnische vollends. Im Jahr 1696 verlor das seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bereits auf wenige Funktionsbereiche eingeschränkte Ruthenische schließlich auch seinen Status als Amtssprache und wurde durch das Polnische ersetzt. Für die spätere Standardisierung des modernen Belarusischen bzw. des modernen Ukrainischen spielte die frühneuzeitliche ruthenische Schriftsprache nur eine eingeschränkte Rolle. Beide Sprachen wurden nämlich im 19. und frühen 20. Jahrhundert ausgebaut – vorwiegend auf Grundlage der weiterentwickelten volkssprachlichen Varietäten.


Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.