Litauen und Belarus: Der belarussische Wolf in Vilnius

Andrzej Pukszto
Text: Andrzej PuksztoÜbersetzung: Anselm Bühling12.05.2023

Die Litauer waren eine der ersten Nationen, die sich mit den belarussischen Protesten im Jahr 2020 solidarisierten. Als tausende Belarussen im Zuge der Repressionen aus ihrem Land flüchten mussten, nahm Litauen diese Flüchtlinge aus dem Nachbarland bereitwillig auf. Die gemeinsame Geschichte, die das baltische Land mit Belarus teilt, geht vor allem auf die Zeit des Großfürstentums zurück. Der Historiker und Politologe Andrzej Pukszto erörtert in seinem Beitrag die Herausforderungen dieser Vergangenheit für die litauisch-belarussischen Beziehungen.

Die litauische Hauptstadt Vilnius feiert 2023 ihr 700-jähriges Bestehen. Die Stadtverwaltung hat dazu zahlreiche kleine und große Veranstaltungen geplant, doch die Bürgerinnen und Bürger scheinen nicht optimistisch gestimmt zu sein. 

Der russische Angriff auf die Ukraine lastet schwer auf den Menschen in Litauen. Das Land grenzt im Osten an Belarus (Vilnius ist nur 40 Kilometer von der litauisch-belarussischen Grenze entfernt) und im Westen an die russische Exklave Kaliningrad. Die Litauerinnen und Litauer fühlen sich nicht sicher. Um sie zu beruhigen, erinnern politische und diplomatische Kreise daran, dass Litauen der NATO und der EU angehört. Im Juli 2023 wird das Land sogar das NATO-Gipfeltreffen beherbergen, das noch nie zuvor im postsowjetischen Raum stattgefunden hat.

Wie nah der Krieg ist, zeigen nicht zuletzt die zahllosen ukrainischen Flaggen auf öffentlichen Gebäuden und Privathäusern in Vilnius. Litauen hat etwa 100.000 ukrainische Flüchtlinge aufgenommen. Auch die weiß-rot-weiße belarussische Flagge ist überall zu sehen und erinnert daran, dass viele Menschen aus Belarus hier – vor allem nach den Ereignissen von 2020  – ein neues Zuhause gefunden haben. 

Die neuen Bürgerinnen und Bürger von Vilnius sind sehr aktiv. Vor kurzem hat in der Altstadt das Restaurant Karčma 1863 eröffnet, als dritter belarussischer Gastronomiebetrieb im Verlauf der beiden letzten Jahre. Eine weitere Neugründung ist das Belarussische Haus, das sich zu einem wichtigen Ort für Bildungs- und Kulturinitiativen entwickelt hat.  

Schon zu Beginn und am Ende des 20. Jahrhunderts war Vilnius ein Zentrum für politische und kulturelle Persönlichkeiten aus Belarus. Auch heute spielt die Stadt eine solche Rolle. Das erklärt, warum vor einigen Jahren anlässlich des Staatsbegräbnisses für die Anführer des Januaraufstands von 1863 ein Meer von weiß-rot-weißen Flaggen zu sehen war, die in Belarus selbst verboten sind.

Weiß-rot-weiße Flaggen in Vilnius beim Staatsbegräbnis für die Anführer des Januaraufstands von 1863 / Foto © Andrei Shauliuha

Diese ungewöhnliche Zeremonie fand im November 2019 in Anwesenheit der Präsidenten Litauens und Polens, einer großen Delegation aus der Ukraine und des Vizepremierministers von Belarus statt. Damals gab es in den diplomatischen Beziehungen zwischen Litauen und Belarus noch eine, wenn auch langsame, Entwicklung. Zwar verfolgten beide Länder auch vor 2020 keine gemeinsamen politischen Initiativen, doch auf wirtschaftlicher Ebene kooperierte Litauen eng mit dem Lukaschenko-Regime. So wurde etwa Mineraldünger mit der litauischen Eisenbahn zum Seehafen in Klaipėda transportiert. Die Produktion des belarussischen Staatsunternehmens Belaruskali bescherte den Haushalten beider Staaten erhebliche Einnahmen.    

All das änderte sich mit dem August 2020. Die Republik Litauen verurteilte die Fälschung der Präsidentschaftswahlen in Belarus scharf und bot Swetlana Tichanowskaja Zuflucht in Vilnius, wo sie bis heute ihr Büro hat. Auch zwei ausländische Chefdiplomaten, die aus Belarus ausgewiesen wurden, fanden in der litauischen Hauptstadt Exil: der französische Botschafter Nicolas de Lacoste und Julie Fisher, die Botschafterin der USA. 

Tichanowskaja und ihr Team haben mit Unterstützung litauischer Diplomaten umfassende Aktivitäten entfaltet. Es wurden zahlreiche Spitzentreffen, Konferenzen und Seminare organisiert, an denen Vertreter der EU, der USA, Norwegens, Großbritanniens, Kanadas und vieler anderer Staaten teilnahmen. 

Nicht nur politische Flüchtlinge kommen nach Litauen. Auch belarussische Unternehmen aus der IT-Branche und weiteren Wirtschaftssektoren haben in Vilnius und anderen litauischen Städten neue Standorte gefunden, und Kunstschaffende, Studierende und andere Menschen aus dem Nachbarland leben dort. Die größte Solidaritätsaktion wurde am 23. August 2020 von Litauern organisiert: Ein Ausgangspunkt in Vilnius wurde durch eine lange Menschenkette mit dem Zielpunkt in der litauisch-belarussischen Grenzstadt Medinkai verbunden. Die Aktion griff die Idee der Baltischen Menschenkette vom 23. August 1989 auf: Um Europa an den 60. Jahrestag des Ribbentrop-Molotow-Pakts zu erinnern, hatten Menschen aus Litauen, Lettland und Estland damals eine lebende Kette gebildet, die die Hauptstädte Vilnius, Riga und Tallinn miteinander verband. Die Baltische Menschenkette wurde zum Symbol der nationalen Bewegungen im Baltikum und leitete den Zusammenbruch der Sowjetunion ein.  

Die litauische Bevölkerung unterstützt die Belarussinnen und Belarussen auf unterschiedlichste Art. Sie möchte ihnen im Kampf gegen Moskau und Putin zur Seite stehen. Zugleich gibt es zurückliegende Missverständnisse und Kontroversen um die gemeinsame Geschichte beider Länder. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kam es zwischen Litauen und Belarus – ähnlich wie zwischen Litauen und Polen – zu Diskussionen und Konflikten in Bezug auf die Geschichte. 

Die Belarussen hielten den Litauern vor, sie würden sich das Erbe des Großfürstentums Litauen aneignen. Dort sei die Staatssprache Altbelarussisch  gewesen, und die alten Litauer seien sprachgeschichtlich von der Bevölkerung des heutigen Litauen weit entfernt. Die Republik Litauen der Zwischenkriegszeit, die nach 1990 wiederbegründet wurde, habe nichts mit dem Großfürstentum Litauen gemeinsam. Letzteres sei im 12. Jahrhundert auf belarussischem Gebiet gegründet worden und habe später als polnisch-litauische Adelsrepublik bis zum Ende des 18. Jahrhunderts existiert. Die heutige litauische Nation gehe hingegen auf Samogiten und Samogitien zurück, eine kleine Region im Westen des heutigen Litauen. Einige weit rechts stehende belarussische Historiker sahen sogar Vilnius als eigentlich belarussische Stadt an. Diese Meinung wird auch im Umfeld der Lukaschenko-Administration vertreten.

Die erbitterten Auseinandersetzungen betrafen unter anderem auch das 14. Jahrhundert und den litauischen Großfürsten Gediminas . In beiden Nationen ist die Legende weit verbreitet, die erzählt, wie Gediminas die Entscheidung zur Gründung von Vilnius traf. Dieser Legende nach jagte Gediminas in einem großen Wald und schlug in der Nähe zweier Flüsse sein Nachtlager auf. Dort träumte ihm, dass auf dem Hügel an den beiden Flüssen ein eiserner Wolf heule. Ein heidnischer Priester erklärte Gediminas, er solle an diesem Ort eine Stadt errichten und zur neuen Hauptstadt machen. So würden Staat und Hauptstadt gedeihen und sich entwickeln. 

Professor Alfred Bumblauskas, der ehemalige Dekan der historischen Fakultät der Universität Vilnius, mag diese Legende besonders gern. Er hat viel dazu beigetragen, die litauische Geschichtsschreibung neu erstehen zu lassen. Die Menschen in Litauen waren stolz auf ihre Geschichte – in der Zwischenkriegszeit, in der Sowjetzeit und nach 1990. Ihrer Auffassung nach waren alle Monarchen des mittelalterlichen Großfürstentums der litauischen Sprache mächtig. Litauen habe sich damals von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer erstreckt – das heißt, der größte Staat, den es im 14. Jahrhundert in Europa gab, sei von Litauern erschaffen worden. Sie hätten Europa später auch vor den Angriffen des Großfürstentums Moskau und dann Russlands bewahrt. 

Wo sich die Hauptstadt des Großfürstentums Litauen vor 1323 befand, ist unklar. Das politische Zentrum könnte sich im 13. Jahrhundert sowohl in Nawahrudak im heutigen Belarus als auch in Kernavė und später in Alt-Trakai im heutigen Litauen befunden haben. Wer die wichtigste Gründernation des großen mittelalterlichen Staates war, Belarus oder Litauen, ist nicht gesichert.  

Die Gruppe der belarussischen Historiker, von denen einige Lukaschenko nahestehen, legt immer mehr Nachdruck darauf, dass das Großfürstentum Litauen und Vilnius belarussischen Ursprungs seien. Nicht die litauische Nation, sondern die belarussische habe demnach zu den einflussreichsten Nationen im alten Europa gezählt. Das eigentliche Litauen sei lediglich eine kleine, belarussisch regierte Provinz gewesen. In Litauen hat sich demgegenüber in den beiden letzten Jahrzehnten die Geschichtsauffassung sowohl in der Bevölkerung als auch in Historikerkreisen von der ausschließlichen Fixierung auf das eigene Land gelöst und ist offener für polnische und belarussische Perspektiven. Historische Mythen werden dort zunehmend mit Humor betrachtet. Seit Litauen Mitglied der EU und der NATO ist, wird die Souveränität des Landes nicht mehr als bedroht empfunden.

So scherzt der renommierte litauische Historiker Bumblauskas: „Mir scheint, der Wolf hat nicht auf litauisch geheult, sondern auf belarussisch“.