Dostojewski Unterschrift

Verbrechen und Strafe

Text: Lew OborinÜbersetzung: Jennie Seitz11.11.2021

Ein Kriminalroman von hinten aufgerollt: Der Mörder und das Verbrechen sind von Anfang an bekannt – die Spannung erwächst aus der unabwendbar herannahenden Strafe …

Wovon handelt dieser Roman?

Rodion Romanowitsch Raskolnikow, ein mittelloser, aber krankhaft stolzer Student, beschließt herauszufinden, ob er eine Tat begehen kann, die ihn über „gewöhnliche“ Menschen erhebt. Zu diesem Zweck ermordet er eine unglückselige alte Pfandleiherin – und dann deren Schwester, die zufällig am Tatort ist.
Dostojewski rollt gewissermaßen den Kriminalroman von hinten auf: Während der Mörder und das Verbrechen von Anfang an bekannt sind, erwächst die Spannung aus der unabwendbar herannahenden Strafe. Im weiteren Handlungsverlauf lernt Raskolnikow die Prostituierte Sonja Marmeladowa kennen, die ihm zu einer geistigen Läuterung verhilft, er rettet seine Schwester vor ihrem Verlobten, der sich als Betrüger entpuppt, und liefert sich ein psychologisches Duell mit dem Ermittler Porfiri Petrowitsch. Den spannungsgeladenen Plot kombiniert Dostojewski mit philosophischen, den Existentialismus vorwegnehmenden Fragen über die Freiheit des Individuums – und erschafft damit einen der bedeutendsten Romane der Literaturgeschichte.

Wie ist der Roman aufgebaut?

Das erste, was auffällt, ist die Dynamik, der fesselnde Plot. Für viele „ernsthafte“ literarische Werke wäre das ein Minus, aber Dostojewski, der sich [laut Michail Bachtin] stark am Aufbau eines Abenteuerromans1 orientiert, zieht daraus nur Vorteile. Trotz seines enormen Schreibtempos [der Roman, an dem Dostojewski noch sukzessive schrieb, erschien kapitelweise ab Ende Januar 1866 bis Dezember 1866 in der Zeitschrift Russki Westnikdek] gelingt es ihm, ein hochkomplexes System von Figuren und Beziehungen zu spannen. Wir wissen von Anfang an, wer der Mörder ist, und trotzdem verfolgen wir mit Spannung, wie er schließlich überführt wird, nehmen zahlreiche Parallelen zu seinem Verhalten in den Handlungen und Worten der anderen Figuren wahr – und fühlen gleichzeitig mit ihm mit.

Seit den Arbeiten von Michail Bachtin hat sich die Auffassung durchgesetzt, Dostojewskis späte Prosa sei polyphon: Der intensive Dialog in seinen Romanen findet nicht nur zwischen zwei Hauptfiguren statt, sondern zwischen dem Bewusstsein des einen und des anderen, das je eigenständig, subjekthaft ist und nicht nur die Gedanken des Autors widerspiegelt.
Obwohl im Zentrum des Romans das Bewusstsein Raskolnikows steht, können wir in den anderen Figuren – Swidrigailow, Marmeladow, Porfiri Petrowitsch – Alternativen dazu erkennen, wenn auch gewissermaßen verwandte. Den Widerstreit zwischen diesen Bewusstseinen, Lebenseinstellungen und Ethiken können wir in den ausgedehnten Dialogen zwischen den Figuren beobachten. Der Dialog ist überhaupt die treibende Kraft in Dostojewskis Prosa; Nabokov höhnte seinerzeit, das Schicksal selbst habe Dostojewski eine Laufbahn als bedeutendem Dramaturg vorgezeichnet, doch er habe seinen Weg verfehlt und sei Romancier geworden.2

Raskolnikow und Marmeladow / Illustration © Michail Klodt, 1874 (gemeinfrei)

In gewissem Sinne kann Verbrechen und Strafe [russ. Titel: Prestuplenije i nakasanije; den Titel Verbrechen und Strafe führte Swetlana Geier im Deutschen ein; in älteren Übersetzungen: Schuld und Sühnedek] als eine Sujet-Konstante in Dostojewskis Werk bezeichnet werden. Dem Religionsphilosophen Sergej Askoldow zufolge ist „das Verbrechen bei Dostojewski der lebendige Ausdruck eines religiös-ethischen Problems. Die Strafe ist eine Form seiner Lösung.“3 Demzufolge ist der Kriminalcharakter des Romans – obwohl Dostojewski keine Gelegenheit auslasse, zu starken Effekten zu greifen4 – kein Zugeständnis an ein Publikum, das nach Nervenkitzel verlangt, sondern eine notwendige Bedingung für die Entfaltung des philosophischen Konflikts. Dem Philologen Boris Engelgardt zufolge schrieb Dostojewski seine Romane nicht aus einer Idee heraus, sondern über eine Idee.5 So charakterisiert Aljoscha seinen Bruder Iwan in den Brüdern Karamasow : „Er ist einer von denen, die nicht nach Millionen gieren, sondern danach, eine Idee zur Reife zu bringen.“ Das Gleiche trifft auch auf Raskolnikow zu.

Wie ging es weiter?

Verbrechen und Strafe war der erste der fünf großen Romane, [der „fünf Elefanten“, wie sie in Deutschland seit der Neuübersetzung von Swetlana Geier oft genannt werden – dek]; es folgten Der Idiot, Böse Geister [ältere Übersetzungen: Die Dämonen], Der Jüngling, und Die Brüder Karamasow. Noch zu Dostojewskis Lebzeiten erschien ein Ausschnitt aus Verbrechen und Strafe auf Französisch; in den 1880er Jahren wurde der Roman in alle großen europäischen Sprachen übersetzt. Er übte großen Einfluss auf die westlichen Schriftsteller aus, was bereits im 19. Jahrhundert spürbar war (vgl. z. B. Paul Bourgets Der Schüler von 1889), aber erst im 20. Jahrhundert zur vollen Entfaltung kam: Motive aus Verbrechen und Strafe lassen sich bei den englischen Modernisten wie Virginia Woolf und D. H. Lawrence genauso finden wie bei den französischen Existentialisten, etwa bei Sartre und Camus (besonders in Der Fremde). Die deutlichsten Spuren hinterließ der Roman jedoch in der deutschsprachigen Prosa; genannt seien hier Gustav Meyrink, Leonhard Frank, Joseph Roth, Stefan Zweig und Robert Musil.6

In Russland wandelte sich die Rezeption von Verbrechen und Strafe mit der Rezeption Dostojewskis insgesamt. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts stand einem „demokratischen“ Verständnis des Autors ein christliches, mystisches, protosymbolistisches gegenüber – so sah ihn vor allem sein Freund, der Philosoph Wladimir Solowjow. Für Solowjow war offensichtlich, dass die Romanidee aus der Biografie des Autors herrührt, der genau wie Raskolnikow während seiner Zeit in der Strafkolonie eine geistige Läuterung erfuhr.

Je weiter sich die Dostojewski-Kritik vom Positivismus entfernte, der jegliche Metaphysik ablehnt, desto stärker wurde die zentrale Bedeutung von Verbrechen und Strafe innerhalb von Dostojewskis Werk betont. Der Religionsphilosoph Wassili Rosanow plädierte sogar dafür, alle anderen Texte des Autors als „umfangreichen und vielschichtigen Kommentar zu seinem vollkommensten Werk – Verbrechen und Strafe“ zu betrachten. Dmitri Mereschkowski schrieb: „Überall bei Dostojewski geht es um die menschliche Persönlichkeit, die bis an ihre äußerste Grenze getrieben wird, die sich aus ihren dunklen, triebgesteuerten, animalischen Wurzeln bis hin zu den leuchtendsten Gipfeln der Geistigkeit erhebt.“

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnte das Urteil über Verbrechen und Strafe als einem der wichtigsten Romane der Weltliteratur im Grunde nichts mehr erschüttern – obwohl Dostojewski zu jener Zeit durchaus leidenschaftliche Kritiker hatte (Bunin: „Ich hasse euren Dostojewski! […] Er packt einen immer bei den Ohren und stößt und stößt und stößt einen mit der Nase in diese unmöglichen, herbeifantasierten Abscheulichkeiten, diese geistige Kotze“; Nabokov: „Ein Mörder und eine Hure beim Lesen der Heiligen Schrift – was für ein Unsinn! […] Es ist ein billiger literarischer Trick, kein Meisterwerk von hohem Pathos und Frömmigkeit.“).
Der Roman wurde zum Gegenstand zahlreicher Interpretationen, ob literaturwissenschaftlich, psychoanalytisch oder religiös, und natürlich wurde er auch immer wieder für Bühne und Leinwand adaptiert. Weltweit existieren über zwanzig Verfilmungen. Den kulturellen Archetypus hinter Dostojewskis Motiv erkennend, verlegten manche Regisseure die Handlung in andere Länder oder in die Gegenwart: So debütierte zum Beispiel Aki Kaurismäki mit der sehr freien Dostojewski-Adaption Crime and Punishment als Spielfilmregisseur.

Original: Polka, Prestuplenije i nakasanije


Fußnoten

Bachtin, M. M. (1979): Problemy poėtiki Dostoevskogo, Moskva, S. 117

Nabokov, V. V. (1998): Lekciju po russkoj literature, Moskva, S. 183

zit. nach: Bachtin, M. M. (1979): Problemy poėtiki Dostoevskogo, Moskva, S. 13

Vajl’, P./Genis, A. (2008): Rodnaja reč’: Uroki izjaščnoj slovesnosti, Moskva, S. 220

zit. nach: Bachtin, M. M. (1979): Problemy poėtiki Dostoevskogo, Moskva, S. 26

Fridlender, G. M. (1979): Dostoevskij i mirovaja literatura, Moskva, S. 295-418