Der Idiot
Der Idiot – von seinen Zeitgenossen nicht allzu hoch geschätzt und von den Modernisten rehabilitiert, die darin keine wirre, holprige Erzählung sehen, sondern einen komplexen Text über einen Propheten in der modernen Welt
Wovon handelt dieses Buch?
Der an Epilepsie leidende Fürst Myschkin – ein Mann von eindrucksvoller Güte und Sanftmut, dabei ein feinfühliger Psychologe, der es versteht, mit jedem ins Gespräch zu kommen und in jedem Menschen etwas Besonderes zu entdecken – kehrt aus einer Schweizer Klinik nach Russland zurück. In Sankt Petersburg lernt er den Kaufmann Parfjon Rogoshin, die fatal schöne Nastassja Filipowna Baraschkowa und die progressive junge Dame Aglaja Jepantschina kennen. Generäle und Bettler, Kaufleute und verarmte Adelige begegnen dem seltsamen Fürsten – und jeder offenbart sich auf unerwartete Weise, verändert sich und erscheint in einem neuen Licht. Lügner und Betrüger entpuppen sich als bedauernswerte Menschen, Trunkenbolde und Aufschneider als Erniedrigte und Beleidigte. Doch diese Offenbarungen können das Leben der Protagonisten nicht verändern, sie bleiben, wer sie waren, und der Fürst verliert am Schluss endgültig den Verstand.
Dostojewski wollte einen idealen Menschen nach dem Vorbild Christi zeichnen; doch die Realität, in der er leben muss, zwingt ihn in die Knie – er schafft es nicht, die Welt zu verändern. Der Roman, der bei seinen Zeitgenossen schlecht ankam, galt später als eine von Dostojewskis kraftvollsten Aussagen.
Wie ist es geschrieben?
Ein charakteristisches Merkmal dieses Romans, das regelrecht ins Auge springt, ist seine Theatrizität. Er besteht fast ausschließlich aus Dialogen, der Erzähltext umfasst vor allem sehr detaillierte Beschreibungen der handelnden Personen und Schauplätze. Nahe am Theater ist auch die Komposition: Der Roman ist in Szenen unterteilt, die Handlungsorte wechseln selten, und alle Ereignisse des ersten Teils – von Myschkins und Rogoshins Begegnung im Zug bis zu Nastassjas Flucht mit Rogoshin – spielen sich innerhalb eines Tages ab.
Michail Bachtin sah in der Dialogizität des Idioten ein Merkmal eines Genres, das er Menippeische Satire nannte. Das Ziel der Menippee sei es, Ausnahmesituationen zu schaffen, um philosophische Ideen zu provozieren und auf die Probe zu stellen – Worte, Wahrheiten, die von einem Weisen verkörpert werden, der diese Wahrheit sucht.1 Im Idioten ist Fürst Myschkin ein solcher Wahrheitssuchender – und seine Stimme ist hier so konstruiert, wie in Romanen normalerweise die Stimme des Autors konstruiert ist. Die Stimme der Hauptfigur steht gleichsam neben der Stimme des Autors und verbindet sich auf ganz besondere Weise mit dieser wie auch mit den ebenfalls starken Stimmen der übrigen Helden.2
Als Beispiel einer solchen Dualität sei hier die Episode angeführt, in der Nastassja erstmals auftritt und zu den Iwolgins kommt. Zuerst spielt sie – den Gastgebern, die sie dafür verurteilen zum Trotz – die Kokette. Doch Myschkins Stimme, die sich mit ihrem ihren inneren Dialog kreuzt, bringt sie dazu, ihren Ton drastisch zu ändern und Gawrilas Mutter ehrerbietig die Hand zu küssen, obwohl sie diese gerade noch verspottet hat.
Wie ging es nach der Veröffentlichung weiter?
Obwohl Der Idiot [russ. Titel: Idiot] von seinen Zeitgenossen nicht allzu hoch geschätzt wurde, übte der Roman einen enormen Einfluss auf die Ideen der Jahrhundertwende zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert aus. Das bedeutendste Beispiel dafür ist das Werk Friedrich Nietzsches. Im Antichrist schreibt er von „jener seltsamen und kranken Welt, in die uns die Evangelien einführen – eine Welt, wie aus einem russischen Romane, in der sich Auswurf der Gesellschaft, Nervenleiden und ‚kindliches‘ Idiotentum ein Stelldichein zu geben scheinen“. Stefan Zweig besprach den Idioten ausführlich in den Drei Meistern und André Gide in seinem Essay über Dostojewski. So wurde der Roman von den Modernisten „rehabilitiert“: Sie sahen darin keine wirre, holprige Erzählung, mit der der Autor eine ihm wichtige Idee illustrieren will, sondern einen komplexen Text über einen Propheten in der modernen Welt.
Der Roman wurde dank seiner Dramatik, den zahlreichen Dialogen und der fertigen Untergliederung in Szenen im 20. Jahrhundert mehrfach inszeniert und verfilmt.
Der Idiot lässt auf der Leinwand die mutigsten Interpretationen zu. Akira Kurosawa verlegte 1951 die Handlung ins Japan der Nachkriegszeit, Fürst Myschkin ist bei ihm ein Kriegsgefangener und die höhere Gesellschaft – vom Krieg gezeichnete Bürger. Nicht zu vergessen ist auch die Rowdyversion von Roman Katschanows Down House – eine Farce auf Dostojewskis Roman – im Finale wird Nastassja von Myschkin und Rogoschin gefressen.
Original: Polka, Idiot
Bachtin, Problemy poėtiki Dostoevskogo, Moskva und Bachtin, M. M. (2002): Sobranie sočinenij, Bd. 6 (Russkie slovari: Jazyki slavjanskoj kul’tury)
ebd.