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Belarus und das Großfürstentum Litauen

Das Großfürstentum Litauen war einer der größten Staaten der Erde. Er erstreckte sich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Die multikulturelle und in vielfacher Hinsicht grenzüberwindende Faszination dieses Herrschaftsgebietes hat auch die polnische Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk zu ihrem opus magnum „Die Jakobsbücher“ inspiriert. 

Der belarussische Kulturraum war bis zu den Teilungen der polnisch-litauischen Adelsrepublik Teil dieses Staates. Belarussische Historiker bezeichneten die Zeit der Zugehörigkeit häufig als Goldenes Zeitalter, auch weil sie die Kanzleisprache des Großfürstentums, das Ruthenische, zu einer Art „Alt-Belarussisch“ vereinfachten. In jüngerer Zeit ist es vor allem Alexander Lukaschenko, der belarussische Machthaber, der immer wieder mit Äußerungen in Bezug auf die Rolle von Belarus im Großfürstentum auffällt. 2021 bezeichnete er die polnische Stadt Białystok und die litauische Hauptstadt Vilnius als „belarussische Städte“. 2022 sagte er: „Es ist wichtig, dass wir uns daran erinnern, dass auf der Grundlage des belarussischen Ethnos das Großfürstentum Litauen, ein für seine Zeit einzigartiger Staatenverband, geschaffen wurde.“ Das Großfürstentm machte er kurzum sogar zum ersten „belarussischen Staat”. 

Kann man so weit gehen, beim Großfürstentum Litauen von einem belarussischen Staat zu sprechen? Welchen Anteil hatten die Belarussen tatsächlich an diesem Staat? Und welche Rolle spielte das Belarussische als identitätsstiftender Faktor? Der Historiker Mathias Niendorf kennt sich mit diesen Fragen bestens aus. Er nimmt uns mit auf eine Reise in die Tiefen und Komplexitäten dieses historischen Raumes. 

Zudem beleuchten wir in diesem Special ein paar weitere Aspekte rund um das Großfürstentum und Belarus: Was war das Ruthenische  für eine Sprache? Wie prägend ist das Großfürstentum für Belarus als sozusagen kulturelles Aggregat ? Warum spielt die Schlacht bei Orscha  eine so große Rolle für die nationale Identität der Belarussen? Und wir blicken auf die Herausforderungen einer gemeinsamen Geschichte für die polnisch-belarussischen  und für die litauisch-belarussischen  Beziehungen. 

Und nun: Anschnallen, festhalten, ab geht die Zeitreise!

Das Großfürstentum – ein belarussischer Staat?

Mathias Niendorf
Text: Mathias Niendorf12.05.2023

Zunächst ein Blick auf die Landkarte: Groß war es wirklich, das Großfürstentum Litauen – so groß, dass die gesamte heutige Republik Belarus darin Platz findet, und dies gleich viermal. Der Löwenanteil des heutigen Litauen gehörte ebenfalls dazu, ebenso der Westen der Ukraine, aber auch Randgebiete der heutigen Russischen Föderation sowie Polens und der Republik Moldau. Um 1430 erstreckte sich dieses Großreich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer, vom späteren Ostpreußen bis vor die Tore Moskaus. Zusammengerechnet: eine Fläche von fast einer Million Quadratkilometer. 

Quellen: Witold Frączek/ArcGIS (1500), ThinkQuest (1650), Shadows Of Empires (1772)

Auf solch einer Karte droht das kleine Litauen in der Ecke links oben leicht aus dem Blickfeld zu geraten.1 Dabei trägt das Großfürstentum bis heute den Namen der Republik Litauen, und dies nicht einmal zu Unrecht. Das Zentrum, aus dem die Herrschaft des Großfürstentums entstand, lag um die Hauptstadt Wilna (Vilnius). Von dort aus wurden im Laufe des Mittelalters Richtung Osten und Süden ein Gebiet nach dem anderen in Besitz genommen – nicht nur erobert, sondern auch erworben, ererbt oder erheiratet.

Es handelte sich um Teile der Kiewer Rus, die spätestens seit dem Mongolensturm (1237–1240) in Auflösung begriffen war. Die Großfürsten jenes Staatsgebildes herrschten von Kiew (ukr. Kyjïw) aus über Territorien nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Weißrussland und Russland (einschließlich Moskaus). 988 hatte die Kiewer Rus die Taufe nach griechischem Ritus empfangen. Mit dem orthodoxen Christentum war zugleich das sogenannte Kirchenslawisch ins Land gelangt, das bald auch im weltlichen Bereich Verwendung fand. Parallelen zur Verwendung des Lateinischen in der Westkirche liegen auf der Hand.

Im litauischen Kernland dagegen war Versuchen einer Christianisierung, ob von Rom oder Byzanz aus, zunächst kein Erfolg beschieden. Die Herrscher Litauens kokettierten mit der Annahme der Taufe, spielten die Mächtigen ihrer Zeit gegeneinander aus, konnten es sich leisten, den Kaiser persönlich zu düpieren. Dabei war Vorsicht geboten: Denn Gefahr drohte vor allem vom Deutschen Orden, dessen Ritter sich wortwörtlich als Vorkämpfer des Christentums verstanden. Solange Litauens Herrscher als Heiden galten, konnten Einfälle in ihr Land als gottgefälliges Werk ausgegeben werden. Das Großfürstentum hielt allen Versuchen einer Bekehrung „mit Feuer und Schwert“ stand. Während es im Westen einen Verteidigungskrieg führte, blieb es im Osten auf Expansionskurs. 

Sich unter den Schutz Wilnas zu stellen, bedeutete für schwächere Nachbarn eine gesichtswahrende Lösung. Die andere Option wäre gewesen, sich den Mongolen oder deren Vasallen vom Großfürstentum Moskau zu ergeben. Litauens Großfürsten versicherten glaubhaft, am Althergebrachten nicht zu rütteln, keine Neuerungen einzuführen. Verlangt wurde ein Treueeid, kein Glaubensbekenntnis. Kultureller Austausch vollzog sich überwiegend in der Gegenrichtung: Vertraute des Großfürsten, die als Statthalter in die neu gewonnenen Gebiete entsandt wurden, nahmen Religion und Sprache ihrer Umgebung an. Ohnehin überwogen bald die Einflüsse aus dem Westen, als 1386 das litauische Herrscherhaus die Taufe nach römischem Ritus empfing.

Jogaila wurde 1386 als Władysław II. Jagiełło zum König von Polen gekrönt

Ein höherer Gewinn als die Krone Polens war dabei kaum vorstellbar. Erfolgreich hielt Litauens Großfürst um die Hand der Krakauer Königstochter an. Ein ehemaliger Heide namens Jogaila  wurde so zum Stammvater einer litauisch-polnischen Dynastie, den Jagiellonen. Dass zwei an sich eigenständige Gebiete in Personalunion von ein und demselben Herrscher regiert wurden, war im Mittelalter keine Seltenheit. Kam es darüber hinaus zur Schaffung gemeinsamer Einrichtungen, eines Parlaments etwa, spricht man von einer Realunion. Derartige Verfestigungen einer Staatenverbindung gehören geschichtlich eher zu den Ausnahmen. 

Zu eben diesen Entwicklungen führten im Falle Polen-Litauens besondere Umstände. Die Realunion von Lublin  wurde 1569 geschlossen, als sich ein Aussterben der Jagiellonen abzeichnete und Litauen unter Druck geriet – durch das aufstrebende Moskau unter Iwan IV., dem „Schrecklichen“. Das Großfürstentum Litauen war auf die Unterstützung Polens angewiesen. Diese musste teuer erkauft werden – nicht zuletzt mit der Abtretung aller ukrainischen Territorien an Warschau. Doch blieb das Großfürstentum in seinen derart reduzierten Grenzen ein eigenes Staatswesen, bis es 1772–1795 zusammen mit dem Königreich Polen von der Landkarte Europas getilgt wurde. 

Die Realunion von Lublin 1569 zwischen dem Großfürstentum Litauen und dem Königreich Polen / Karte © Halibutt/Wikimedia (CC SA 3.0)

Wie wir sehen, war das Großfürstentum ein komplexes politisches und multikulturelles Konstrukt. Dabei stellt sich die Frage, welche Sprache dominierte, wie die Menschen im Sinne eines Herrschaftsgebietes zusammengehalten wurden und wie übergreifende Identitäten geformt wurden, sich entwickelten: Ende des 18. Jahrhunderts war das Polnische schon längst zur Verwaltungssprache avanciert. Es trat an die Stelle des erwähnten Kirchenslawischen, jener altertümlichen, aus der Kiewer Rus übernommenen Kirchen- und Kanzleisprache. Im Laufe der Zeit hatte diese Eigenheiten ihrer ostslawischen Umgebung angenommen, so dass manche Forschende glauben, bereits von einem Altweißrussischen sprechen zu können. Eine andere Bezeichnung für diese Sprache lautet „Ruthenisch“ (ruski) . Gebraucht wurde sie aber nicht nur in den Grenzen des Großfürstentums von 1569 (dem heutigen Litauen und Weißrussland), sondern zunächst auch (bis es allmählich vom Polnischen verdrängt wurde) weiterhin für dessen ehemaligen Südteil, also den ukrainischen Territorien. Mit der Lubliner Union hatten sich ohnehin erst einmal nur die Binnengrenzen zwischen Polen und dem historischen Litauen verschoben. Insofern erklärt sich der Name Ruthenien  als übergreifende Bezeichnung für den gesamten Osten Polen-Litauens. Wann sich die slawischen Umgangssprachen dort schließlich soweit auseinanderentwickelten, dass man von „Ukrainisch“ bzw. „Weißrussisch“ sprechen kann, wird wohl strittig bleiben. 

Das dritte Litauisches Statut in ruthenischer Sprache von 1588

Verbindungen zwischen dem Nordosten und Südosten Polen-Litauens ungeachtet interner Grenzverschiebungen aufrecht zu erhalten, half ein gemeinsamer Glauben. Denn Ruthenien, das Gebiet der ehemaligen Kiewer Rus, blieb auch nach der Lubliner Union orthodox. Und daran sollte sich lange Zeit nichts ändern, auch nicht, als 1596 in Brest-Litowsk eine Unierte Kirche  gegründet wurde. An griechischem Ritus und Priesterehe hielt sie fest, erkannte lediglich den Papst in Rom als Kirchenoberhaupt an. Ein Konkurrenzkampf mit Gläubigen, die weiter dem Patriarchat von Konstantinopel (nicht zwingend dem von Moskau) anhingen, war die Folge. Es war vor allem die adelige Oberschicht Polen-Litauens, die sich zunehmend zum römischen Katholizismus bekannte. Und weder in religiöser noch in weltlicher Hinsicht besaßen die heute weißrussischen Territorien in diesem Prozess ein Alleinstellungsmerkmal. 

Ihre Eliten waren Teil eines umfassenden Integrationsprozesses: mit der Herausbildung einer regional, ethnisch wie konfessionell übergreifenden Führungsschicht. Die Sapieha  und Radziwiłł , um nur zwei der bekanntesten Familien zu nennen, erwarben Güter in allen Ecken des Großfürstentums, rangen um die Vorherrschaft, was Zweckbündnisse und das Heiraten untereinander nicht ausschloss; ihre Söhne besuchten gemeinsam Universitäten. All dies verband jene Aristokraten bald auch enger mit ihren Standesgenossen in Polen. Als Folge nahm seit Ende des 16. Jahrhunderts der Gebrauch des Polnischen zu, ohne dass damit eine Aufgabe früherer Identitäten einherging. Im Osten des Großfürstentums fühlten Adlige sich im politischen Sinne weiterhin als Litauer, in kultureller Hinsicht häufig noch Ruthenien, der „Rus“ verbunden, aber nicht einer Belarus. Ihr Stolz galt in erster Linie der eigenen Familiengeschichte, und dann ihren Privilegien. Hierzu gehörten Besitzrechte, ganz selbstverständlich auch solche über Menschen, den Leibeigenen. 

Und in welcher Sprache kommunizierte das einfache Volk, auf dem Land, in der Stadt? Wie sahen sich diese Menschen? Die Bauern machten die absolute Mehrheit der Bevölkerung aus, sprachen untereinander womöglich eine Frühform des Weißrussischen (so wie anderswo des Litauischen), mit dem „gnädigen Herrn“ vielleicht auch etwas Polnisch. Ihre Sorge galt Haus und Hof, nicht einem Staatswesen, von dessen örtlichen Vertretern sie zumeist wenig Gutes erfuhren. Bei diesen stieß nicht einmal ihr bäuerliches Idiom auf Interesse. Es galt schlicht als ein verdorbenes Polnisch – anders als in den angestammt litauischen Landesteilen, wo manche Adlige allein schon aus praktischen Gründen der (für Außenstehende unverständlichen) Sprache ihrer Untertanen größere Aufmerksamkeit widmeten. 

Weißrusslands Juden wiederum, jene traditionellen Vermittler zwischen Land und Stadt, die seit dem 19. Jahrhundert als „Litwaken“ firmierten, teilten eine Variante des Jiddischen mit Glaubensgenossen in Litauen. Ob in Minsk ansässig oder in Wilna, ob vor oder nach den Teilungen der polnisch-litauischen Adelsrepublik: Juden verorteten sich in „Lite“, einem gemeinsamen Kommunikationsraum – in den Grenzen des Großfürstentums von 1569. War das Christentum in eine Ost- und eine Westkirche gespalten, verliefen Binnengrenzen innerhalb des Judentums dagegen zwischen Nord und Süd. „Litwaken“ grenzten sich von den Juden im heutigen Polen und in der Ukraine ab. Ein ähnliches, historisch gewachsenes Zusammengehörigkeitsgefühl in Verbindung mit dem frühneuzeitlichen Großfürstentum pflegte noch eine andere Bevölkerungsgruppe: die sogenannten Lipka-Tataren .

Gab es überhaupt, wenigstens in Ansätzen, so etwas wie ein Verständnis von Belarus? Mit viel Aufwand ist versucht worden, entsprechenden Hinweisen nachzugehen. Tatsächlich handelt es sich um Einzelfälle, die immer im Kontext ihrer Zeit zu sehen sind. Wenn sich 1586 ein Student an der Universität Altdorf als Solomo Pantherus Leucorussus einschrieb, war damit ein Anspruch auf Gelehrsamkeit, nicht aber ein politisches Programm verbunden.2 Die mit Stolz präsentierten Kenntnisse des Altgriechischen eröffneten dem selbst ernannten Weißrussen Salomon Rysiński (um 1562–1625) eine Karriere als Hauslehrer, Hofdichter und Erzieher, die ihn nicht nur nach Deutschland und Polen, sondern auch in den Westen Litauens führte. Wenn er zwei Jahre nach der Immatrikulation seine Heimat entsprechend Leucorossia nannte, bleiben deren Umrisse allerdings unklar.

Für Adam Mickiewicz, dem aus dem heutigen Weißrussland stammenden, polnischsprachigen Dichter, war es ganz selbstverständlich, im Pariser Exil Litauen sein „Heimatland“ („Litwo, ojczyzno moja…”) zu nennen. Selbst Minsk galt im Polnischen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als „litauisch“ (Mińsk Litewski). Hier wirkten Traditionen aus der Zeit des Großfürstentums nach. Wer sich heute noch darauf beruft, könnte die Blickrichtung ebenso gut umkehren und den Anschluss wenn nicht Wilnas, so doch Kiews an Weißrussland propagieren – als Wiederherstellung eines zwar nicht moskowitischen, aber ostkirchlichen und ostslawischen Ruthenien

Ein schwacher Trost mag sein, dass Alexander Lukaschenko derzeit keine Gebietsansprüche geltend macht, sondern mit der Berufung auf das Großfürstentum wohl zunächst die historische Eigenständigkeit „seiner“ Republik Moskau gegenüber betonen will und sich davon zugleich größere Geschlossenheit im Innern erhofft. Nationalstolz statt Bürgerrechte.

Die Art, wie in Minsk Geschichtsbilder von oben verordnet, nach Bedarf gewechselt, abweichende Vorstellungen aber stets unterdrückt werden, erscheint bezeichnend. Sie verbindet Regime, für die Wissenschaft nicht der Erkenntnis, sondern der Herrschaftssicherung dienen soll. 

Was sich festhalten lässt: Ein derart in Europa vernetztes Staatsgebilde wie das Großfürstentum war ebenso wenig ein weißrussischer wie ein polnischer, ukrainischer oder litauischer Staat. Seine Vielfalt der Kulturen, auch wenn diese von Zeitgenossen nicht besungen wurde, lohnt, aufs Neue entdeckt zu werden.

Fußnoten

Niendorf, Mathias (2022): Geschichte Litauens 1009-2009. Regionen, Reiche, Republiken, Wiesbaden

Łatyszonek, Oleg (2006): Od Rusinów Białych do Białorusinów [Von den Weißruthenen zu den Weißrussen], Białystok, S. 120-128

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


Idee, Konzeption und Redaktion: Ingo Petz
Gestaltung und Karten: Daniel Marcus
Einführungstext: Mathias Niendorf
Weitere Autoren: Ihar Babkou, Kamil Kłysiński, Michael Moser, Andrzej Pukszto, Hienadź Sahanovič
Übersetzung: Anselm Bühling, Tina Wünschmann
Lektorat: Friederike Meltendorf