Die Schlacht bei Orscha und ihre Bedeutung für Belarus
Die Schlacht bei Orscha im Jahr 1514 ist eines der bedeutenden Ereignisse für das Großfürstentum Litauen. Ein Ereignis, das bis heute Fragen aufwirft und auch prägend für die nationale Identität der Belarussen ist. Hienadź Sahanovič, als Historiker einer der Experten für diese kriegerische Auseinandersetzung, erklärt die Hintergründe der Schlacht, ihre politischen Folgen und ihre Bedeutung für die Gegenwart.
Zur Schlacht von Orscha kam es während eines der vielen Kriege des Moskauer Staates gegen das Großfürstentum Litauen, die Ende des 15. Jahrhunderts begonnen hatten. Für Wilna war diese Schlacht besonders bedrohlich, da die Diplomatie des Moskauer Großfürsten Wassili III. zu einer Annäherung an das Heilige Römische Reich geführt hatte.
Kaiser Maximilian I. von Habsburg unterstützte den Deutschen Orden und hatte in der Konfrontation zwischen dem Orden und Polen, den eigentlichen Feind der Jagiellonen zum Verbündeten gewählt – und das war Moskau. Die Jagiellonen waren die Herrscherdynastie, die auf ihren Gründer Jogaila (poln. Jagiełło) zurückging. Der litauische Großfürst hatte 1386 durch seine Heirat der polnischen Königin Hedwig von Anjou den Grundstein für die Union mit dem polnischen Königreich gelegt. Damit wurde das Großfürstentum zu einem großen Herrschaftsbereich in Ostmitteleuropa und trat automatisch in Konkurrenz zu anderen Staaten.
Genau. Neben Moskau und Wien schlossen sich noch fünf weitere Staaten an. Maximilian I. wollte die Jagiellonen aus Ungarn vertreiben, den Thorner Friedensvertrag zwischen dem Deutschem Orden und dem Königreich Polen annullieren und einen Teil der polnischen Gebiete erobern.
Der Moskauer Herrscher Wassili III. wollte sich die Gebiete des Großfürstentums Litauen unterwerfen. Das war der Kampf um das sogenannte „Kiewer Erbe“ – um die Gebiete der ehemaligen Kiewer Rus, die sich mittlerweile weitgehend unter der Herrschaft der Jagiellonen-Dynastie befanden. Moskau wollte nicht nur Smolensk, sondern auch Polazk, Wizebsk, Kiew und andere Städte des Großfürstentums an sich binden. Schon im Sommer 1514 eroberte die Moskauer Armee während des dritten Feldzuges Smolensk, das eine enorme strategische, aber auch symbolische Bedeutung hatte. Wassilis Heerführer drangen dabei immer tiefer in belarussisches Territorium vor, das ebenfalls zum Großfürstentum gehörte, um weitere Gebiete zu erobern. Besonders vor dem Hintergrund der Verschlechterung der Situation in Ungarn, wo aufständische Bauern einen Krieg anzettelten, muss man sagen, dass das Reich der Jagiellonen im Jahre 1514 wirklich stark gefährdet war. Um die Situation zu korrigieren, mussten sie schnell und entschieden reagieren.
Die Armee des Moskauer Großfürsten Wassili III. wollte nach der Eroberung von Smolensk ihren Erfolg schnell fortsetzen. Sie traf bei Orscha auf die Truppen Sigismunds I., dem König von Polen und Großfürsten von Litauen, die angeführt wurden vom Großhetman Konstantin Iwanowitsch Ostroschski. Die Schlacht fand am Ufer des Dnepr und seines Nebenflusses Krapiuna, weit von Hauptstädten und wehrhaften Festungen, statt, am Geburtstag der Jungfrau Maria, dem 8. September.
Die genaue Anzahl von Kriegern, die in diesem Kampf aufeinandertrafen, wird wohl im Ungewissen bleiben. Früher nannten Historiker auf Grundlage alter Chroniken die Zahl von 80.000 auf russischer Seite und 30–35.000 in der Armee Sigismunds I.. Die setzte sich etwa zu gleichen Teilen aus dem Adelsheer des Großfürstentums und polnischen Soldaten zusammen. Heute halten Forscher diese Zahlen für stark überhöht, besonders für die russische Seite. Letztlich ist der Streit um das exakte Kräfteverhältnis aber Sache der Militärhistoriker. Für uns hat das Ergebnis der Konfrontation die größere Bedeutung: nämlich die völlige Zerschlagung und Flucht der Moskauer, sowie die Aufnahme des Sieges durch die Eliten des Großfürstentums, die die Schlacht im Nachgang umgehend als „groß“ bezeichneten. Im Umfeld der patriotisch gesinnten Mönche von Supraśl entstand „Die Preisung des Hetmans Fürst Ostroschskis“, eine Hymne auf den Sieger über Moskau. Sie pries den orthodoxen Hetman und erzählte, wie Ostroschski mit den „hervorragenden und tapferen litauischen und ruthenischen Kriegern“ bei Orscha „die große Macht aus Moskau schlug“.
Formal gelang es dem Hetman Ostroschski nicht, den Erfolg der Schlacht auszubauen, daher waren die Ergebnisse des Sieges aus rein militärischer Sicht gering. Der Hetman zauderte, und als er mit seinen Truppen Smolensk erreichte, konnte er die Festung nicht wieder einnehmen. Im Osten von Belarus konnten nur drei Städte zurückerobert werden, die zuvor von der Moskauer Armee eingenommen worden waren – Dubrouna, Krytschau und Mszislau. Im strategischen und territorialen Sinne änderte der Sieg also wenig. Es gab keinen Durchbruch, keine der Seite hatte genügend Soldaten für einen Angriff und der Krieg dauerte noch weitere acht Jahre.
Daher werden die Ergebnisse der Schlacht in der Geschichtsschreibung oft mit Skepsis betrachtet. Russische Historiker tendieren generell dazu, das Ereignis an sich und seine Bedeutung unter den Tisch zu kehren.
Wenn man aber den Krieg in einem größeren Zusammenhang betrachtet, dann ist die Sicht der russischen Kollegen nicht gerechtfertigt. Denn die Zerschlagung der russischen Armee bei Orscha veränderte die internationale Situation zum Besseren für das Großfürstentum Litauen. Die Diplomatie Sigismunds I. propagierte den Sieg in Europa; die Kunde davon beeinflusste die Haltung des Papstes und Maximilians I. Beeindruckt vom Sieg bei Orscha kündigte Maximilian I. das Bündnis mit Wassili III. auf und ging einen Kompromiss mit den Jagiellonen ein. 1515 fand in Wien ein Kongress dreier Monarchen statt – Maximilian, Sigismund und dessen Bruder Wladislaw (König von Böhmen und Ungarn), der zu einer Übereinkunft der Dynastien führte. Ohne den Sieg bei Orscha wäre die Bedrohung durch Pläne einer antijagiellonischen Koalition, die zur Verschiebung der Staatsgrenzen im östlichen Europa hätte führen können, durchaus realistisch gewesen. Der Sieg war also für das Großfürstentum Litauen ein Geschenk des Himmels, da er diese Pläne durchkreuzte.
In Belarus wird der Schlacht bei Orscha seit Anfang des 20. Jahrhunderts große Bedeutung beigemessen – zu dieser Zeit begann die nationale Geschichtsschreibung. Um die Ungleichheit von Belarussen und Großrussen herauszustellen, schrieben die Begründer der belarussischen Historiographie Wazlau Lastouski, Usewalad Ihnatouski und Mitrafan Dounar-Sapolski über die Kriege Moskaus gegen das Großfürstentum vom „belarussisch-litauischen“ Staat und bewerteten den Sieg von 1514 positiv. Dass die Schlacht auf belarussischem Territorium stattfand und der Verteidigung diente, und dass Hetman Ostroschski und die Hälfte seiner Armee orthodoxen Glaubens waren, ließ das Ereignis in die belarussische Geschichtsschreibung als siegreich eingehen. Doch bereits 1930, als die sowjetischen Machthaber begannen, jegliche patriotische Interpretation der belarussischen Vergangenheit als „bourgeoisen Nationalismus“ zu klassifizieren, wurde die Schlacht bei Orscha zum gefährlichen Sujet. Nach dem Zweiten Weltkrieg vertrat die staatliche Ideologie der BSSR die Idee von der ewigen Einheit von Belarus und Russland, weshalb die Schlacht von 1514 im offiziellen Diskurs verschwiegen wurde, wie auch die aggressiven Eroberungskriege des Moskauer Reiches gegen das Großfürstentum Litauen.
Erst Ende der 1980er Jahre, während der Perestroika, brachte die Nationalbewegung das vergessene Ereignis ins öffentliche Leben zurück. Von der Erklärung der Unabhängigkeit bis zur Errichtung des prorussischen Regimes unter Lukaschenko war die Schlacht eines der gefragtesten Themen der Geschichtsschreibung des unabhängigen Staates. Die Aktualität der Erinnerungsfeiern an den Sieg 1514 resultierte aus der russischen Bedrohung der belarussischen Unabhängigkeit. Es war kein Zufall, dass die patriotische Bevölkerung im Jahr 1992 das Datum des Sieges, den 8. September, zum „Tag des belarussischen militärischen Ruhms“ erklärte. Die Schlacht selbst wurde in Minsk bei Kundgebungen gegen die Integration mit Russland als Beispiel für die Verteidigung der belarussischen Souveränität benannt.
Die Schlacht bei Orscha ist seit den 1990er Jahren Teil des kollektiven Gedächtnisses der Belarussen und hat große symbolische Bedeutung erlangt. Sie ist eines der historischen Schlüsselereignisse für die Herausbildung der heutigen belarussischen Identität. Denn die Erinnerung daran zwang und zwingt dazu, sich in Bezug auf die Nation zu positionieren. Die Haltung zu dieser lang vergangenen Schlacht offenbarte die tiefe Spaltung in der Bevölkerung der postsowjetischen Republik: Für diejenigen, die sich als Bürger eines souveränen Belarus sahen, verkörperte sie ein Beispiel des „heiligen Kampfes für das Vaterland“, für jene, die weiterhin Moskau als ihre Hauptstadt ansahen, blieb sie eine „Episode innerrussischer Verwerfungen“. Die Gegenüberstellung der Bewertung ein und desselben Ereignisses bildet den Konflikt der kollektiven Identitäten ab: der belarussischen und der russländischen.
Lukaschenko bemühte sich seit seinem Amtsantritt, mit allen Mitteln darauf hinzuwirken, die Schlacht von Orscha aus dem kulturellen Gedächtnis der Belarussen zu streichen, erzielte dabei aber nur oberflächliche Erfolge. Ungeachtet der Verbote und Tabuisierungen blieb die Erinnerung in der belarussischen Gesellschaft lebendig. Die imperiale Politik Russlands, die Annexion der Krim und der groß angelegte Krieg gegen die Ukraine haben dem Sieg von Orscha noch einmal ein besonderes kulturelles Potential verliehen. Heute stellt sie für jene Belarussen, die dem Regime illoyal gegenüberstehen, nicht nur ein Beispiel für den Patriotismus der Vorfahren dar, ein Muster für die Verteidigung der Souveränität des eigenen Staates, sondern auch ein Beispiel für den gemeinsamen Widerstand gegen das aggressive Moskau. Und solange die Bedrohung besteht, dass Belarus von Russland einverleibt wird, wird die Schlacht bei Orscha als überaus wichtiger Pfeiler der belarussischen Identität im Sinne einer eigenständigen nationalen Gemeinschaft mit eigener Geschichte und Kultur dienen.