Polen und Belarus: eine Chance zur Verständigung?
Polen und Belarus teilen eine über Jahrhunderte verbundene Geschichte. Vor allem durch die gemeinsame Zugehörigkeit zum Großfürstentum Litauen und zur polnisch-litauischen Adelsrepublik. Es ist eine Geschichte, die nicht immer unproblematisch war und die sich seit 1991 mitunter auf die Beziehungen zwischen beiden Ländern auswirkt. Diese beleuchtet der polnische Politologe Kamil Kłysiński in seinem Beitrag.
Jeder Staat, egal welche Staatsform er hat und zu welchen Werten er sich bekennt, braucht einen Gründungsmythos, eine Erzählung über seine Ursprünge. Auch das autoritäre belarussische Regime ist hier keine Ausnahme. Das wird an seinen Versuchen deutlich, die belarussischen Staatstraditionen im Kontext der mittelalterlichen und nachfolgenden Geschichte zu definieren.
Alexander Lukaschenko hat – seiner eingefleischten sowjetischen Mentalität und der damit verbundenen weitreichenden Skepsis gegenüber nationalen Vorstellungen zum Trotz – in den letzten Jahren immer wieder auf den „belarussischen“ Charakter des Großfürstentums Litauen zwischen dem 13. und 18. Jahrhundert hingewiesen. Der Hinweis auf das Großfürstentum als historische Form belarussischer Staatlichkeit war der Versuch, ein eigenständiges historisches Narrativ zu skizzieren. Er richtete sich vor allem gegen die Axiome russischer und sowjetischer Historiker, wonach die (von ihnen seit dem 19. Jahrhundert als „Westrussen“ bezeichneten) Belarussen seit Jahrhunderten als Teil der ostslawischen Zivilisationsgemeinschaft der Führungsnation Großrussland unterstellt gewesen seien. Die russische Sicht auf die belarussischen Nachbarn stützt sich auf die Theorie der drei Bestandteile der russischen Lande, die bereits im 19. Jahrhundert von dem russischen Publizisten und Historiker Michail Kojalowitsch aufgestellt wurde und die zum theoretischen Fundament der imperialen Traditionen Russlands gehört. Nach Kojalowitsch kann Russland sein Potenzial und seine Identität erst dann in vollem Umfang realisieren, wenn Großrussland, Kleinrussland (Ukraine) und Westrussland (Belarus) vollständig vereint seien.
Solche Töne sind vor allem seit der Annexion der Krim durch Russland 2014 und der Ausrufung der beiden prorussischen Separatistenrepubliken im Donbass wieder verstärkt zu vernehmen. Die zunehmend aggressive Politik des Kreml im postsowjetischen Raum hat in Minsk große Besorgnis ausgelöst, zumal Russland dazu übergegangen ist, von Belarus die vollständige Umsetzung des bereits 1999 geschlossenen Vertrags über die Gründung eines Unionsstaates einzufordern. Der Verweis auf Elemente der belarussischen Geschichte, die nichts mit russischer Vorherrschaft zu tun haben, ist vor diesem Hintergrund eine Art Souveränitätsbekundung.
Zugleich verleiht der Hinweis auf die Rolle des Großfürstentums Litauen in der belarussischen Geschichte der westbezogenen Seite der belarussischen Erinnerungspolitik größeres Gewicht. Dies könnte potenziell einen wichtigen Impuls zur Annäherung des heutigen Belarus an seine unmittelbaren EU-Nachbarn geben. Zwar stießen die belarussischen Ansprüche auf das Erbe des Großfürstentums im heutigen Litauen, das sich selbst als dessen historischen Nachfolger sieht, auf heftigen Widerstand, doch in Polen war die Reaktion emotional weit weniger aufgeladen. Damit tat sich eine einmalige Gelegenheit auf, die Verständigung zwischen Minsk und Warschau zu fördern und vielleicht sogar Vertrauen zu bilden – mit Bezug auf die gemeinsame Wertebasis, die für die Völker der ehemaligen polnisch-litauischen Rzeczpospolita von fundamentaler Bedeutung ist. Der Respekt vor den Institutionen der Adelsdemokratie, die Guts- und Schlosskultur, die Verständigung zwischen der katholischen und der griechisch-orthodoxen Kirche und das auf dem Magdeburger Recht basierende System der Stadtordnung hätte eine solide Grundlage für den Dialog nicht nur zwischen Historikern, sondern auch zwischen einfachen Bürgern und Vertretern der Machtelite bilden können. Ein solcher Bestand an gemeinsamen Werten könnte helfen, die Mauer des Misstrauens, die insbesondere seit Mitte der 1990er Jahre zwischen den Regierungen beider Länder errichtet wurde, zumindest teilweise abzubauen.
Polen begann zu dieser Zeit, sich in Richtung NATO- und EU-Mitgliedschaft zu bewegen, während Belarus – schon damals unter Lukaschenko – sich auf den Weg der Integration mit Russland unter dem Dach des Unionsstaates begab. Warschau sah seinen östlichen Nachbarn vor allem als Vasallen Moskaus, während Minsk die meisten Aktionen der polnischen Seite als Element einer kulturfremden „westlichen“ Expansion interpretierte. Entsprechend leicht kam es zu Krisen in den bilateralen Beziehungen, etwa dem Konflikt um die Rechte der polnischen Minderheit in Belarus, der schließlich dazu führte, dass sich die Aktivisten der polnischen Minderheit sich in ein Lukaschenkotreues und ein nach Warschau orientiertes Lager spalteten.
Das belarussische Regime entschied sich jedoch dafür, die Zeit des Großfürstentums Litauen auf eine andere, gegenüber Polen weniger freundliche Weise in seine Geschichtspolitik einzubauen. Es stellte lieber die alten Thesen aus der Sowjetzeit in den Vordergrund, wonach die überheblichen „polnischen Herren“ die protobelarussischen Adeligen und Bürger, die nach Auffassung belarussischer Historiker die tragende Schicht des Großfürstenums waren, nach und nach polonisiert und katholisiert hätten.
Statt nach verbindenden Elementen zu suchen, griff die belarussische Seite lieber zu historischen Klischees, die den objektiven Blick auf die komplexe Geschichte der polnisch-belarussischen Beziehungen verzerren. So wurde die positiv aufgeladene historische Periode zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert in die immer wiederkehrende belarussische Aufzählung polnischer Verfehlungen eingereiht, die in Bezug auf die Zweite Polnische Republik (1918–1939) – oder, in der Terminologie des belarussischen Regimes, die „Zeit der polnischen Kolonisierung der östlichen Grenzlande“ – massiv bemüht worden ist. Die radikalste Wendung gegen Polen nahm die belarussische Geschichtspolitik jedoch nach 2020, als nach den manipulierten Präsidentschaftswahlen in Belarus der Dialog mit dem Westen völlig zusammenbrach und Polen faktisch zum Hauptfeind des Regimes wurde. Minsk bezichtigte Warschau nicht nur eines Umsturzversuchs gegen die „gesetzmäßige“ Regierung, sondern warf ihm auch angebliche „Verbrechen“ an der belarussischen Bevölkerung während des Zweiten Weltkriegs und in den ersten Nachkriegsjahren vor. Nach Beginn der russischen Aggression gegen die Ukraine im Februar 2022, bei der das belarussische Regime eine unterstützende Rolle spielte und die Argumente der Kreml-Propaganda fast vollständig übernahm, ist das gegen Polen gerichtete historische Narrativ noch weiter verstärkt worden. Vor dem Hintergrund der Minsker Erinnerungspolitik, die loyal an den Interessen Moskaus ausgerichtet und zugleich antipolnisch und in weiterem Sinne antiwestlich ist, sind Lukaschenkos Thesen über den „belarussischen Charakter“ des Großfürstentums nicht mehr als inhaltsleere, bei Nationalfeiertagen rituell vorgetragene Formeln.