FAQ #9: Propaganda in Russland – wie und warum funktioniert sie?
„Es ist alles nicht so eindeutig“ – das ist eine der häufigsten Phrasen in Russland, wenn es um den russischen Angriffskrieg in der Ukraine geht. In dieser neunten Folge des dekoder-FAQ zum Krieg haben wir vier Wissenschaftlerinnen gefragt, wie Propaganda in russischen Medien funktioniert – und warum ihr so viele Menschen Glauben schenken. Was kann man ihr entgegensetzen? Warum informieren sich nicht mehr Menschen im Internet? Und kann man soziale Medien als Hort unabhängiger Information verstehen?
In unserem FAQ, das Stück für Stück weiter wächst, sammeln wir zentrale Fragen zum Krieg und lassen sie von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern beantworten.
Das FAQ #9: Propaganda in Russland – wie und warum funktioniert sie?
Die meisten Russinnen und Russen informieren sich über die staatlich kontrollierten Fernsehkanäle . Der Anteil derjenigen, die Nachrichten per TV konsumieren, war schon vor dem Krieg hoch und hat sich im Lauf des Jahres 2022 nicht entscheidend verändert: Er liegt bei 64 Prozent (Stand: Oktober 2022).
Unabhängige Berichterstattung über den Krieg in Russland wurde mit dem Gesetz vom 4. März 2022 de facto kriminalisiert: Es dürfen nur Informationen verbreitet werden, die der offiziellen Richtlinie entsprechen. Selbst für die Verwendung des Wortes „Krieg“, an Stelle von „Spezialoperation“, werden Leute verfolgt und inhaftiert. Alternative Informationsquellen, die jetzt vor allem im Exil existieren, sind immer schwerer zugänglich.
Auffallend ist jedoch, dass die staatlichen TV-Sender bei den über 24-Jährigen nicht nur die meistkonsumierte Nachrichtenquelle sind, sondern auch diejenige, der sie am meisten vertrauen. Auch Werte, die alle möglichen verschiedenen Altersgruppen der erwachsenen Bevölkerung zusammenfassen, zeigen mit 42 Prozent ein hohes Vertrauen in das Staatsfernsehen an.
Wie eine frühere Studie zeigt, werden die Narrative des russischen Staatsfernsehens zudem von vielen, überwiegend jungen Leuten weiterverbreitet, die diese Sender selbst gar nicht regelmäßig schauen. Dies lässt sich damit erklären, dass auch soziale Medien und der öffentliche Diskurs in Russland von diesen Narrativen durchdrungen ↓ sind.
Kindern und Jugendlichen wird die angepasste offizielle Version des Geschehens darüber hinaus direkt in der Schule vermittelt. In speziellen Unterrichtseinheiten wird der Angriffskrieg gerechtfertigt und als heroischer Einsatz für das Vaterland verherrlicht.
Alona Shestopalova
Universität Hamburg
In den russischen staatlich kontrollierten Medien finden sich mehrere Narrative, über die versucht wird, die Aggression gegen die Ukraine zu rechtfertigen:
Erstens das Narrativ, dass Russland die in den Regionen Donezk und Luhansk lebenden Menschen schützen müsse – was durch Verweise auf die sogenannte „Nazi-Regierung in Kyjiw“, von der die Ukrainer angeblich „befreit“ werden müssten, ergänzt wird. Dieses Narrativ bedient imperiale Großmachtansprüche und stützt sich auch auf Mythen aus der Zeit des Großen Vaterländischen Kriegs.
Zweitens wird die russische Invasion in der Ukraine als ein Kampf nicht (nur) gegen die Ukraine dargestellt, sondern vielmehr gegen den Westen und die NATO, die Russland bedrohen würden. Die Ukraine wird dabei als „Vasall“ oder „Söldner des Westens“ diffamiert.
Solche Narrative kennen die russischen TV-Zuschauer schon seit 2014 aus der Berichterstattung über die russische Annexion der Krim und den faktischen Krieg im Osten der Ukraine. Länder und Nationen, die den Interessen des russischen Regimes entgegentreten, werden in der staatlich kontrollierten Kriegsberichterstattung generell dämonisiert und als entmenschlichte Feinde des russischen Volkes dargestellt. So wird der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky beispielsweise als „satanisch“ bezeichnet.
Es kommen auch noch weitere Faktoren hinzu: das Schweigen über zivile Opfer, Gräueltaten russischer Soldaten und andere für das Regime nachteilige Themen; Fake-News (etwa manipulierte Bildmaterialien und Kommentare oder inszenierte Reportagen ↓) sowie das ständige Spiel mit Ängsten und Wünschen der russischen Öffentlichkeit. Auch imperiale Stimmungen werden bedient und die Überzeugung genährt, die russische Nation sei einzigartig und anderen überlegen.
Die Kriegsrhetorik in den russischen Medien fällt vor allem durch offene Aufrufe zu genozidalen Handlungen gegen die ukrainische Bevölkerung und Lob für ein entsprechendes Vorgehen der russischen Soldaten auf.1
Ein drastisches Beispiel dafür ist ein Artikel der staatlichen Nachrichtenplattform Ria Nowosti. Er wurde im April 2022 veröffentlicht, kurz nachdem sich die russische Armee aus der nördlichen Ukraine zurückgezogen hatte und Bilder verwüsteter ukrainischer Ortschaften um die Welt gingen. Der Autor Timofei Sergeizew fordert in dem Text unverblümt, die Ukraine als Staat zu zerstören, stattdessen die russische Oberherrschaft einzusetzen und die Zivilbevölkerung einer „Entukrainisierung“ zu unterziehen.
In politischen Talkshows und Nachrichtensendungen im Staatsfernsehen wurde zum Beispiel dazu aufgerufen, ukrainische Kinder zu ertränken, in derselben Folge dienen die Vergewaltigungen ukrainischer Frauen durch russische Soldaten als Anlass zu Scherzen vor TV-Publikum. Gespottet wurde auch über die mangelnde Stromversorgung der ukrainischen Zivilbevölkerung nach den russischen Raketenangriffen und gefordert, die kritische Infrastruktur noch massiver anzugreifen.2 Die Liste ließe sich lang fortsetzen.
Dieser Rhetorik wird auf allen Ebenen neue Nahrung gegeben: durch Minister, Regierungsbeamte, Politiker, Blogger, Talkshow-Moderatoren, Journalisten sowie deren Sender-Chefs – am bekanntesten sind hier Margarita Simonjan, Wladimir Solowjow, Dimitri Kisseljow, Olga Skabejewa und Jewgeni Popow.
Alona Shestopalova
Universität Hamburg
Das ist extrem schwer. Zunächst muss ein nennenswerter Teil der russischen Bevölkerung überhaupt erst systematisch nach nicht staatlich kontrollierten Informationen suchen (wollen).
Seit Februar 2022 ist der Zugang dazu deutlich erschwert worden: Einige unabhängige und kritische Medien in Russland wurden geschlossen, andere gesperrt. Der Zugriff auf regimekritische Informationen ist oft nur über ein virtuelles Netzwerk (VPN) möglich. Die Staatsführung diskreditiert außerdem zahlreiche Medien und Journalisten als „Verräter“ und „ausländische Agenten“.
Es gibt keine aktuellen Zahlen dazu, wie viele Russinnen und Russen in den Jahren 2022-2023 Informationen von unabhängigen, nicht staatlich kontrollierten Kanälen bezogen haben. Doch selbst noch vor Beginn des großangelegten Kriegs und der faktischen Einführung der Kriegszensur in Russland war es nur knapp ein Prozent der Menschen, die den unabhängigen TV-Sender Doshd oder den regimekritischen Radiosender Echo Moskwy fast täglich einschalteten, um sich zu informieren. Demgegenüber nutzten 50 Prozent fast täglich die staatlich kontrollierten TV-Sender.
Regimekritische Medien in russischer Sprache sind wohl auch jetzt nur für eine kleine Minderheit wichtig. Exil-Medien bedienen also vor allem ihr treues Publikum, das (mittlerweile) in großen Teilen ebenfalls im Exil ist. In Russland selbst vertrauen diesen Medien einer Lewada-Umfrage zufolge nur vier Prozent der Bevölkerung. Noch weniger, gerade mal zwei Prozent, vertrauen russischsprachigen Auslandssendern wie Deutsche Welle, BBC oder Radio Liberty.
Gerade im Exil zeigt sich zudem ein ethisches Problem, mit dem regimekritische russische Medien und Politiker konfrontiert sind: Wo fängt die Übernahme imperialistischer Rhetorik an? Wie bewusst wird darüber reflektiert?
Das Dilemma zeigt sich besonders am Skandal um den russischen kremlkritischen Exilsender Doshd: Doshd war in Lettland zunächst Exil gewährt worden. Der Moderator Alexej Korosteljow sagte schließlich in einer Live-Sendung Anfang Dezember 2022, er hoffe, der Sender könne russischen Soldaten, die gegen die Ukraine kämpfen, mit Ausrüstung oder Bedarfsgütern helfen. Obwohl sowohl der Moderator als auch die Leitung des Senders in ihren Entschuldigungen ihre Antikriegshaltung nochmals betonten, verstärkten sich Zweifel an der Ausrichtung des Senders. Als Korosteljow fristlos entlassen wurde, führte dies zu heftigen Debatten unter Exiljournalisten. Doshd verlor schließlich die Sendelizenz in Lettland. Während sich etwa Litauen und Estland der lettischen Entscheidung anschlossen, wurde sie mitunter als unverhältnismäßig kritisiert, etwa durch die Menschenrechtsorganisation Reporter ohne Grenzen. Der Sender erhielt schließlich eine Lizenz in den Niederlanden.
Um solchen potenziellen Konflikten im Exilland vorzubeugen, könnten unabhängige russische Medien als gesellschaftliche Mediatoren fungieren, die ihrem (Exil-)Publikum nicht nur unabhängige Berichterstattung über Russlands Krieg gegen die Ukraine bieten, sondern russische Bürgerinnen und Bürger im Ausland auch über die nationalen Hintergründe der Gastländer aufklären, sie zum Erlernen der jeweiligen Landessprache motivieren und so weiter. Auf diesem Weg wird es auch möglich sein, der russischen Propaganda und imperialistischen Rhetorik entgegenzutreten.
Alona Shestopalova
Universität Hamburg
Es gibt sie noch. Doch eine sehr große Zahl der unabhängigen russischsprachigen Medien und Journalisten haben das Land verlassen – teilweise auch schon vor Beginn des großflächigen Angriffskriegs am 24. Februar 2022. Das betrifft etablierte Medien wie Novaya Gazeta, Echo Moskwy, Doshd genauso wie relativ junge, populäre Online-Medien wie The Insider, Mediazona oder Holod. Mehrere Medien-Startups wie HelpDesk, Verstka oder The New Tab wurden 2022 im Exil gegründet. Im Land werden sie diskreditiert und ihre Seiten gesperrt ↑. Die Geschäftsmodelle der Exil-Medien sind zusammengebrochen – russische Werbepartner beispielsweise fallen weg, aufgrund der Sanktionen kommen sie auch nicht mehr an Leserspenden aus Russland –, und sie sind auf Unterstützung angewiesen, etwa durch westliche Stiftungen. Trotz allem gelingt es ihnen, Wege zu ihrem Publikum zu finden, vor allem über Telegram, YouTube, Apps und Mailinglisten. Das bedeutet aber auch: Um an diese Informationen zu gelangen, müssen die Leute in Russland extra danach suchen.
Wie erreicht man nun Menschen innerhalb Russlands? Wie holt man diejenigen ab, die unentschlossen sind? Wie kann man über das Leben in Russland berichten und vertrauenswürdig bleiben, wenn man im Ausland ist? Diese Fragen beschäftigen Exil-Medien sehr, wobei die Kluft der Missverständnisse zwischen den Gebliebenen und den Ausgereisten immer größer wird: Manche im Exil lebende Intellektuelle werfen den Gebliebenen vor, moralische Kompromisse mit dem Regime einzugehen, wobei die Gebliebenen sich über die vermeintliche Arroganz der moralisierenden Exilanten aufregen und darauf hinweisen, dass es viel schwieriger sei, in einer Diktatur zu versuchen, etwas für die Freiheit zu tun, als im Exil frei zu reden.3
Es sind kritische lokale Online-Medien, wie Bumaga aus Sankt Petersburg, Ljudi Baikala aus der Oblast Irkutsk oder Pskowskaja Gubernija aus Pskow, die bis heute ein besonderes Potenzial haben, die Leute vor Ort zu erreichen. Denn ihre Leser-Communities sind ziemlich stark, und sie haben in der Regel immer noch Journalisten im Land, die (oft anonym) aus ihren Regionen berichten.
Anonymous
Diese anscheinend einfache Lösung setzt in der Tat einiges voraus: Menschen müssen Interesse an alternativen, objektiven Informationen haben und diese müssen außerdem leicht zu finden sein.
Doch selbst wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, heißt das noch nicht, dass die Menschen ihre Meinungen und Überzeugungen den neuen Informationen anpassen würden; vielmehr werden Informationen durch die „Brille“ vorhandener Überzeugungen ausgesucht und interpretiert. Ihre kritische Selektion und Wahrnehmung sind letztlich, um in der Metapher zu bleiben, bessere Sehhilfen, die jedoch eine gewisse Vorarbeit erfordern. Dieser entscheidende Umstand ist allgemeingültig, doch im heutigen Russland kommen einige besondere Einschränkungen dazu.
Lange Zeit boten das Internet und insbesondere soziale Medien in Russland Freiräume, in denen kritische Berichterstattung, alternative Meinungen und offene Diskussionen möglich waren. Schließlich setzte sich aber auch im digitalen Bereich zunehmend Kontrolle, Zensur, Überwachung und Repression durch (dazu gehört zum Beispiel, dass Aktivisten auch für Posts verurteilt wurden, in denen sie Informationen zu illegalisierten Versammlungen teilten). Neben der Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor bekamen weitere Behörden Zensurbefugnisse. Außergerichtliche Blockaden von Websites oppositioneller Politiker (wie Alexej Nawalnys „Smart Voting“-Projekt) und anderer vermeintlicher „Gefährder“ wurden zum wichtigen Werkzeug politischer Unterdrückung.
Nach dem Beginn des Angriffskrieges erreichte die Zensur in Russland qualitativ und quantitativ völlig neue Dimensionen. Medienprojekte und andere Seiten wurden massenweise blockiert. Massive Zugangssperren betreffen auch die in Russland als extremistisch eingestuften Plattformen Instagram und Facebook. Die Nutzung von VPN-Services, die erlauben, auf die blockierten Inhalte zuzugreifen, hat in Russland im März 2022 schlagartig zugenommen – wobei viele dieser Anbieter bald ebenfalls gesperrt wurden. So muss erst einmal bewusst ein VPN-Anbieter ausgewählt werden, und die Bezahlung ausländischer VPN-Dienste ist mit russischen Karten meist nicht möglich. Die staatstreue Berichterstattung begegnet Menschen dagegen praktisch überall, auch online.
Mit den neuen Zensurgesetzen ↑, die teilweise schon im März 2022 in Kraft traten, ist die Verbreitung von Informationen über den Krieg nicht nur für Journalisten, sondern für alle Social-Media-User risikoreich: In den ersten neun Monaten der Invasion wurden nach Daten von OWD-Info 147 Personen wegen „Fakes über die Armee“ und/oder ihrer „Diskreditierung“ strafrechtlich verfolgt, und bei den Gerichten sind nach Angaben von Mediazona über 5500 Verwaltungsklagen wegen des „Diskreditierens der Armee“ eingegangen. Zudem wurden laut OWD-Info in dieser Zeit circa 1500 administrative Verfahren wegen Antikriegsposts eröffnet. Einige oppositionelle Politiker, Journalisten und Aktivisten erhielten mehrjährige Haftstrafen wegen des Verbreitens von „Fakes“. All dies wirkt einschüchternd und verhindert eine öffentliche Peer-to-Peer-Informationsverbreitung und Diskussion; hunderte Journalistinnen und Journalisten und viele Medienprojekte sind ins Exil gegangen, um sich dem möglichen Zugriff zu entziehen.
Das schon länger propagierte „souveräne Internet“ unter staatlicher Kontrolle nimmt hiermit Gestalt an. Digitales Denunziantentum trägt dazu bei: Im ersten Halbjahr 2022 erhielt Roskomnadsor circa 64.000 Bürgerbeschwerden wegen „rechtswidriger Informationen“ (doppelt so viele wie im selben Zeitraum des Vorjahres) – unter anderem wegen „Fakes über die militärische Spezialoperation“, wie der Krieg in der offiziellen Rhetorik des Landes genannt wird. Trotz der verstärkten Zensur vertreten staatliche Strukturen auch nach dem 24. Februar 2022 eine durchaus komplexe Politik gegenüber dem Internet, das sie auch für Propaganda und Verbreitung eigener Inhalte nutzen. Dennoch können Menschen in Russland objektive Informationen zum brutalen Krieg gegen die Ukraine am ehesten im Internet beziehungsweise in sozialen Medien finden. Einige blockierte kremlkritische Medien bieten mobile Apps, über die sie weiterhin zu lesen sind. Dass viele tatsächlich nach unabhängigen Informationen suchen, zeigt außerdem ein starker Zuwachs von Abonnentenzahlen bei Kanälen unabhängiger Medienprojekte, Journalisten und auch Aktivisten auf Telegram.
Tatiana Golova
Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS), Berlin
Beides. Die Vorstellung des Gegensatzes zwischen der „Pro-Kriegspartei-Fernsehen“ und der „Anti-Kriegspartei-Internet“ geht an der komplexen Realität der sozialen Medien in Russland vorbei. Dazu zwei zentrale Punkte:
1) Auf der einen Seite umgehen Millionen User in Russland (laut The Times, ca. 24 Millionen) die Online-Sperren mit Hilfe von VPN-Services. Das bedeutet jedoch nicht, dass all diese Menschen nach „unerwünschten“ Informationen suchen: Sogar gänzlich unpolitisches Instagram-Scrolling erfordert nun Zusatzvorkehrungen, auch wenn die aktive Nutzung der Plattform nicht per se als „extremistisch“ eingestuft und verboten ist. Darüber hinaus nutzen Antikriegsinitiativen soziale Medien, unter anderem Messengerdienste wie Telegram, um sich Gehör zu verschaffen, Menschen zu erreichen und sich zu vernetzen, zum Beispiel für die Unterstützung und Evakuierung ukrainischer Geflüchteter und Verschleppter.
2) Auf der anderen Seite bieten soziale Medien auch Raum für Kriegspropaganda und die Verbreitung von Fake News. Schauen wir uns den Messengerdienst Telegram genauer an, der nach der Verschärfung der Zensur zu Beginn des Krieges einen besonders starken Zulauf erfahren hat: Die Anzahl der Abonnenten liberaler Medienprojekte nahm Anfang März 2022 sprunghaft zu; mit einem weiteren Anstieg Ende September 2022 reagierte das Publikum auf die ausgerufene Mobilmachung. Gleichzeitig haben jedoch auch Pro-Krieg-Kanäle auf Telegram besonders viele Abonnenten, zum Teil im Millionenbereich. Dass viele Schlüsselfiguren der (semi)staatlichen Medien hier aktiv sind, veranschaulicht den hybriden Charakter der Propaganda. Ganze Ökosysteme von Kanälen veröffentlichen offizielle oder eigene Inhalte zum Angriffskrieg, die der jeweils aktuellen Regierungslinie entsprechen. Viele gehen auch noch weiter und verbreiten Posts, die besonders brutal und entmenschlichend sind. So wurde etwa ein Video von der Hinrichtung eines ehemaligen Mitglieds der Söldnerguppe Wagner veröffentlicht, um potentielle Deserteure abzuschrecken. Interessanterweise geht es nicht alleine darum, Positionen des Kreml zu verstärken, sondern die russische Kriegsführung wird in sozialen Medien auch von rechts, das heißt von radikalen Kriegsbefürwortern, kritisiert.
Auch wenn der russische Staat verstärkt auf Zensur im digitalen Bereich setzt, so bedeutet dies keineswegs, dass er auf die aktive Nutzung sozialer Medien zu eigenen Zwecken verzichtet.
Tatiana Golova
Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS), Berlin
Da kommen mehrere Faktoren zusammen. Der Reihe nach: Studien zeigen, dass die Leute in der Regel das glauben, was mit ihren Einstellungen übereinstimmt.4 Der langfristige Effekt von Propaganda besteht darin, dass sie das Weltbild von Menschen beeinflusst. Man kann dies mit einem Filter vergleichen, durch den sie die Welt wahrnehmen. Dadurch wird alles durch die Narrative von Propaganda interpretiert. Das heißt: Wenn einzelne User auf objektive Informationen im Internet stoßen, tendieren sie dazu, diese als Falschinformation abzustempeln. In der digitalen Welt ist es ziemlich einfach, sich von unerwünschten Informationsquellen abzuschotten, die man als Bedrohung für sein Weltbild empfindet.5
Dabei hat die russische Propaganda keine kohärente Ideologie, ihre Narrative sind inkonsistent und eklektisch. Zum Beispiel werden die Ziele der sogenannten Spezialoperation immer wieder geändert. Gerade diese inkonsistente Herangehensweise hilft der Propaganda, unterschiedliche soziale Milieus zu adressieren. Es kursieren im Netz oft widersprüchliche Narrative, die Leute können sich daraus selbst eines auswählen, entsprechend ihrer Einstellungen und Wertesysteme. Die dadurch entstehenden Weltbilder müssen nicht übereinstimmen (im Gegensatz dazu, wie es noch unter der kommunistischen Ideologie war), Hauptsache, das Regime selbst wird nicht hinterfragt.
Eine der zentralen Botschaften der Propaganda ist, dass man die Wahrheit sowieso nie erfahren wird und alles zu komplex sei, um es zu verstehen. Die Phrase „Es ist alles nicht so eindeutig“ (ne wsjo tak odnosnatschno) ist zu einem Meme geworden, mit dem man diese pro-staatliche Rhetorik im Krieg beschreibt. Dies korreliert mit dem Post-Truth-Paradigma, das seit einigen Jahren weltweit populär ist und voraussetzt, dass Wahrheit subjektiv ist und jeder seine eigene Wahrheit haben kann.
Die Propaganda im Land hat auch deswegen leichtes Spiel, weil sie auf fruchtbaren Boden fällt. Nach dem Scheitern des demokratischen Transits glauben viele Menschen in Russland, dass sie keinen Einfluss auf die Politik hätten. Entpolitisierung und Demobilisierung waren seit Jahren Ziele der russischen Eliten, insbesondere unter Putin. Es galt eine Art Deal zwischen dem Staat und der Bevölkerung: Der Staat garantiert Stabilität und Sicherheit, im Gegenzug mischt sich die Bevölkerung nicht in die Politik ein.
Dies war auch einfach zu erreichen: Nach der Erfahrung der 1990er, als Medien massiv für politische Ziele instrumentalisiert wurden, glaubten viele Leute, dass „Politik eine schmutzige Sache“ sei und man sich lieber damit nicht befassen sollte. Spätestens nach der Mobilmachung im September 2022 wurde dieser Deal gebrochen, denn jetzt erwartet der Staat, dass Leute sich für seine Ziele mobilisieren. Teile der Bevölkerung begannen, den Staat kritisch zu hinterfragen. Allerdings sind die persönlichen Risiken bei Protest in Russland sehr hoch und die Chancen, dass dieser Protest etwas ändern würde, sehr gering. Deswegen entscheiden sich viele Leute bewusst oder unbewusst dazu, Informationen zu ignorieren, die ihr Weltbild erschüttern und sie möglicherweise zu gefährdeten Dissidenten machen würden.
Anonymous
Drohungen mit Atomwaffen sind im russischen Staatsfernsehen nichts Neues – und ein Motiv, das sich zur Prime Time durch zahlreiche prominente Sendungen zieht. Gerade Polit-Talkshows und Nachrichtensendungen, die zusammen allein auf dem Perwy Kanal knapp 12 Stunden Sendezeit pro Tag beanspruchen, bedienen dieses Thema gerne.
Dazu konkrete Beispiele, die zeigen, wie lange schon die Karte der atomaren Apokalypse gezückt wird:
Bereits im März 2014 hatte einer der bekanntesten Propagandisten und Generaldirektor von RIA Nowosti, Dimitri Kisseljow, in der reichweitenstarken Nachrichtensendung Westi nedeli (dt. Nachrichten der Woche) mit der Aussage aufhorchen lassen, dass Russland die USA jederzeit in „radioaktive Asche verwandeln“ könne.
Im aktuellen Krieg in der Ukraine ist die Drohung mit und Prophezeiung von einem Atomkrieg ebenfalls ein beliebtes Narrativ der russischen Propaganda. Immer wieder wird in den russischen Staatsmedien offen mit der zerstörerischen Kraft von Russlands Atomwaffen gedroht. So zeigte Kisseljow Anfang Mai 2022 wiederum in Westi nedeli, wie schnell russische Atomraketen Städte in Europa erreichen könnten. Eine einzige Rakete vom Typ PS-28 Sarmat könne Großbritannien „für immer versenken“, so der Moderator.
Auch der Radio- und Fernsehmoderator Wladimir Solowjow spricht regelmäßig Drohungen mit Russlands Atomwaffen aus. So hetzt er in seinen Sendungen nicht nur gegen all jene, die gegen den Krieg in der Ukraine sind, sondern erinnert auch gerne an die „6000 nuklearen Sprengköpfe“, über die Russland verfüge.
Auch von Personen im Regierungsumfeld wird das Narrativ des Atomkriegs beziehungsweise von Atomschlägen immer wieder verbreitet. So verkündete beispielsweise der stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, Dimitri Medwedew, auf seinem Telegram-Kanal Ende September 2022, dass Russland das Recht habe, bei Bedarf Atomwaffen einzusetzen.
Bemerkenswert ist, dass das Atomwaffen-Narrativ auch umgekehrt wird, indem der Westen beschuldigt wird, mit einer Eskalation durch den Einsatz von Atomwaffen zu provozieren. Wladimir Putin beschuldigte den Westen, er wolle Russland dadurch in ein schlechtes Licht rücken.
Eines der Hauptthemen in den russischen Staatsmedien war im letzten Jahresviertel 2022 die sogenannte „schmutzige Bombe“ (russ. grjasnaja bomba), welche eine Mischung aus radioaktiven Substanzen und konventionellem Sprengstoff enthalten soll. Die Ukraine wolle diese „schmutzige Bombe“ zünden, so die Behauptung russischer Regierungsvertreter, allen voran des Verteidigungsministers Sergej Schoigu sowie von Putin selbst. Aber auch in den Staatsmedien wurde dieses Narrativ aufgegriffen und verbreitet.
Wie Kirill Martynow, der Chefredakteur der Novaya Gazeta Europe, Anfang Februar 2023 in einem Interview im unabhängigen TV-Senders Doshd sagte, würden aus Russland in Zukunft wohl noch öfter Drohungen mit dem Einsatz von Atomwaffen zu hören sein. Die Atombombe sei der letzte Ausweg, der Wladimir Putin noch geblieben sei, da alle anderen Narrative nicht funktioniert hätten. Ein klassisches Beispiel dafür sei das häufig wiederholte Zitat „Aber wir kommen ins Paradies und sie [der Westen und die Ukraine – dek] werden einfach verrecken“.
Magdalena Kaltseis
Universität Innsbruck
So einfach ist es nicht. Propaganda bedeutet Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch bestimmte Strategien der Manipulation. So gibt es zum Beispiel die Strategie des sogenannten Flooding beziehungsweise der Reizüberflutung, bei der das Publikum mit vielen widersprüchlichen Annahmen und Interpretationen überschüttet wird, wodurch Überforderung und Verunsicherung hervorgerufen werden. Oft geht es dabei um die Interpretationen und das emotionale Framing derselben Videos, die auch im Westen bekannt sind. Natürlich wird dabei auch mit Falschinformationen gearbeitet, wie im Fall des Massakers von Butscha, als behauptet wurde, dass sich die Leichen auf den Videos bewegten, oder auch, dass die Massaker eine Inszenierung seien.
Ein weiteres Mittel der Manipulation ist die fragmentarische Präsentation bestimmter Fakten, was zu einem verzerrten Bild der Wirklichkeit führt. Dies wird oft genutzt, wenn von Problemen im Westen berichtet wird, um zu zeigen, dass es den Menschen in Russland eigentlich viel besser gehe als denen in westlichen Ländern.
Fakes oder Fake News sind also komplett falsche oder veränderte Fakten, die mit einer bestimmten Intention verbreitet werden.6 Wichtig ist, dass Fakes „immer in einem Bezug zur Wirklichkeit“7 stehen, da sie besonders gut funktionieren, wenn sie – wie Propaganda – bereits bestehende Vorurteile, Erfahrungen, Ängste oder Unzufriedenheiten der Bevölkerung aufgreifen. Das heißt, dass Falschnachrichten auf bereits existierenden Gefühlen – egal ob diese auf Tatsachen oder Einbildung beruhen – aufbauen und damit „in einen schwer zu kontrollierenden, irrationalen Diskurs“8 münden. Zu den wichtigsten Mitteln und Funktionen von Fakes gehören die Wiederholung, die Emotionalisierung sowie das Erregen von Aufmerksamkeit.
Die Wiederholung von Falschinformationen auf verschiedenen Kanälen und durch unterschiedliche Personen weist wiederum auf die umfassende Planung der russischen Propaganda hin, die in den sogenannten metoditschki (dt. Leitfäden) von der Präsidialadministration laufend erstellt und den staatlich kontrollierten Medien übergeben werden.
In Russland nutzen Fakes beziehungsweise Falschnachrichten dem Putin-Regime, um an der Macht zu bleiben. Die Wahrheit ist dadurch in den russischen Staatsmedien in den letzten Jahren zu einer der wichtigsten Waffen des Regimes avanciert. „Unsere Waffe ist die Wahrheit!“ verkündete der ehemalige Ministerpräsident Dimitri Medwedew auf dem Messenger-Dienst Telegram und leitete aus seiner Behauptung schließlich die Rechtfertigung für den Krieg in der Ukraine ab: Russlands Vorgehen sei „richtig“ beziehungsweise „gerecht“ und daher werde es siegen . Die Feinde Russlands – die Ukraine und den Westen – beschuldigt Medwedew dagegen, „bizarre Lügen“ zu verbreiten.
Nicht zuletzt deshalb wurde bereits im März 2022 auf dem staatlichen TV-Sender Perwy Kanal eine neue Talkshow mit dem Titel Anti-Feik ins Leben gerufen. Diese widmet sich dem Kampf gegen die angeblichen Falschmeldungen und Fake News des Westens und der Ukraine. Die Realität wird in dieser Show konsequent als Fake präsentiert, wobei auch mit Halbwahrheiten gearbeitet wird, um die Glaubwürdigkeit der in der Show aufgestellten Lügen zu verstärken.9 Die Wirklichkeit beziehungsweise Wahrheit wird in den russischen Staatsmedien konstant in Frage gestellt oder negiert, Gewissheiten werden abgebaut und alternative Versionen von Ereignissen verbreitet. Auf diese Weise ist ein „neuer Propagandastil“10 entstanden, der jegliche Kritik am Regime unmöglich macht und in der Aufgabe der Freiheit resultiert, wie der bekannte Historiker Timothy Snyder resümiert: „Wenn nichts wahr ist, lässt die Macht sich nicht kritisieren, weil es keine Grundlage für diese Kritik gibt. Wenn nichts wahr ist, ist alles Spektakel.“11 Dies erklärt wiederum, warum viele Menschen in Russland zum Schluss kommen, es sei „alles nicht so eindeutig“ ↑.
Magdalena Kaltseis
Universität Innsbruck
Anonymous
Nähere Informationen zum völkerrechtlichen Verständnis des Begriffs Genozid sind hier zu finden.
Das ukrainische Onlinemedium The Kyiv Independent hat auf YouTube weitere Beispiele gesammelt: How Russian propaganda fuels genocide against Ukrainians
Im Februar 2023 trennte sich beispielsweise gerade aufgrund dieser Entfremdung ein bekanntes Moderatorinnen-Duo von Radio Echo Moskwy: Xenia Larina, die im Exil lebt, und Irina Petrowskaja, die in Moskau geblieben ist. Auf solche Debatten bezieht sich auch die Kunstgruppe Jaw mit ihrer Aktion Denkmal dem weißen Mantel im März 2023 in Sankt Petersburg.
Siehe zum Beispiel: Ecker, U. K. H./Lewandowsky, S./Fenton, O./Martin, K. (2014): Do People Keep Believing Because They Want to? Preexisting Attitudes and Continued Influence of Misinformation, in: Memory & Cognition, 42, S. 292-304
Im Artikel Propaganda on demand (dt. Propaganda auf Anfrage) analysiert Anna Litvinenko, wie die Logik des digitalen Raums, wo sich bestimmte Informationen einfach ignorieren lassen und es einfach ist, nur „bequeme“ Narrative zu konsumieren, der Propaganda in die Hände spielt.
Zafesofa, Anna (2021): Lie to live: The production of a faked reality as an existential function of Putin’s regime, in: Giusti, Serena/Piras, Elisa (eds.): Democracy and Fake News: Information Manipulation and Post-Truth Politics, London/New York: Routledge, S. 107–118; hier: S. 108
Dobler, Ralph-Miklas (2019): Fake aus einer historischen Perspektive, in: Dobler, Ralph-Miklas/Ittstein, Daniel Jan (Hrsg.): Fake Interdisziplinär, München: UVK, S. 13–36, hier: S. 16
Dobler, Ralph-Miklas (2019): Fake aus einer historischen Perspektive, in: Dobler, Ralph-Miklas/Ittstein, Daniel Jan (Hrsg.): Fake Interdisziplinär, München: UVK, S. 13–36, hier: S. 32
Sasse, Sylvia (2022): Der „forensische“ Blick, in: Geschichte der Gegenwart (zuletzt abgerufen am 08.03.2023)
Pörksen, Bernhard (2018): Die neuen Wahrheitskriege, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, 19(2), 69–76, hier: S. 74
Snyder, Timothy (2016): Setzen Sie ein Zeichen! Zwanzig Vorschläge zur Bewahrung der Freiheit in der Unfreiheit, in: Lettre International, 115, S. 11