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FAQ #8: Warum regt sich in Russland so wenig Protest?

Text: Jan Matti Dollbaum, Wladimir Gelman, Graeme RobertsonÜbersetzung: Ariane Amann, Jennie SeitzTitelbild: © AI für dekoder15.12.2022

Russland führt den Krieg gegen die Ukraine brutal auch im Winter weiter, mit Bomben auf die Infrastruktur. Das trifft die Zivilbevölkerung. Kyjiw hat Mühe, den Menschen Strom, Wasser, eine funktionierende Heizung, alles, was für den Winter notwendig ist, verfügbar zu machen. 

Bis heute wird in Russland offiziell von einer „militärischen Spezialoperation“ gesprochen, um den Charakter des Krieges weichzuzeichnen. Doch vieles lässt sich gar nicht mehr verbergen: Die Misserfolge an der Front, der fast vollständige Abzug der russischen Armee aus dem Charkiwer Gebiet und aus Cherson. Die Mobilisierung russischer Männer, Väter und Söhne – die seit September läuft – hat dabei vor allem die bisherigen Verluste auf russischer Seite offensichtlich gemacht. Bringt das alles ein Umdenken in der russischen Gesellschaft? Was macht das mit der Stimmung in der russischen Gesellschaft? Wie viele Menschen befürworten den Krieg überhaupt (noch)? Bringt der Protest von Müttern einberufener Soldaten etwas? Warum gehen nicht mehr Menschen auf die Straße?

In unserem FAQ, das Stück für Stück weiter wächst, sammeln wir zentrale Fragen zum Krieg und lassen sie von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern beantworten: Warum regt sich in Russland so wenig Protest?

    Oberflächlich betrachtet, ja, die meisten Russen unterstützen Putin weiterhin. Die Zahlen haben sich seit Beginn der Invasion kaum verändert. Nach einer groben Schätzung aus verschiedenen Umfragen  handelt es sich um eine Mehrheit von 50 bis 60 Prozent der Bevölkerung. Wobei: Diese Stabilität in den Werten ist bemerkenswert, vielleicht sogar verdächtig – wenn man die Höhen und Tiefen des Kriegsverlaufs in der Ukraine, aber auch die Ereignisse in Russland selbst bedenkt.

    Es gibt mehrere Ansätze, diese Zahlen zu interpretieren:

    Am plausibelsten ist, dass diese Mehrheitsmeinung echt, dabei jedoch nur schwach ausgeprägt ist. Zur Erklärung: In der russischen Gesellschaft gibt es auf beiden Seiten des Spektrums – sowohl bei den Befürwortern des Krieges als auch bei den Gegnern – einen kleinen, sehr überzeugten Anteil von 10 bis 20 Prozent. Die Mehrheit aber gibt Antworten, an die sie nicht fest glauben mag, sondern die sie in dem jeweiligen Kontext für sozial angemessen hält. Im Zusammenhang mit dem Krieg bedeutet dies: Die meisten Menschen unterstützen den Krieg aus patriotischen Gründen, auch wenn sie sich dabei äußerst unwohl fühlen.
    Dies steht auch im Einklang mit Daten, die zeigen, dass eine große und wachsende Zahl der Befragten von Angst und Depression spricht. Außerdem unterstützt die größte Gruppe der Befragten in den Lewada-Umfragen Verhandlungen zur Beendigung des Krieges.
    So wächst zwar die Besorgnis ↓, gegen den Krieg stellen sie sich aber (noch) nicht ↓.

    Der Vollständigkeit halber sollen die weiteren möglichen Interpretationsansätze zu den Zahlen genannt sein, auch wenn diese weniger plausibel erscheinen:
    Eine These lautet, die Daten zur Unterstützung Putins könnten aufgrund der Angst vor Repression so stabil sein. So enthielten sie größtenteils falsche Antworten und wären daher nur wenig aussagekräftig. Hier lässt sich jedoch einwenden, dass viele der Umfragen auch Techniken verwenden, die es verhindern, dass Befragte aus Angst ihre Angaben verfälschen. Es ist daher eher davon auszugehen, dass Angst nicht der Hauptgrund für die hohen Werte ist.

    Eine andere Erklärung: Die stabilen Daten könnten daher kommen, dass die russische Gesellschaft polarisiert ist – zwischen einem großen Teil der Bevölkerung, der den Krieg unterstützt, und einem viel kleineren Teil, der ihn ablehnt. Die Stabilität der Daten bei 50 bis 60 Prozent Unterstützungsgrad könnte dann dadurch erklärt werden, dass die Menschen in hohem Maße überzeugt sind und diejenigen verteufeln, die anderer Meinung sind, was typische Merkmale eines polarisierten Landes wären. In einem solchen Fall tendieren die Ansichten in der Regel dazu, immun gegen neue Beweise zu sein, so dass sich Meinungen nicht ändern, egal, was im Laufe des Krieges passiert. Wenn dem so wäre, bliebe das Fazit zwar gleich: Während sich Russland im Krieg befindet, unterstützen die meisten der älteren Generation und sogar Teile der jüngeren Generation weiterhin den Krieg. Aber auch hier muss man etwas Gewichtiges einwenden. Es wäre nämlich eine viel enthusiastischere Begrüßung des Krieges zu erwarten, die sich nicht mit den Anzeichen von Angst und Depression aus dem ersten Erklärungsansatz deckt. 

    In jedem Fall ist die Beurteilung der Stimmung in der russischen Gesellschaft in den letzten Monaten schwieriger geworden. Die Herausforderung liegt in dem widersprüchlichen Druck, der auf der öffentlichen Meinung lastet. In einem Krieg, selbst bei einer ungerechtfertigten, brutalen Invasion des friedlichen Nachbarn, fühlen sich die Bürger durch Staatspropaganda und die gesellschaftlichen Erwartungshaltungen durch andere unter Druck gesetzt. Es kommt zu einem „ralley-around-the-flag“-Effekt, man versammelt sich hinter dem Präsidenten. Dass dieser Effekt in Russland derzeit eine starke Rolle spielt, zeigt sich im Vergleich zu Zahlen, die wir noch vor der Invasion erhoben haben: Unsere eigenen Umfragen zeigen, dass sich die Russen vor dem Krieg wenig für die sogenannten „verlorenen Gebiete“ der früheren Sowjetunion interessierten. Die russische Öffentlichkeit hat diesen Krieg nicht verlangt.

    Graeme Robertson
    University of North Carolina in Chapel Hill

    Einige Zweifel am Krieg sind seit der Mobilmachung tatsächlich gewachsen. Die Daten legen nahe, dass die Menschen dadurch weit mehr beunruhigt sind. Zwei Parameter lassen sich dabei besonders hervorheben:

    1) Die Daten des Lewada-Zentrums zeigen deutlich, dass rund 65 Prozent der Befragten (Stand im Oktober 2022) wegen der Mobilmachung besorgt sind – verglichen mit 28 Prozent zu Kriegsbeginn (Februar 2022).

    2) In der Lewada-Umfrage ist im Verlauf der vergangenen Monate der Anteil derjenigen gesunken, die glauben, dass die Militäroperation erfolgreich verläuft: von einem Höchststand von 73 Prozent im Mai auf 53 Prozent im September 2022. Diese Beunruhigung über den Krieg scheint sich langsam auszubreiten, befördert durch die Mobilmachung und, eventuell, auch durch das, was über hohe Opferzahlen an der Front an die Öffentlichkeit dringt. Viele machen sich auch Sorgen um ihre wirtschaftliche Zukunft. Viele sind wegen des Krieges auch in einem Zwiespalt. So besteht ein Meer von widersprüchlichen Gefühlen, in dem die Russen einen Krieg unterstützen, den die meisten von ihnen am liebsten schon morgen beenden würden.

    Diese Verschiebungen finden aber eher unter dem Radar statt, während der Unterstützungsgrad für das Vorgehen des Präsidenten in den allgemeinen Zahlen – aus den oben genannten Gründen ↑ – davon weitgehend unberührt bleibt.

    Graeme Robertson
    University of North Carolina in Chapel Hill

    Das Ausbleiben von Massenprotesten in Russland hat komplexe Gründe: Zum einen muss man davon ausgehen, dass ein Großteil der Bevölkerung den Krieg zwar für ein Übel hält, aber überzeugt ist , dass Russland quasi von außen dazu gezwungen ist, ihn zu führen. Das ist (auch) das Resultat der flächendeckenden staatlichen Propaganda. Selbst da, wo solche Propaganda eventuell nicht greift, wirkt sich oft der Komplett-Rückzug ins Private aus, ein Abwenden von Politik im Allgemeinen, wie es in autoritären Systemen häufig zu beobachten ist. Erst die Mobilmachung ↑ hat für viele Menschen in Russland die Erkenntnis befördert, dass sie ein Ende des Krieges nicht in ihren Wohnungen abwarten können. Trotzdem hat auch das kein breites Aufbegehren mobilisiert.

    Zudem gibt es wenig Erfahrung mit wirksamem Protest, und es fehlen stabile Organisationen, um die Teilnehmer für Proteste auf breiter Basis auf die Straße zu bringen und langfristig zu koordinieren. Die Oppositionskräfte, die dazu in der Lage gewesen wären – wie etwa Alexej Nawalnys Stäbe und Regionalbüros – waren schon im Laufe des Jahres 2021 von den Behörden verboten und zerschlagen worden1. Die Angst vor Repressionen ist groß und tatsächlich ist die Staatsmaschinerie zu stark, als dass die meist lokal begrenzten Proteste sie brechen könnten.

    Diese Bedingungen wirken sich zwangsläufig auf die Ziele und Mechanismen der Proteste aus. Im Moment protestieren ausschließlich diejenigen, die aus eigener moralischer Position gar nicht anders können. Einige davon radikalisieren sich, wie Brandanschläge auf Einberufungsämter  zeigen.

    Bei vielen weiteren, die gegen den Krieg sind, gewinnt die Angst. Und noch andere sind vielleicht vor allem gegen den Krieg, weil sie nicht selbst davon betroffen sein wollen. Diese Leute wären natürlich wichtige Unterstützer einer breiten Antikriegsbewegung. Doch viele von ihnen versuchen, individuelle Lösungen zu finden, etwa durch Flucht in die Nachbarländer . Helfer wie der mittlerweile bekannte und gefragte Menschenrechtsanwalt Pawel Tschikow können paradoxerweise dazu beitragen, dass das Bedürfnis nach kollektiver Handlung nicht steigt, sondern vielmehr gering bleibt: Wer für sich selbst eine Lösung findet, muss nicht mehr protestieren.

    Jan Matti Dollbaum
    Universität Bremen

    Wladimir Gelman

    Aleksanteri Institut der Universität Helsinki

    Auch wenn man darüber wenig hört: Seit Kriegsbeginn gibt es tatsächlich zahlreiche Aktionen, mit denen Menschen gegen den Krieg protestieren. Diese Aktionen sind oft unscheinbar, doch sie finden statt. Es sind meist Aktionen Einzelner oder einzelner für sich agierender Gruppen, kaum koordiniert.

    Auch die Demonstrationen, die es insbesondere in den ersten Kriegsmonaten gab, waren selten von politischen Gruppen angestoßen, sondern spontan. Sie wurden von den Sicherheitsorganen brutal niedergeschlagen und auseinandergetrieben. Als die Oppositionsgruppe Wesna  gut fünf Wochen nach Kriegsbeginn zu Sitzstreiks im ganzen Land aufrief, brachte das schon kaum noch Resonanz. Die Gründe dafür sind vielfältig: Neben der fehlenden Koordination fällt ins Gewicht, dass hunderttausende politisch aktiver Menschen das Land verlassen haben. Außerdem zog die Repression in Russland massiv an. Kritiker werden strafrechtlich verfolgt, das geschieht willkürlich und selektiv. Anfang Dezember wurde mit Ilja Jaschin beispielsweise einer der wenigen noch im Land verbliebenen Oppositionspolitiker, der sich lautstark gegen den Krieg geäußert hat, wegen dieser Kritik, zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt.

    Zu den aktuellen Protestformen gehören zum Beispiel Mahnwachen und anonyme Flugblätter, die dazu aufrufen, den Anweisungen zur Mobilmachung nicht zu folgen, und die juristische Tipps dazu geben. Die bestehenden Einschränkungen haben auch zu einer enormen Kreativität geführt, zu einer Coded Language des Protest. So gibt es Graffiti, Aufkleber, auf die Straße gesprühte Slogans, feministischen Protest , oder in Supermärkten ausgetauschte Preisschilder  mit Antikriegsbotschaften und symbolische Aktionen wie an Zäunen angebrachte Kindersocken oder rot befleckte Babybodies als Symbol für die zivilen Opfer in der Ukraine.

    Wie wirksam ist das dann? Öffentlich sichtbarer Widerstand wurde so vor allem anonymer und kann das Regime nicht zum Einlenken bringen. Zumindest versuchen Menschen, die nicht einverstanden sind, auf diese Weise den Krieg im Alltag sichtbar zu machen, eine Gewöhnung an ihn zu unterbinden. Das kann allen Kriegsgegnern signalisieren, dass sie mit ihrer Position in der russischen Gesellschaft (wo Daten zeigen ↑, dass eine Mehrheit den politischen Kurs des Landes unterstützt) nicht allein sind.

    Jan Matti Dollbaum
    Universität Bremen

    Kurz gesagt: Nein. Es gab und gibt zwar Proteste und Eingaben von Müttern einberufener Soldaten, doch davon gehen bislang keine Signale für das Anwachsen einer größeren Protestbewegung aus. Der bekannteste Fall sind die Proteste in Dagestan vom September 2022, als einige Dutzend wütende Frauen die Straße blockierten, um gegen die Mobilmachung ihrer Söhne und Männer zu protestieren.

    Aber man muss sich vor Augen führen, dass die meisten dieser „Eruptionen“ nicht gegen die Mobilmachung als solche gerichtet waren, sondern gegen die Art und Weise, wie sie ausgeführt wird . Es ist ein typisches Charakteristikum für Proteste in Russland, egal, um welches Problem es geht: die Verlagerung des Fokus der Kritik von der politischen Führung des Landes auf die Vollstrecker ihrer Befehle. Alle gehen davon aus, dass sie keinen Erfolg haben werden, wenn sie gegen Putin protestieren .

    Für die Russen, die von der Mobilmachung betroffen sind, sowie für deren Angehörige und Freunde sind daher in erster Linie nicht kollektive, sondern individuelle Maßnahmen die einzig mögliche Lösung ↑. Deshalb haben viele, die sich der Mobilmachung entziehen wollen, Russland unmittelbar nach deren Bekanntgabe verlassen. Andere, die diese Möglichkeit aus irgendwelchen Gründen nicht hatten, versuchten, sich mit allen erdenklichen Mitteln vor ihr zu verstecken. Aber auch wenn wir die Ausmaße solcher individuellen Aktionen nicht kennen, so waren es offensichtlich nicht genug, um die Situation im Ganzen zu beeinflussen.

    Es besteht daher kein Zweifel: Von ernstzunehmenden kollektiven Aktivitäten der Russen gegen die Mobilmachung lässt sich nicht sprechen. Der Protest der Mütter, die sich meist vor allem für eine bessere Ausrüstung und Vorbereitung ihrer Söhne für den Kampfeinsatz einsetzen (nicht gegen den Krieg als solchen), birgt dafür kaum Potential.

    Die Zahl derer, die sich nicht widersetzen konnten oder wollen und schließlich doch an der Front gelandet sind, war am Ende groß genug, um die Ziele der ersten Phase der Mobilmachung, die sich die russische Führung gestellt hat, zu erreichen. Offen bleibt, ob weitere Einberufungsrunden, die kommen sollen, auf ausreichenden Widerstand treffen werden. Womöglich könnte er zunehmen, je länger die Kampfhandlungen andauern und je mehr Opfer sie fordern.

    Wladimir Gelman
    Aleksanteri Institut der Universität Helsinki

    Es war von Beginn an klar, dass gegen Protest rigoros vorgegangen wird – und das geschah dann auch.

    Das Ermittlungskomitee verbreitete sofort am 24. Februar 2022 eine Pressemitteilung, in der klar gewarnt wurde: vor der Teilnahme an „Massenunruhen“ und vor „Widerstand gegen die Staatsgewalt“. Es wurde offen mit direkter Strafverfolgung gedroht: „Nach dem Strafgesetzbuch der Russischen Föderation sind solche Straftaten mit Freiheitsentzug bedroht. Es ist zu bedenken, dass eine Vorstrafe negative Folgen hat und sich auf das weitere Schicksal auswirkt.“ Sprich, die Botschaft lautete: Leute, denkt gar nicht erst darüber nach.

    Die Reaktion der Sicherheitsorgane gegen den Protest, den es dennoch in den ersten Wochen auf der Straße gab, war harsch: Die Organisation OWD-Info zählte in den ersten Wochen über 15.000 Festnahmen – weit mehr als ein Jahr zuvor, als es die bis dahin größten unangemeldeten Demonstrationen gab. Auf solche Festnahmen folgen in der Regel kurzzeitige Ordnungsstrafen , für viele Betroffene später noch Strafprozesse, in denen Freiheitsentzug oder Geldstrafen verhängt werden. Aus Moskau und Woronesh gab es außerdem Berichte, dass Männern, die bei Anti-Kriegs-Protesten festgenommen wurden, gleich auf der Polizeiwache der Einberufungsbescheid ausgehändigt wurde.2

    Die existierende Rechtsgrundlage3 für Repressionen in Russland wurde dann noch entscheidend erweitert. Die „Diskreditierung der Armee“ sowie die Verbreitung von „Falschinformationen “ über ihre Einsätze kann unter Gefängnisstrafe von bis zu 15 Jahren gestellt werden.4

    So gibt es Anklagen bei Einzelprotesten mit einem Plakat, auf dem schlicht „Nein zum Krieg“ steht. In Iwanowo wurde auf Basis des neuen Artikels sogar ein Verfahren gegen einen Mann eröffnet, der nur auf der Straße stand und Gratiskopien des Buchs 1984 von George Orwell verteilte.

    Noch immer endet längst nicht jede Festnahme mit einer Anklage. Doch die Repression gegen Widerstand, selbst gegen den vereinzelten und unpersönlichen, der sich durch kleine Alltagsbotschaften ↑ bemerkbar macht, wurde mit Kriegsbeginn erneut drastisch verschärft.

    Jan Matti Dollbaum
    Universität Bremen

    Nichts deutet auf eine bevorstehende Spaltung der russischen Eliten hin. Daran hat auch der Rückzug der russischen Truppen aus einigen Gebieten im Osten und Süden der Ukraine, Stichwort Cherson, nichts geändert.

    Dazu muss man verstehen: In einem autoritären Regime ist eine „Spaltung“ der Eliten in zwei oder mehr halbwegs stabil konkurrierende Fraktionen nur dann möglich, wenn dieses Regime kollektiv geführt wird. Ein solches, kollektiv geführtes Entscheidungsorgan war das Präsidium (später Politbüro) des Zentralkomitees (ZK) der KPdSU in der Sowjetunion nach Stalins Tod. Dort zeigten sich solche Spaltungen und führten auch zu Machtwechseln. So war es zum Beispiel 1964, als eine Mehrheit sowohl im Präsidium als auch im ZK Chruschtschow  zum Rücktritt zwang5. Obwohl einige Analysten und Experten mit hübschen Modellen wie „Politbüro 2.0“ operieren, hat der Umgang zwischen Putin und seiner Umgebung wenig Ähnlichkeit damit. Es gibt heute keine Mechanismen, um kollektive Entscheidungen auf Ebene der Staatsführung zu treffen. Die Sitzungen im Kreml, an denen hochrangige Amtsträger teilnehmen, erinnern heute mehr an das demonstrative Absegnen von Beschlüssen, die das Staatsoberhaupt bereits höchst persönlich getroffen hat6. Auch die Vertreter der politischen Führung sind vom Staatsoberhaupt handverlesen. Eine Spaltung würde die Kooperation verschiedener Gegen-Eliten voraussetzen. Eine Grundlage für eine systematische Kooperation gibt es aber nicht. Vielmehr haben wir es mit einzelnen Cliquen zu tun, deren Interessen sich mal überschneiden, mal widersprechen.

    Allianzen und Koalitionen entstehen daher ad hoc – und zerfallen so schnell wie sie aufgekommen sind. Sie können gemeinsame Ziele entwickeln, zum Beispiel im Kampf um wichtige Posten oder um die Umleitung der Finanzströme in diese oder jene Kanäle, aber keine konkreten politischen Interessen. Wenn Jewgeni Prigoshin zum Beispiel Verteidigungsminister Sergej Schoigu offen kritisiert, sollte man diese Konflikte nicht als eine „Spaltung der Eliten“ werten, sondern als Episode, in der es um die Umverteilung von Renten geht, also um den eigenen Nutzen. Solche Unstimmigkeiten schwächen aber das personalistische Regime nicht, sondern im Gegenteil: Putin wird gestärkt, indem er mehr Handlungsspielraum erhält, um zwischen den Akteuren zu manövrieren.

    Eine Adhoc-Allianz, die dazu in der Lage wäre, Putin zu stürzen, ist kaum denkbar. Selbst wenn ein Teil der Elite den Krieg lieber beenden würde, so überwiegt mit einigem Recht die Skepsis, dass kollektive Handlungen zu den von ihnen gewollten Veränderungen führen könnten. Solange Alternativen zum gegenwärtigen Status quo unrealistisch und/oder unerwünscht erscheinen, kann die Stabilität des Regimes wenig gefährdet werden. Das bedeutet nicht, dass alle Vertreter der russischen Eliten jeden Schritt vorbehaltlos unterstützen. An allen Ecken und Enden hört man von ihrer Unzufriedenheit. Bisherige Rücktritte waren aber viel zu unbedeutend, um sich auszuwirken. So kann man Anatoli Tschubais heute kaum mehr als gewichtige Stimme bezeichnen. Aber vor allem liegt zwischen individuellem Unmut und kollektiven Handlungen ein himmelweiter Unterschied.

    Was die symbolischen Erfolge der ukrainischen Armee angeht, so sorgt das eher für eine Aktivierung des militaristisch eingestellten Teils der russischen Elite und keineswegs des Teils, der sich für ein Ende der Kriegshandlungen ausspricht.

    Wladimir Gelman
    Aleksanteri Institut der Universität Helsinki


    Übersetzung aus dem Englischen und aus dem Russischen: Ariane Amann, Jennie Seitz, dekoder-Redaktion


    Russland führt Krieg gegen die Ukraine. dekoder stellt die wichtigsten Fragen und Antworten zusammen. Gemeinsam mit Forscherinnen und Forschern geht es in diesem FAQ darum, fakten- und wissenschaftsbasiert zu erklären und einzuordnen, was man zu Putins Angriffskrieg auf die Ukraine wissen muss.

    Stellen Sie uns gern auch Ihre Fragen – per Email unter dekoder-lab@dekoder.org. Wir werden versuchen, mit Expertinnen und Experten aus europäischen Universitäten Antworten darauf zu finden.

    Diese Reihe entsteht in Kooperation mit dem Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin, mit dem Nordost-Institut – Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa e.V. (IKGN) und wird von der Alfred-Toepfer-Stiftung F.V.S. unterstützt.


    Fußnoten

    Die Parteien innerhalb der Systemopposition, die letzten Orte, wo Widerspruch noch bis zu einem gewissen Grad organisiert werden könnte, sprangen – mit Ausnahme einzelner Abgeordneter der Kommunistischen Partei – auf den Kriegszug auf. Ihre Oppositionsarbeit beschränkt sich aktuell darauf, Ausnahmen zu fordern, etwa solche, Väter von Familien mit drei oder mehr Kindern nicht einzuziehen.

    vgl. Dubowy, Alexander; Luzyanina, Ilona (2021): Das Strafvollzugssystem der Russischen Föderation: Bestrafung statt Resozialisierung? in: Russland Analysen, Nr. 401, S. 27-31. (Abschnitt zu „Anstieg politisch motivierter Verfahren“)

    Weitere Gesetzesänderungen finden sich im ständig aktualisierten Bericht von OVD-Info, vgl: «Antivoennoe delo»: gid OVD-Info

    Ein Beispiel, als sich Eliten gegen die Führung stellten, jedoch erfolglos blieben, war, als sich die Mehrheit der Präsidiumsmitglieder (die Antipartei-Gruppe von Molotow, Malenkow und Kaganowitsch) 1957 gegen Nikita Chruschtschow stellte, der sich jedoch an der Macht halten konnte, weil die Mehrheit im ZK der KPdSU hinter ihm stand.

    Demonstratives Beispiel ist die Sitzung des Sicherheitsrates der Russischen Föderation unmittelbar vor Beginn der „Spezialoperation“ im Februar 2022.