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FAQ #6: Wie gefährlich ist die Lage am AKW Saporishshja?

Text: Anne DieneltGustav GresselSebastian StranskyTitelbild: © AI für dekoder15.09.2022

Immer wieder richten sich die Augen der Weltöffentlichkeit auf das Kernkraftwerk Saporishshja in der Ukraine am Fluss Dnipro: Es ist von der russischen Armee besetzt und stand schon mehrfach unter Beschuss. Die Angst, dass es dort zu einem Reaktorunfall kommen kann, ist groß.
In unserem FAQ #6 haben wir zentrale Fragen dazu versammelt: Wie groß ist die Gefahr? Kann es zu einem zweiten Tschernobyl kommen oder zu einem Szenario wie in Fukushima? Wie ist die militärische Lage – und wie sind die Sicherheitsvorkehrungen? Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schreiben darüber in Fragen und Antworten.

    Grundsätzlich ausschließen kann man das nicht – schlicht aufgrund der Tatsache, dass sich das AKW Saporishshja in einem Kriegsgebiet befindet. Von einem kerntechnischen Stör- und Unfall sind wir derzeit aber sehr weit entfernt.

    Damit es zu einem Unfall kommt, müsste mindestens eines der beiden folgenden Szenarien eintreten: 

    a) Es kommt zu einem Stromausfall auf der gesamten Anlage PLUS sämtliche Sicherheitseinrichtungen ↓ versagen, sodass die Kühlung von mindestens einem der sechs am Standort vorhandenen Reaktoren nicht mehr aufrechterhalten werden kann. 

    b) Es kommt durch Beschuss mit schweren Waffen an einem der Reaktorgebäude zu einer äußerst starken Beschädigung, wobei die vorhandenen Stahlbetonbehälter durchdrungen und Reaktoreinbauten beschädigt werden, sodass die Kühlkette unterbrochen wird. 

    Gerade Szenario 2 ist schwer vorstellbar, da es ein gezieltes Herbeiführen voraussetzt, woran jedoch eigentlich keine der involvierten Parteien ein ernsthaftes Interesse haben kann. Bislang wurde Beschuss direkt auf ein Reaktorgebäude selbst auch nicht registriert (Stand 15.09.2022). Lediglich das Gelände oder Nebengebäude wurden getroffen.
    Gleiches gilt für ein gezielt herbeigeführtes Versagen der Systeme durch Sabotage, wobei man hier sagen muss, dass es aufgrund der sicherheitstechnischen Auslegung eines AKWs ohnehin kaum zu realisieren ist.

    Kurz zur Ausgangslage: In der Ukraine gibt es vier aktive Kernkraftwerke1 – von denen das AKW Saporishshja  das leistungsstärkste ist, nicht nur in der Ukraine, sondern in ganz Europa. Dieses ist seit der Nacht vom 3. auf den 4. März 2022 von russischen Truppen besetzt. 

    Die Anlage wird weiter von der bisherigen ukrainischen Betriebsmannschaft betrieben. Allerdings haben weder externe Mitarbeiter des staatlichen Kraftwerksbetreibers noch die ukrainische Atomaufsichtsbehörde Zutritt zum AKW. 

    Das AKW-Gelände und der Umkreis ist wiederholt unter Beschuss geraten ↓. Beschädigt wurden dabei vor allem die Hochspannungsleitungen, über die das AKW mit dem Landesnetz der Ukraine verbunden ist. Zeitweise fiel Anfang September die letzte intakte Leitung aus. Dabei wurde der zu dem Zeitpunkt noch einzig aktive Reaktorblock 6 so weit gedrosselt, dass er nur noch den Strom produzierte, den die Anlage für den eigenen Bedarf benötigte – insbesondere für die Kühlung der Reaktoren. Für diesen sogenannten Inselbetrieb  ist ein AKW aber nur zur Überbrückung ausgelegt. Daher entschied sich der Kraftwerksbetreiber am frühen Morgen des 11. September, nachdem das AKW wieder an das ukrainische Stromnetz angeschlossen worden war, diese Gelegenheit zu nutzen, um die komplette Anlage kontrolliert herunterzufahren. 

    Sebastian Stransky
    Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit in Köln

    Erstens: Ein „zweites Tschernobyl“ ist nicht möglich. Die im AKW Saporishshja (und auch im Rest der Ukraine) betriebenen Reaktoren sind gänzlich andere, als der 1986 havarierte. Daher ist insbesondere ein Graphitbrand  nicht möglich. Ein solcher hatte 1986 radioaktive Partikel in die Atmosphäre hochgetrieben, sodass diese großflächig durch Wind und Wetter verteilt werden konnten. 

    Zweitens: Sollte es einen totalen Stromausfall auf der Anlage geben, könnte sich zwar ein kritisches Szenario entwickeln, das in letzter Konsequenz zu einem Schmelzen des Kerns führen könnte. Trotzdem hinkt der viel gezogene Vergleich zu Fukushima von 2011 – aus zwei Gründen: a) wurde die Anlage in Japan durch das Erdbeben und den darauffolgenden Tsunami von einer plötzlich auftretenden Naturkatastrophe überrascht und b) verfügten die japanischen Reaktoren nicht über einen Sicherheitsbehälter aus Stahlbeton mit Ventingfunktion . Dieser erhöht die Stabilität und Funktionalität der Reaktorgebäude im AKW Saporishshja. Das heißt, selbst wenn es aufgrund eines längerfristigen Stromausfalls zu einer Kernschmelze kommen sollte, so bestünde immer noch die Möglichkeit, radiologische Freisetzungen zu vermeiden.

    Gegen einen Stromausfall an sich gibt es in dieser Anlage auf sämtlichen Ebenen – redundant vorhandene – Sicherheitsvorkehrungen. Zurzeit sind sie alle intakt. Redundant bedeutet, dass sich grundsätzlich mehrere Systeme (beispielsweise Notstromdiesel und Pumpen zur Kühlung) gegenseitig absichern. Es können also auch mehrere von ihnen ausfallen, ohne die Sicherheit der Anlage zu gefährden. Das gilt sowohl im sogenannten Inselbetrieb als auch im heruntergefahrenen Zustand. Bevor sich die Lage so zuspitzt, dass die Kühlung tatsächlich ausfällt, können mehrere Tage bis Wochen überbrückt werden. Das greift, solange mindestens eine Hochspannungsleitung zum AKW intakt oder zumindest Dieseltreibstoff für die Notstromaggregate vorhanden ist.

    Drittens: Grundsätzlich ist es so, dass die Anlagen gegen sogenannte Einwirkungen von außen, beispielsweise einen Flugzeugabsturz oder ein Erdbeben, ausgelegt sind. Mit schweren modernen Waffen (zum Beispiel Marschflugkörper oder ballistische Raketen), die bewusst und zielgerichtet auf die Reaktorgebäude geschossen werden, lässt sich jedoch – theoretisch – auch die 1,5 Meter dicke Stahlbetonhülle der Reaktorgebäude zerstören. Das müsste mutwillig herbeigeführt werden. 

    Viertens: Ein weiteres denkbares Szenario wäre ein Treffer des Zwischenlagers, das sich auf dem AKW-Gelände befindet. Dort werden die abgebrannten Brennelemente aus dem AKW in speziellen Behältern gelagert, deren ca. 80 Zentimeter dicke Hülle aus mit Stahl armiertem Beton besteht. Würde ein solcher Behälter durch Beschuss beschädigt, könnten radioaktive Stoffe in die Umwelt gelangen. Das wäre zwar ein Problem auf und im unmittelbaren Umfeld der Anlage, aber kein großflächiges radiologisches Katastrophenereignis .

    Die möglichen Unfallszenarien unterscheiden sich hinsichtlich der Menge und Art der freigesetzten radioaktiven Stoffe teils deutlich. Welche Auswirkungen  sie im Einzelfall haben (auch für Deutschland), würde auch stark von den Witterungsbedingungen zum Zeitpunkt eines Ereignisses abhängen – insbesondere von Windrichtung und -stärke. 

    Sebastian Stransky
    Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit

    Die russische Armee hat das AKW im Zuge des Angriffs in Richtung Saporishshja  am Ende der ersten Kriegswoche erobert. Obwohl es von der Ukraine nicht militärisch besetzt war, vermuteten russische Angreifer dort Feind und nahmen das AKW-Gelände unter Beschuss – und es dann vom 3. auf den 4. März ein. Militärisch ist es ein markantes Gebäude, von dem man gute Beobachtungsmöglichkeiten ins Umland hat. Als relativ gesichert gilt, dass die russische Armee Teile der AKW-Anlagen seitdem zu einem Lager  ausgebaut hat.  

    Was die Kampfhandlungen dort beziehungsweise in der Region angeht, so ist die Lage dagegen diffus und es gibt verschiedene Ebenen, die zu betrachten sind:

    a) die Frage, wo die aktuelle Front und damit schwere Kämpfe zu verzeichnen sind 

    b) die Frage, was das genau für ein Beschuss rund um das AKW ist, der zwischenzeitlich – besonders im August – zunahm.

    Die aktive Frontlinie liegt bereits seit April nicht mehr am AKW selbst. Das ist dort alles russisch besetztes Gebiet: Die russische Armee hatte in den ersten Kriegswochen die Stadt Enerhodar eingenommen, in der das AKW Saporishshja direkt am Flussufer des Dnipro liegt. Ebenso hat sie das rund 100 Kilometer südlich gelegene Melitopol und das 200 Kilometer weiter westlich entfernte Cherson besetzt. Schwere Kampfhandlungen zwischen russischen und ukrainischen Panzerverbänden gibt es also in 50 bis 100 Kilometer Entfernung . Die Art des Beschusses, die am AKW bislang verzeichnet wurde, ist anhand von Trümmern zu beurteilen: Darunter finden sich zum Beispiel Artillerie-Raketen – diese fliegen jedoch nicht aus Versehen 50 Kilometer zu weit. Ein solcher Angriff muss absichtlich erfolgen.

    Die Beschüsse am AKW  sind also unabhängig von der aktiven Front zu sehen. 

    Wer auf wen schießt, lässt sich in der Gemengelage nicht pauschal sagen.2 Nichtsdestotrotz gibt es deutliche Anzeichen dafür, dass die russische Armee die ukrainische Armee an dieser Stelle provozieren könnte. Bei konkreten Einzelaktionen legen Indizien nahe, dass es auch russischen Beschuss3 auf das AKW-Gelände gab, ziemlich sicher mit dem Ziel, die Ukraine als (vermeintlichen) Angreifer zu diskreditieren. Das erklärt freilich nicht jeden einzelnen Vorfall seit März. Zu oft wissen wir einfach zu wenig. Aber es zeigt die Absicht der Russen, selbst-inszenierten Beschuss (sogenannte „false-flag“-Aktionen) als Propagandamittel zu nutzen – etwa, um die Öffentlichkeit im Westen nervös zu machen und damit auch Waffenlieferungen an die Ukraine in Verruf zu bringen.

    Weiterhin: Auch die Ukraine bekannte sich zu einem Drohnen-Angriff im Juli, bei dem ein russischer Raketenwerfer zerstört und drei Soldaten auf dem AKW-Gelände getötet worden sein sollen.4 Hintergrund dürfte gewesen sein, Angriffe vom AKW-Gelände aus zu unterbinden. Tatsächlich deutet vieles darauf hin, dass die russische Armee von dort bewusst zivile Siedlungen am gegenüberliegenden (ukrainisch kontrollierten) Dnipro-Ufer unter Beschuss genommen hat, erstens um den Gegner zu demoralisieren, zweitens um Gegenfeuer auszulösen. 

    Die aktive Front wird voraussichtlich auch weiterhin eher nicht direkt am AKW liegen. Auch nicht, wenn die ukrainische Gegenoffensive in dieser Region beginnen sollte, nach Süden vorzudringen. Das AKW wird dann vermutlich erst einmal links liegen gelassen, weil es auf keiner der möglichen Vorstoßrouten liegt.

    Gustav Gressel
    European Council on Foreign Relations

    Im Grunde ja – auch wenn es einige wenige Ausnahmen gibt (dazu später mehr ↓). Völkerrechtlich ist es grundsätzlich verboten, Kernkraftwerke anzugreifen. Das Kriegsrecht sieht für AKWs und deren Umfeld einen besonderen Schutz vor, weil die Gefahr groß sein kann, die von Kernkraftwerken in Friedens- und noch viel mehr in Kriegszeiten ausgeht. Ein Reaktorunfall könnte schließlich Folgen für Regionen in der Ukraine, in Belarus und weit darüber hinaus haben. 

    Grundlage für das Verbot ist Artikel 56  des 1. Zusatzprotokolls der Genfer Konventionen zum „Schutz von Anlagen und Einrichtungen, die gefährliche Kräfte enthalten“. Sowohl die Ukraine als auch Russland sind Vertragspartei des Zusatzprotokolls und haben sich damit zur Einhaltung verpflichtet.
    Allerdings – und das wird oft unterstellt – handelt es sich bei dem Gebiet um ein AKW nicht automatisch um eine „demilitarisierte Zone“ . Eine solche Zone liegt nur dann vor, wenn sich Russland und die Ukraine darauf einigen würden, sämtliches militärisches Personal inklusive Ausrüstung abzuziehen und die Zone somit zu „demilitarisieren“. Das ist bisher zumindest nicht der Fall, wird aber von der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) nachdrücklich gefordert ↓.
    Dass Russland das AKW besetzt hält ↑, kann bereits als Angriff auf ein Atomkraftwerk gewertet werden und stellt damit einen Verstoß gegen das 1. Zusatzprotokoll der Genfer Konventionen dar.

    Es gibt weitere internationale Standards , die von der IAEO konkret für die Ukraine formuliert  wurden, um den Betrieb von AKWs in diesem Krieg zu schützen. Dazu gehören neben der Unversehrtheit der Anlagen auch die Sicherheit der Ingenieure, die ihre Entscheidungen in der täglichen Arbeit „frei von unangemessenem Druck“ treffen können müssen, wie es darin heißt. Diese Standards sieht die IAEO als verletzt an.5  

    Die Krux: Es sind Normen beziehungsweise Empfehlungen einer Internationalen Organisation. Dafür gibt es keinen wirksamen Mechanismus, um sie – gegen den Willen der Beteiligten – durchzusetzen. Im Fall der russischen AKW-Besetzung von Saporishshja wird seit Monaten versucht, diese Krise diplomatisch zu lösen. Ein erster, deutlicher Schritt war Anfang September, die IAEO-Mission auf das Gelände zu lassen ↓, damit sich die Expertinnen und Experten ein Bild machen können. 

    Dr. Anne Dienelt, maître en droit (Aix-en-Provence)
    Institut für Internationale Angelegenheiten, Universität Hamburg

    Ja, allerdings sind es wirklich nur sehr wenige Ausnahmen und nur unter ganz bestimmten Bedingungen – die zudem rechtlich unterschiedlich ausgelegt werden können. Ausgangspunkt ist die Frage, ob ein AKW

    erstens „unmittelbar Unterstützung für die Kriegshandlungen“ liefert, zum Beispiel in Form von Stromzufuhr für Streitkräfte oder militärische Anlagen. Und ob diese Unterstützung

    zweitens in ihrem Umfang „bedeutend“ ist. So formuliert es das humanitäre Völkerrecht.

    Das ist in der Praxis schwer zu sagen, da ein AKW in der Regel sowohl die Armee als auch weite Teile der Zivilbevölkerung mit Strom versorgt . Der Punkt ist hier: Die Zivilbevölkerung (ebenso wie andere zivile Objekte) darf nach den Genfer Konventionen nicht gezielt angegriffen und nicht in Kriegshandlungen einbezogen werden. Im Fall eines Angriffs auf ein AKW stünde jedoch nicht nur fehlender Strom für die Menschen im Raum, worunter sie zu leiden hätten, sondern auch die mögliche Freisetzung radioaktiver Strahlung ↑ mit Folgen für Leib und Leben.

    Daher bestehen völkerrechtlich sehr hohe Hürden. Fraglich ist in diesem Fall daher allein schon, ob vom AKW Saporishshja „bedeutende“ Unterstützung für die Kriegshandlungen ausgeht. Wie bemisst sich das? Und ist diese Unterstützung dann so „bedeutend“, dass sie den möglichen Schaden, den ein Angriff auf ein AKW für die Zivilbevölkerung mit sich bringen kann, tatsächlich überwiegt? Es ist nur schwer vorstellbar, welche militärischen Vorteile es mit Besetzung und Beschuss hier angesichts möglicher unkontrollierbarer und schwerwiegender Schäden für die Zivilbevölkerung durch radioaktive Strahlung geben könnte. 

    Sowohl die russische Armee als auch die ukrainische Armee ↑ sind diesen rechtlichen Abwägungen am umkämpften AKW unterworfen.6

    Fest steht: In jedem Fall müssen zunächst andere, „mildere“ militärische Mittel und Strategien (erfolglos) eingesetzt worden sein, um die militärischen Ziele zu erreichen . Erst dann stellt sich die Frage, ob ein Angriff auf ein AKW gegebenenfalls rechtlich zulässig wäre.

    Dr. Anne Dienelt, maître en droit (Aix-en-Provence)
    Institut für Internationale Angelegenheiten, Universität Hamburg

    Seit Kriegsbeginn und seit der Besetzung des Kraftwerks durch die russische Armee war es mit der IAEO-Mission  erstmals möglich, unabhängige und fachkundige Informationen über den Zustand des Kraftwerks einzuholen – und das ist in der gesamten angespannten Lage ein großer Fortschritt. Im Ergebnis sieht die IAEO derzeit keine unmittelbare Gefahr für einen kerntechnischen Unfall; so paradox es klingen mag, aber die Anlage läuft – rein technisch betrachtet – im Normalbetrieb.

    Dennoch zeigte sich IAEO-Direktor Rafael Grossi besorgt und im Abschlussbericht7 wird die generelle Lage am AKW Saporishshja, sprich die militärische Präsenz sowie der wiederholte Beschuss, als „untragbar“ bezeichnet.  

    Die IAEO fordert, dass beides beendet wird; insbesondere, dass zunächst der Beschuss aufhört: Es müsse eine demilitarisierte Sicherheitszone ↑ rund um das Kraftwerk eingerichtet werden. Nur über eine solche Maßnahme könne erreicht werden, dass das Militär das Kraftwerksgelände verlassen müsste und das Betriebspersonal dann wieder ohne Druck der Besatzung unter normalen Umständen arbeiten kann. Im Tenor liest sich der Bericht wie eine Generalkritik an der russischen Besetzung des AKW.

    Zwei Mitarbeiter der IAEO sollen dauerhaft am Standort Saporishshja bleiben. Ihr Einfluss auf die derzeitige Lage und auf das Geschehen auf dem und um das Anlagen-Gelände dürfte begrenzt sein. Trotzdem bringt ihre Anwesenheit einen Vorteil: Nun sind Experten vor Ort, die die Lage fachlich einschätzen und vor allem Öffentlichkeit herstellen können. 

    Die Daten und Angaben, die die IAEO bei ihrer Mission sammelt, könnten in der Zukunft zudem in Ermittlungen8 und eventuellen Gerichtsverfahren genutzt werden, sollte es zum Beispiel zu Verhandlungen von Kriegsverbrechen  vor dem Internationalen Strafgerichtshof kommen. Im Vordergrund der IAEO-Mission steht allerdings die Sicherung der Anlagen vor möglichen kerntechnischen Unfällen. 

    Dr. Anne Dienelt, maître en droit (Aix-en-Provence)
    Institut für Internationale Angelegenheiten, Universität Hamburg

    Sebastian Stransky
    Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit


    Russland führt Krieg gegen die Ukraine. dekoder stellt die wichtigsten Fragen und Antworten zusammen. Gemeinsam mit Forscherinnen und Forschern geht es in diesem FAQ darum, fakten- und wissenschaftsbasiert zu erklären und einzuordnen, was man zu Putins Angriffskrieg auf die Ukraine wissen muss.

    Stellen Sie uns gern auch Ihre Fragen – per Email unter dekoder-lab@dekoder.org. Wir werden versuchen, mit Expertinnen und Experten aus europäischen Universitäten Antworten darauf zu finden.

    Diese Reihe entsteht in Kooperation mit dem Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin und wird von der Alfred-Toepfer-Stiftung F.V.S. unterstützt.

    Fußnoten

    Das fünfte Kernkraftwerk, Tschernobyl, ist inaktiv. Es ist geplant, den Standort Tschernobyl inklusive des havarierten Blocks 4 bis 2065 zurückzubauen. Auch dort war das Gebiet rund um das AKW zu Beginn des Kriegs durch russische Truppen besetzt worden. Erst Ende März zogen die Truppen ab, als Russland seine Truppen auch aus anderen Teilen der Ukraine zurückzog, um sie für einen größeren Vorstoß im Donbass zu konzentrieren. vgl. https://www.iaea.org/newscenter/pressreleases/update-59-iaea-director-general-statement-on-situation-in-ukraine

    Die Beschüsse rund um das AKW und auf das Gelände des AKW lassen sich deshalb schwer verifizieren, weil die Lagebeurteilung nicht vor Ort erfolgen kann. Selbst die IAEO-Mission – die ersten unabhängigen Beobachter seit Kriegsbeginn –, die Anfang September vor Ort war, konnte nur die Schäden beurteilen – nicht aber, wer auf wen schießt. Zum Teil hilft Software zur Ortung von Stellungen und zur Verfolgung von Flugbahnen und der Bilder zur Beurteilung von Einschlagswinkeln, außerdem Augenzeugenberichte, Fallrekonstruktionen oder konkrete militärische Angaben. Doch das ergibt meist nur für einzelne Aktionen ein Bild, nicht im Gesamtkomplex.

    Beispielsweise dieser Vorfall legt sehr deutlich nahe, dass es auch selbst-inszenierten Beschuss der russischen Seite gibt: Business Insider: Video shows Russian official trying to convince nuclear inspectors a rocket turned 180 degrees before landing near Ukraine’s nuclear plant.

    vgl. Mitteilung des ukrainischen Militärgeheimdienstes GUR vom 22. Juli 2022: Ukrajinski wiiskowi juwelirno widprazjuwaly po posyzijach rossiiskych okupantiw bilja Saporiskoji AES

    Die IAEO-Mission vom 28. August bis 5. September enthält im Abschlussbericht dazu eine entsprechende Auflistung, in der unter anderem der Umgang mit dem ukrainischen Personal als auch der anhaltende Beschuss angeprangert wird.

    Auch die Ukraine trifft eine Pflicht zum Schutz der eigenen Zivilbevölkerung (nach Art. 58 Abs. 3 des 1. Zusatzprotokolls der Genfer Konventionen). Dieser Schutzpflicht kommt sie nach, indem nun auch der letzter Reaktor in Saporischschja heruntergefahren wurde, vgl. voelkerrechtsblog.org: Wie sind Atomkraftwerke im Krieg durch das Recht geschützt?

    Ermittlungen laufen bereits wegen anderer in diesem Krieg verübter Kriegsverbrechen, die von verschiedenen Seiten zur Anzeige gebracht wurden, vgl. https://www.icc-cpi.int/ukraine