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FAQ #10: Zerbombte Kirchen, geplünderte Archive: Warum? Was kann man retten – und wie?

Seit gut einem Jahr führt Russland Krieg gegen die Ukraine. Das bedeutet auch den (zum Teil unwiederbringlichen) Verlust kultureller Güter. Museen wurden in Mitleidenschaft gezogen, Bibliotheken zerstört, ukrainische Kunstschätze geraubt.
Warum auch Kulturgüter zu den Zielen der russischen Angriffe gehören und wie schwer die Schäden wiegen, das beleuchtet das aktuelle FAQ #10.

    Was genau in der Ukraine seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges zerstört wurde, ist von Seiten des ukrainischen Kulturministeriums erfasst und wird auf einer Internetseite aktuell gehalten. Auch die UNESCO führt entsprechende Verzeichnisse.

    Da die Kriegshandlungen in einzelnen Regionen unterschiedlich starke Ausmaße haben, sind auch die Zerstörungen nicht pauschal oder flächendeckend zu beziffern. Besonders umkämpfte Gebiete, wie beispielsweise der Südosten oder der Großraum Kyjiw, sind schwerer betroffen. In stark zerstörten Städten wie Mariupol und Charkiw sind Kulturgüter (insbesondere in der Bausubstanz) zusammen mit Wohngebäuden und ziviler Infrastruktur zerstört worden; aber auch in kleineren, umkämpften Städten wie Isjum gab es Verluste an Kulturgut.

    Es handelt sich um hunderte Museen, Bibliotheken, Archive, Theater, Kirchen, historische Gebäude, Schulen, Universitäten, Denkmäler, Friedhöfe und andere Orte der Erinnerungskultur. Neben den zerstörten (meist auch historischen) Gebäuden sind auch die Bestände und Sammlungen in diesen als extreme Verluste einzustufen. Hinzu kommen Verluste des immateriellen Kulturerbes, deren Umfang sich kaum in Geld messen lässt.

    Der Historiker Bert Hoppe hat dabei zahlreiche Beispiele für eine gezielte Vernichtung von ukrainischem Kulturgut gesammelt:
    Im Gebiet Charkiw wurde das Hryhorij‐Skoworoda‐Literaturmuseum zerstört – Skoworoda war der bekannteste frühneuzeitliche ukrainische Philosoph.
    Nahe Butscha ging das Archiv der Tschornowol‐Stiftung in Flammen auf – dieser Zerstörungsakt traf die historische Erinnerung an ukrainische Dissidenten unter sowjetischer Herrschaft.
    In Tschernihiw wurde das Regionalarchiv des Geheimdienstes SBU mit historischen Beständen des NKWD und KGB zerstört.

    Auch bei anderen, mutwilligen Zerstörungen wird vermutet, dass beim Vordringen der russischen Truppen explizit die materiellen und ideellen Ankerpunkte des ukrainischen historischen und kulturellen Gedächtnisses angegriffen wurden. Das betrifft alle historischen Epochen von der mittelalterlichen Kyjiwer Rus und den Kulturen der Steppenvölker bis zur Sowjetmoderne. Schulen, Denkmäler, Theater, Literatur, Museen wurden als Symbole ukrainischer Kultur angegriffen. Ukrainische Fach- und Schulbuchliteratur wird gezielt aus Bibliotheken und Schulhäusern entfernt, und es gibt zahlreiche Belege über Verbrennung oder Makulierung von Literatur.

    Anna Veronika Wendland
    Herder-Institut

    Heidi Hein-Kircher
    Herder-Institut

    Zunächst: Prinzipiell ist es schwierig zu bewerten, in welchen Fällen Zerstörungen von Kulturgut  gezielt erfolgten oder als Schaden flächendeckender Bombardierung oder Artilleriebeschusses zu bewerten sind. Abgesehen davon, dass die russische Seite einen Angriffskrieg führt und daher solche Schäden genauso wie den Tod von Zivilisten billigend in Kauf nimmt, gibt es jedoch zahlreiche Hinweise auf eine gezielte Vernichtung.

    Um zu verstehen, warum Kulturgüter in der Ukraine zerstört werden, muss man die Einstellung der Machthaber im Kreml gegenüber der ukrainischen Kultur und Geschichte berücksichtigen. So wird der seit 2014 auch mit militärischen Mitteln geführte russländisch-ukrainische Konflikt nicht zuletzt auch in der Geschichtspolitik  ausgetragen. Die russische Führung maßt sich dabei an, selbst zu definieren, was an den Äußerungen und Darstellungen der ukrainischen Kultur angeblich „nationalistisch“ oder gar „faschistisch“ ist, und definiert im Grunde jedes Beharren auf ukrainische Eigenständigkeit als solches.

    Solche Behauptungen dürften die Hemmschwelle für die gezielte Vernichtung beispielsweise ukrainischer Literatur oder Denkmäler massiv herabsetzen. Prinzipiell ist daher davon auszugehen, dass es keiner verschriftlichten und in Politiker‐Reden niedergelegten Vernichtungsprogrammatik, gar ausformulierter Befehle an die Armee bedarf, um diesen Effekt bei den Besatzungstruppen zu erzielen. Die seit Jahren beobachtbare russische Hasspropaganda gegen alles Ukrainische schafft vielmehr den Rechtfertigungs‐ und Ermöglichungsraum, in dem die Zerstörungsakte geschehen können.1

    Das Völkerrecht verbietet solche vorsätzlichen Angriffe auf künstlerische, historische und religiöse Gebäude, festgehalten ist dies im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs. Übergriffe auf das materielle und immaterielle Erbe können Beweise für genozidale Absichten sein. Zu solchen Übergriffen zählen etwa der rechtswidrige Abtransport von Archiven und Kunstwerken, die Zerstörung von Büchern, rechtswidrige archäologische Erkundungen sowie die Änderung von Schullehrplänen und kuratorischen Narrativen in Museen.

    Anna Veronika Wendland
    Herder-Institut

    Heidi Hein-Kircher
    Herder-Institut

    Kateryna Busol
    Nationalen Universität Kyjiw-Mohyla-Akademie

    Grundsätzlich ist es nur im Zusammenspiel von ukrainischen und ausländischen Institutionen und Personen möglich, Kulturgüter zu retten.

    Folgende Punkte sind dabei entscheidend:
    Erstens ist ein unabhängiges, schnelles und von lähmender Bürokratie befreites Handeln extrem wichtig – deswegen sollten die Beteiligten möglichst nicht in Regierungsorganisationen (etwa Ministerien) eingebunden sein.
    Zweitens braucht es einen engen Kontakt zu den Mitarbeitern der ukrainischen Museen, Archive und Bibliotheken, um die Hilfsmaßnahmen bei der Rettung von Kulturgütern bedarfsgerecht abzustimmen.
    Drittens bedarf es einer professionellen Logistik mit versierten Speditionsfirmen und einem Netz von ukrainischen Transportfirmen sowie guter Kontakte zur OSZE. Nur so können wichtige Materialien, Geräte und Werkzeuge innerhalb kurzer Zeit über die ukrainische Grenze und ohne Verluste zu den ukrainischen Kultureinrichtungen gebracht werden.
    Und schließlich viertens, muss ein Netzwerk von ukrainischen Vertrauenspersonen dafür sorgen, dass die Lieferungen tatsächlich die dafür bestimmten Kultureinrichtungen erreichen und nicht zweckentfremdet werden.

    Nur unter diesen Voraussetzungen konnte etwa auch das im Frühjahr 2022 zunächst als Privatinitiative gegründete Netzwerk Kulturgutschutz Ukraine / Ukraine Art Aid Center (UAAC) seine umfassenden Hilfsmaßnahmen realisieren . Zwischen März und Dezember 2022 wurden darüber insgesamt 30 Groß-LKW-, drei Bus- und drei DB-Container-Ladungen mit mindestens 1.500 Paletten und knapp 250 Tonnen Hilfsgütern zu rund 500 Kultureinrichtungen in der Ukraine transportiert, damit deren Sammlungsbestände dokumentiert, verpackt und gesichert werden konnten.2

    Eine Evakuierung ins Ausland ist aus gesetzlichen Gründen nicht möglich. Also mussten die Objekte vor Ort in Bunkern, Kellern oder Bergstollen verwahrt werden – darunter etwa auch die äußerst wertvollen Bestände des Andrej Sheptytsky-Nationalmuseums in Lwiw zur mittelalterlichen Kunst der Ukraine, die Kulturschätze des berühmten Höhlenklosters in Kyjiw, die in der Ukraine bedeutendste internationale Kunstsammlung des Khanenko-Museums in Kyjiw, die Bestände des Archäologischen und des Naturwissenschaftlichen Museums an der Nationalen Karasin-Universität in Charkiw sowie die Sammlungsobjekte des Museums für Westliche und Östliche Kunst in Odessa.3
    Andere internationale Initiativen wie SUCHO (Saving Ukrainian Cultural Heritage Online), die ebenfalls von ehrenamtlichen Helfern getragen und von zahlreichen internationalen Kulturinstitutionen unterstützt wird, digitalisieren Museumsbestände. Eigenen Angaben zufolge hat SUCHO bislang 5000 Websites und 50 TB an Daten ukrainischer Kultureinrichtungen archiviert – alles Daten, die von einer eigenständigen Geschichte der Ukraine erzählen und daher gefährdet sind.
    Auch einzelne staatliche Kultur- und Forschungseinrichtungen haben so schnell wie möglich Hilfe geleistet, das Bundesarchiv zum Beispiel sandte notwendige Ausrüstung wie Scanner an einzelne ukrainische Archive, während das Deutsche Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte Marburg kriegsbedrohte Bauwerke fotografisch dokumentierte.

    Vor Ort sind es die Mitarbeiter der einzelnen ukrainischen Institutionen, aber auch zahlreiche Freiwillige, die in oft stundenlanger mühevoller Arbeit Artefakte verpacken, umlagern, Akten einscannen, Daten sichern und alles tun, um das kulturelle Erbe der Ukraine zu schützen.
    Vor allem in den vom Krieg besonders stark betroffenen östlichen und nördlichen Gebieten der Ukraine (zum Beispiel bei Charkiw und Donezk) jedoch können die ukrainischen Museumsmitarbeiter ihre Einrichtungen oftmals gar nicht oder nur unter großer Lebensgefahr schützen. Viele Kultureinrichtungen verlieren auch Mitarbeiter, da oftmals nur noch fünfzig Prozent der Monatsgehälter ausgezahlt werden können.

    Matthias Müller
    Johannes Gutenberg-Universität Mainz

    Dies hängt mit der Geschichtspolitik und Aufarbeitung der Vergangenheit zusammen: Der offene Umgang der Ukraine mit den Archiven des KGB und seiner Vorgänger ist für die Führung Russlands, die die Deutungshoheit auch über diesen Aspekt der Geschichte für sich beansprucht, ein Dorn im Auge.4

    Dazu muss man wissen: Seit den frühen 2010er Jahren wurden in der Ukraine die Archive ehemaliger sowjetischer Geheim- und Sicherheitsdienste Schritt für Schritt geöffnet, immer mehr Dokumente daraus wurden in die Wissenschaft einbezogen und in Umlauf gebracht. Im Frühjahr 2015 beschloss das ukrainische Parlament zudem eine Reihe von Gesetzen (später als Dekommunisierungsgesetze bekannt), die unter anderem die ehemaligen KGB-Archive im Lande für die Forschung geöffnet haben. Aller Kritik an dem Gesetzespaket  zum Trotz hat die Fachcommunity von der Öffnung der Archive stark profitiert – gerade weil diese in Russland größtenteils unter Verschluss bleiben. So bekam die ukrainische und westliche Geschichtsforschung viele starke Impulse, vor allem in Bezug auf die Geschichte des Stalinismus und des Zweiten Weltkrieges.

    Russland jedoch brachte bereits 2014 lokale Archive des ehemaligen KGB in Donezk und Luhansk unter seine Kontrolle. Diese Archive wie auch das einstige KGB-Archiv auf der annektierten Halbinsel Krim bleiben seitdem für die Forschung verschlossen, einigen Angaben zufolge wurden die Archivbestände aus Donezk und Luhansk nach Russland abtransportiert.

    Im April 2022 wurde durch russische Angriffe das Behördenarchiv des Ukrainischen Sicherheitsdienstes (SBU) in Tschernihiw vollständig zerstört. Das Schicksal des ehemaligen KGB-Archivs in Cherson ist nach monatelanger Besatzung der Stadt genauso ungewiss, wie das genaue Ausmaß der Zerstörungen und Verluste seiner Bestände.

    Dmytro Myeshkov
    Nordost-Institut
    , Lüneburg

    Die Plünderung ukrainischer Museumsbestände durch russische Truppen setzte schon kurz nach Kriegsbeginn ein. Der erste dokumentierte Fall war der Raubzug durch das historische Museum und Architekturdenkmal „Gutshaus Popow“ in Wassyliwka (Oblast Saporishshja): Im März 2022 wurde das Museum von der russischen Armee mit Artillerie beschossen und das Stallgebäude beschädigt. Fünf Tage darauf traf ein Trupp russischer Soldaten mit einem Lastwagen ein. Sie brachen Türen und Fenster auf und plünderten die Sammlung und die Büros des Museums. Handelte es sich im Fall des Gutshauses noch um einen Willkürakt, so folgten bald darauf organisierte Abtransporte  von Museumsbeständen aus den von Russland besetzten Gebieten.
    Dies wurde zuerst in Mariupol dokumentiert: In der durch Raketenbeschuss fast ausgelöschten Stadt in der Oblast Donezk wurde am 21. März 2022 das Gebäude des Kujindshi-Kunstmuseums bei einem russischen Luftangriff zerstört. Ein Teil der Sammlung fiel den Flammen zum Opfer. Auch das Museum für Regionalgeschichte in Mariupol trug schwere Gebäudeschäden davon, und ein erheblicher Teil seiner Sammlung wurde zerstört. Die verbliebenen Exponate beider Museen wurden von russischen Besatzern konfisziert und fortgeschafft. Russischen Medienberichten zufolge, die sich allerdings nicht verifizieren lassen, sind sie nach Donezk gebracht worden.
    In Melitopol haben russische Besatzer eine bedeutende Sammlung skythischer Goldobjekte aus dem Museum für Heimatkunde entwendet.5 Wann genau die Besatzer das Skythengold beschlagnahmt und wohin sie es transportiert haben, ist nicht bekannt.
    Als Vorwand diente in beiden Fällen die angebliche Rettung der Sammlungen.

    Nach der Annexion  der Regionen Donezk, Cherson, Luhansk und Saporishshja durch Russland am 30. September 2022 verschärfte sich die Situation: Weitere Abtransporte von Sammlungen konnten jetzt unter dem Anschein der Legalität erfolgen.

    Die bisher schwerwiegendste Museumsplünderung durch russische Besatzer gab es in den Chersoner Museen. Cherson ist die einzige Regionshauptstadt, die von russischen Truppen besetzt war. Sie beherbergt wichtige Museen: das regionale Olexij-Schowkunenko-Kunstmuseum  und das Museum für Regionalgeschichte  sowie das Staatliche Archiv des Chersoner Gebiets, in dem über 800.000 Aktenbände aus der Zeit seit dem frühen 18. Jahrhundert aufbewahrt werden. Vor der Befreiung der Stadt durch die ukrainischen Streitkräfte im November 2022 begannen die Russen, die Sammlungen unter chaotischen Bedingungen mit Lastwagen und sogar Bussen auf die Krim zu verfrachten. Sie wurden im Chersones-Museum in Sewastopol deponiert. Nach Angaben der ukrainischen Behörden haben die russischen Besatzer mehr als 15.000 Objekte fortgeschafft. Nach den ersten Einschätzungen der Staatlichen Archivverwaltung der Ukraine wurden von den Besatzern bis zu 50 Prozent der Archivbestände, in erster Linie besonders wertvolle Überlieferungen aus dem 18. und 19. Jahrhundert, aus dem Gebietsarchiv abtransportiert.

    Konstantin Akinsha

    Die Zerstörung von Kulturgütern ist für die Ukrainer:innen eine von vielen Formen der Gewalterfahrung durch Russland, die ihnen gegenüber Geringschätzung, Gleichgültigkeit und Missachtung ausdrückt, und zwar ihnen gegenüber als Schöpfer und Wertschätzer kultureller Werke. Da die Zerstörung willkürlich gegen unterschiedliche Kulturgüter gerichtet ist, vergemeinschaftet diese Gewalterfahrungen die Ukrainer:innen eben genau in diesem allgemeinen Sinn. Da Kultur zum Menschen gehört, handelt es sich um eine totale Erfahrung der Geringschätzung, die auch ein Wiederaufbau von Kultureinrichtungen wie Kirchen, Bibliotheken oder Theater durch Russland, in welcher Form auch immer, nicht vergessen lassen kann.

    Ukrainische Identifizierung (um den Begriff der ukrainischen Identität zu vermeiden) erhält hier also von außen eine Zuschreibung von Geringschätzung, die traumatisch wirken kann. Sie kann aber auch zu neuer Identifikation in Form von kultureller Resistenz gegenüber dieser Geringschätzung führen.
    Diese gemeinschaftsstiftende Zerstörungserfahrung wirkt gleichzeitig auch fragmentierend. Denn Ukrainerinnen und Ukrainer erfahren unterschiedliche Grade der Zerstörung von Kulturgut: etwa in den von Russland besetzten Gebieten im Osten und Süden der Ukraine, in den bombardierten Gebieten in Frontnähe oder in Reichweite russischer Bombardierung und in den nicht oder kaum von Bombardierung betroffenen Gebieten im Westen der Ukraine.
    Fragmentierungen sind auch biographisch bedingt und drücken sich in unterschiedlicher emotionaler Nähe zu Orten oder Regionen beziehungsweise zu bestimmten Kulturgütern aus. Doch eine neue Aufmerksamkeit gegenüber den erhaltenen und zerstörten Kulturgütern sowohl in den besetzten als auch den nicht besetzten Gebieten, die medial gestützt und ortsunabhängig ist, ermöglicht wiederum eine neue Form von gemeinschaftsstiftendem und nationalisiertem Wissen und Bewusstsein.

    Die Zerstörungserfahrung verstärkt darüber hinaus Abgrenzungen und neue kulturelle Vergemeinschaftungen. Letztere sichern mehr als in der Vergangenheit die Existenz der Ukraine als kulturelle Gemeinschaft.
    In einer historischen Perspektive bewirkt die aktuelle Erfahrung, dass Missachtungen ukrainischer Kultur durch Russland in der Vergangenheit, zum Beispiel der ukrainischen Sprache im 19. und 20. Jahrhundert, als imperiale oder koloniale Politiken gedeutet werden. Es wird angesichts historischer kultureller Verflechtungen in der Ukraine und jenseits der Ukraine weiterhin ein Interesse geben, den gegenwärtigen zivilisatorischen Rückfall Russlands zu erklären.
    Die Ukraine ist gleichzeitig weniger als in der Vergangenheit kulturell isoliert, sondern europäisch und global vergemeinschaftet und rechtlich geschützt.

    Guido Hausmann
    Universität Regensburg

    Eine vollständige Bilanz der ukrainischen Kulturgutverluste wird erst nach Ende des Krieges möglich sein. Erst dann lassen sich womöglich auch Muster erkennen – und noch offene Fragen beantworten:
    Wie stark werden manche Städte und Orte ihren ursprünglichen Charakter verlieren, weil die historischen Zentren so gelitten haben, dass kostengünstige Neubauten an die Stelle von Altbauten treten?
    Kann es passieren, dass aus ukrainischen Museen gestohlene Werke in Ausstellungen in Russland oder auf Kunstauktionen im Westen auftauchen?
    Wird der Status „Weltkulturerbe“ weiterhin dazu beitragen, dass bedeutende Ensembles, wie die Sophienkathedrale und das Höhlenkloster in Kyjiw nicht unmittelbar beschossen werden, die historische Altstadt von Lwiw erhalten bleibt und kunstvolle Holzkirchen aus dem 16. bis 19. Jahrhundert nicht in Flammen aufgehen?

    Zahlen allein jedenfalls sagen wenig aus, weil sie weder die Bedeutung einer Stätte ausdrücken noch den Umfang des Schadens berücksichtigen. Am Ende eines Krieges in Geldsummen zu beziffern, wie hoch die Restaurierungskosten von Gebäuden ausfallen oder wie groß der Verlust von Sammlungen ist, fällt schwer. Entsprechend schwierig ist es, die Höhe von Reparationsforderungen zu bestimmen.

    Die systematisch gesammelten Fotografien der zerstörten Gebäude kulturellen Werts können in einem künftigen Tribunal gegen Russland als Beweismittel dienen. Doch ob dies jemals eintritt, ist ungewiss, und je länger der Krieg dauert, desto größer fallen die kulturellen Verluste aus. Dabei sind nicht nur die Kulturstätten gefährdet, die sich in unmittelbarem Frontgebiet befinden oder unter Beschuss geraten. Krieg stellt in vielerlei Hinsicht eine Gefahr für das kulturelle Erbe dar:

    • Bereits beschädigte Bauten können nicht gesichert oder repariert werden und sind schließlich nicht mehr zu retten;
    • Sammlungsbestände in Museen, Bibliotheken und Archiven nehmen Schaden, wenn ihre Aufbewahrung durch zerbombte Energie-Infrastruktur oder provisorische Umlagerungen unzulänglich ist. Es besteht die Gefahr von Wasserschäden und Bränden;
    • Auslagerungen können zu Transportschäden, Verlusten oder Teilung von Sammlungszusammenhängen führen;
    • Plünderungen von Kunstgegenständen erfolgen durch Besatzungstruppen, Diebstahl, aber auch spontan (etwa durch einheimische Marodeure) oder gezielt (etwa durch Kunsträuber in Situationen, in denen Sicherheitssysteme ausfallen).

    Häufig wird zerstörtes Kulturgut wohl nur mit Hilfe von bewahrten Dokumentationen in unbeschädigten Beständen (Bauplänen, Fotografien und andere bildliche Darstellungen) rekonstruiert werden können – wenn überhaupt. Manches wird sich vielleicht auch nur im virtuellen Raum wiederaufbauen lassen, auch dazu benötigt es Vorlagen und Archivmaterial.6

    Prinzipiell werden alle Institutionen, die kulturgutrelevante Bestände über die Ukraine bewahren, konservieren, digitalisieren und weltweit online zugänglich machen, bei einem Wiederaufbau der Ukraine gefragt sein.7

    Corinna Kuhr-Korolev
    Zentrum für zeithistorische Forschungen, Potsdam

    Anna Veronika Wendland
    Herder-Institut

    Heidi Hein-Kircher
    Herder-Institut

    Fußnoten

    Die deutsch-ukrainische Historikerkommission veröffentlichte im April 2022 einen offenen Brief, in dem ihre Mitglieder die Politik Russlands aufs Schärfste verurteilen und vor den katastrophalen Folgen für das historische und kulturelle Erbe der Ukraine warnen: „Hinter der Vernichtung von Archivbeständen und ukrainischen Geschichtsbüchern steht eine russische Politik, die ihren Anspruch einer Deutungshoheit über die Geschichte der Ukraine gewaltsam durchzusetzen versucht.“

    Zu den gelieferten Hilfsgütern gehören Verpackungsmaterialien (Folien, Holz- und Alukisten, Kartonagen, Spezialpapier etc.), Feuerschutzgeräte, feuerfeste Archivschränke, Klimageräte, OSB-Platten, Werkzeug, Arbeitskleidung, Power-Banks, elektronische Geräte für die Dokumentation (PCs, Scanner, Kameras), Generatoren etc.

    Die Opernhäuser von Odessa und Lwiw konnten durch UAAC zudem mit großen Generatoren ausgerüstet werden, die es diesen Häusern erlauben, trotz Stromausfällen den Spielbetrieb aufrecht zu erhalten – was für die Moral der Bevölkerung überaus wichtig ist. Als das russische Militär ab Mitte Oktober 2022 damit begann, gezielte Angriffe auf Infrastruktureinrichtungen auszuführen, erforderten die damit verbundenen Kollateralschäden umgehend die Notsicherung der beschädigten kulturellen Einrichtungen und Kulturdenkmäler und ihrer digitalen Datenbestände.

    In einer Fernsehansprache am 21. Februar 2022 ging Wladimir Putin auch auf die ukrainische Geschichtspolitik ein und legte dabei nahe, dass eine Dekommunisierung nicht im Bruch mit der totalitären Vergangenheit bestünde, sondern in der Vernichtung der Ukraine als eines künstlichen Gebildes der frühen Sowjetzeit.

    Die Museumsleitung hatte die Sammlung am Vorabend der Besatzung der Stadt versteckt. Am 10. März 2022 nahmen Russen die Museumsdirektorin Leila Ibragimova fest. Ein Museumsmitarbeiter teilte den Besatzern jedoch mit, wo das versteckte Gold zu finden war. Sie beschlagnahmten es und schafften es aus Melitopol fort. Darüber hinaus beschuldigten sie Ibragimova und andere Angestellte des Museums, sie hätten skythische Objekte stehlen und in „einen EU-Staat“ überführen wollen. Eine ausführliche Darstellung des Falls findet sich hier.

    Das Herder‐Institut für historische Ostmitteleuropaforschung war und ist bis heute mit seinen Sammlungen (Bildarchiv, Forschungsbibliothek, Kartensammlung, klassisches Archiv) verschiedentlich an Rekonstruktionsverfahren für im Zweiten Weltkrieg zerstörtes Kulturgut und zerstreute Museumssammlungen beteiligt. Dank seiner Luftbildsammlungen, Kopien und Originalen von Archivgut, historischer Architektur‐ und Kunstfotografie konnten beispielsweise historische Gebäude restauriert und Baudenkmäler virtuell rekonstruiert werden. Ein Beispiel sind die virtuellen Rekonstruktionen vernichteter ostpreußischer Schlösser.

    Seit Beginn des Krieges hat es in der Ukraine mit Partnern im Ausland entsprechende Initiativen gegeben, das digitale Kulturgut beziehungsweise die digitale Kulturerbedokumentation zu sichern. Hierzu gehört etwa das stadtgeschichtlich ausgerichtete Center for Urban History in Lwiw.