Wir müssen die Schuldigen benennen – ohne die eigene Verantwortung zu vergessen
Es ist zu leicht, alle Schuld auf Putin und seine Beamten abzuwälzen: Auch die russische Gesellschaft muss sich unbequeme Fragen stellen, meint Maxim Trudoljubow auf Meduza.
Ich wette mit Ihnen, Sie werden immer irgendwelche äußeren Kräfte finden, die angeblich Ihr Leben bestimmen. Sie werden immer dem Schicksal, der Geschichte oder Putin die Schuld an Ihren Misserfolgen geben können. In der Psychologie nennt man das „externale Kontrollüberzeugung” (external locus of control). Wenn die russischen Machthaber ihre politischen Entscheidungen rechtfertigen, darunter die ungeheuerlichste von allen – die Invasion in der Ukraine , dann legen sie immer diese Denkweise an den Tag. Ihrer Version zufolge „mussten sie auf äußere Umstände reagieren“ – auf die Erweiterung der NATO oder auf die Annäherung der ukrainischen Gesellschaft an den Westen. „Sie haben uns einfach keine andere Wahl gelassen, um Russland zu schützen“, sagte Putin, als er der Ukraine den Krieg erklärte.
Auch die Vertreter der demokratischen Opposition folgen manchmal der Logik der externalen Kontrollüberzeugung. In ihrer Vorstellung hatten es die Reformer der 1990er Jahre mit einer trägen, vom Staat abhängigen Gesellschaft zu tun, die nicht zu einer verantwortungsvollen Wahl bereit war. Echte demokratische Reformen seien gescheitert, weil die große Masse – Träger des sowjetischen Bewusstseins – die Fürsorge des Staates brauche und nicht für sich selbst sorgen könne. So würden Russlands Bahnen nun mal verlaufen – auf Schienen, die von einer jahrhundertelangen Geschichte vorgegeben sind. Auch heute liege die massenhafte Unterstützung des Kriegs in Russland daran, dass die Gesellschaft durch die Propaganda vergiftet und zum selbständigen Denken nicht fähig sei. Das ist, genau wie bei Putin, die Logik der externalen Kontrollüberzeugung.
Es ist jedoch auch möglich, eine Sichtweise anzunehmen, in der Sie selbst Ihr Schicksal in der Hand haben. In diesem Fall ist Ihre Kontrollüberzeugung internal (internal locus of control). Die äußeren Faktoren sind natürlich immer noch da, aber Sie betrachten Ihre eigenen Schritte als Hauptgrund dafür, dass Sie dort stehen, wo Sie stehen. Die russische Gesellschaft hatte eine Chance, die Korruption entschieden abzulehnen. Die Gesellschaft hätte sich gegen Wahlfälschungen auflehnen können, hätte kompetente und anständige Anführer wählen können – so klingt das in der Logik der internalen Kontrollüberzeugung. In seinem Brief folgt Nawalny dieser Logik und nimmt sich selbst nicht von der Zahl jener aus, denen er die aktuelle Katastrophe vorwirft.
Nawalny verweist nicht auf die abgestumpfte Bevölkerung, wälzt nicht alles auf Putin und die Geheimdienste ab. Er hängt auch nicht der verbreiteten Meinung an, dass am Scheitern der Transformation auch der Westen Schuld sei, der sich als Sieger im Kalten Krieg fühlte und die junge russische Demokratie nicht ausreichend unterstützte, etwa mit internationalen Investitionsprogrammen. Nawalny vertritt die Meinung, dass die Gründe für den heutigen Zustand Russlands allein in den Handlungen der russischen Politiker der 1990er und 2000er Jahre zu finden sind – und in der Haltung der Gesellschaft.
Die Entstehung der Technokratie
Der Grundstein für das heutige Regime wurde lange vor den heutigen Ereignissen gelegt. Im Vorwort zu seinem Buch Das autoritäre Russland. Flucht vor der Freiheit oder: Warum sich Demokratie bei uns nicht durchsetzt beschreibt der Politikwissenschaftler Wladimir Gelman, wie Anatoli Sobtschak sich das zukünftige politische System vorstellte. Sobtschak habe damals den jungen politischen Aktivisten Gelman zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen, in dem er ihm seine Vision kommunaler Politik darlegte:
„Wir haben sehr viele Stadträte, die laut und schlecht organisiert sind: Sie sollen vor allem in den Bezirken arbeiten, Sprechstunden halten und sich die Beschwerden der Bevölkerung anhören. Wir haben ein städtisches Exekutivkomitee, das sich mit der kommunalen Wirtschaft, mit Straßenbau, Begrünung und Wasserversorgung befassen soll, und sonst nichts. Und ich werde mithilfe meines Apparats (eindringlicher Blick zu mir) die Stadtpolitik betreiben … Wir sind jetzt an der Macht, also herrscht Demokratie .“
Dieses Gespräch fand 1990 statt, als es ein echtes politisches Leben gab, ein relativ freies noch dazu. Aber „Putins Lehrer“ – und das war natürlich nicht nur Sobtschak – pflegten schon damals eine überhebliche Einstellung zur Gesetzgebung, zu den Medien und zu zivilgesellschaftlichen Organisationen, die ihnen nur lästig waren und sie bei der Arbeit störten.
„Demokratie“ wurde von Anfang an nur als Dekoration gedacht – natürlich nicht für Korruption, das durfte man nicht laut sagen, sondern um maximal komfortable Bedingungen für Leute zu schaffen, die (wie sie selber glaubten) wussten, wie das Land zu regieren sei.
Gesetze, Medien, Unternehmertum und Zivilgesellschaft wurden von der – alles andere als konservativ eingestellten – herrschenden Elite als Instrumente jener aufgefasst, die wissen, was wie zu tun ist. Die Begründer des in Russland etablierten politischen Systems betrachteten es zu Beginn nicht als Autokratie, sondern als Expertenregierung, als Technokratie.
Die Degeneration der Technokratie
Das heutige Russland zeigt anschaulich, wohin diese Logik führt. Die Reformer der „demokratischen“ Welle sorgten erst mal dafür, dass sie freie Bahn für wohlüberlegte Umgestaltungen hatten. Am Ende finden sie sich nun als Teil einer Regierung wieder, die einen blutigen Krieg führt, „ausländische Agenten“ und „Extremisten“ verfolgt und gegen Unschuldige Haftstrafen wie unter Stalin verhängt. Von den meisten dieser Leute haben wir weder Protest noch eine moralische Verurteilung dieser Ereignisse gehört. Wahrscheinlich, weil sich für sie nichts geändert hat. Die wichtigste Eigenschaft des politischen Systems in Russland ist die Abwesenheit von Rechenschaftspflicht und moralischer Bewertung geworden. Hauptsache, alles funktioniert, aber was genau der Staat macht – ob er sozial Schwache unterstützt oder im Nachbarland massenweise Menschen tötet –, ist egal. Das ist die ideologische Basis. Egal, was der Zweck ist – er heiligt immer die Mittel.
Egal, was der Zweck ist – er heiligt immer die Mittel
In der Öffentlichkeit macht sich eine so formulierte Ideologie nicht gut, weswegen stattdessen permanent konservative Losungen angeboten werden: die Verteidigung von „traditionellen Werten“ und der Souveränität. Das klingt nicht besonders überzeugend, weil es nicht wahr ist. Die handelnden Politiker halten sich für Profis und Manager und nichts weiter. Für sie sieht es aus, als würden sie immer besser werden, weil sie auf immer weniger Widerstand stoßen. Viele der ehemaligen „Demokraten“ sitzen immer noch in diesem degenerierten „Parlament“, im Kreml, in der Regierung und anderen Machtzentralen. Sie sind es, die Nawalny eingesperrt haben und ihm – und anderen politischen Häftlingen – ein Urteil nach dem anderen anhängen.
Was Nawalny verschweigt
Die Technokraten wollen keine Kontrolle vonseiten der „ungebildeten“ Massen. Die Staatsbürger sollen aus ihrer Sicht zwar das Recht auf eigene Entscheidungen in der Wahlkabine haben – aber irgendwann später, wenn sie sie genug darauf „vorbereitet“ haben. Sogar Putin war dafür, bezüglich der Anzahl der Amtszeiten den Zusatz „hintereinander“ aus dem Paragrafen zu streichen, der die Zahl der Amtszeiten des Präsidenten einschränkt – das solle aber bitte erst später in Kraft treten, wenn er ganz sicher nicht mehr im Amt ist. Solange die „Vorbereitung“ nicht abgeschlossen ist, bleibt die Wahlkabine nur Bühnendeko für das, was die Regierenden als ihre „Expertenangelegenheit“ betrachten.
Diese mörderische „Expertentätigkeit“ findet heute in der Ukraine ihre Fortsetzung – auf dem Schlachtfeld und in den besetzten Gebieten. Dass für diese Territorien ausgerechnet Sergej Kirijenko zuständig ist, ein überzeugter Technokrat, ehemaliger Protegé und Mitarbeiter von Boris Nemzow, spricht für sich.
Nawalny erwähnt in seiner Botschaft die Ukraine nicht. Mir persönlich ist das ein Rätsel. Vielleicht liegt das daran, dass die Diskussion über die Verantwortung für den Krieg erst die Politik eines zukünftigen Nachkriegsrussland unmittelbar betreffen wird. Würde er geradeheraus verkünden, dass das „ein Krieg aller Russen“ sei, dann könnte er sich keineswegs darauf verlassen, dass das seinen Mitbürgern und zukünftigen Wählern gefällt. Nach dem Ende des Diktators von „Putins Krieg“ zu sprechen und das Geschehene ihm persönlich vorzuwerfen, wird viel bequemer sein.
Zu den Ursachen des Kriegs und den Schuldigen hat Nawalny sich ja bereits sehr deutlich geäußert: „Präsident Putin hat unter absurden Vorwänden einen ungerechten, aggressiven Krieg gegen die Ukraine angezettelt. Er versucht verzweifelt, diesem Krieg den Status eines ‚Volkskriegs‘ zu verleihen und alle russischen Staatsbürger zu seinen Komplizen zu machen, aber seine Versuche sind zum Scheitern verurteilt.“
Gleichzeitig liefert Nawalny eine nüchterne Einschätzung der Situation, in der Russland sich befindet. Und wenn er damit Recht behält, dass der entscheidende Grund für die russische Katastrophe der moralische Absturz der ganzen Gesellschaft ist (erinnert euch an seine Worte: „Wir bezahlen jetzt dafür, dass wir 1996 dachten, Wahlfälschungen seien nicht immer schlecht“), dann kann man auch nicht die ganze Verantwortung für den Krieg auf Putin und seine Beamten abwälzen, die aus Technokraten zu unmoralischen Handlangern eines Massenmords wurden.