Der Anfang der Geschichte

28.04.2023

Die russische Aggression gegen die Ukraine ist auch eine Folge der autoritären Wende Russlands unter Putin. Wie hat er aber seine sogenannte Machtvertikale überhaupt aufbauen können? War es wirklich ein Bruch mit den 1990er Jahren, die heute vielerorts als eine „Zeit der Freiheit“ gelten? dekoder hat sechs Wissenschaftler gebeten, Essays über dieses Jahrzehnt zu verfassen: über das „Ende der Geschichte“, und deren Anfang.

Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme in Osteuropa haben viele Intellektuelle und Politiker zunächst ein „Ende der Geschichte“ beschworen: Das Ziel sei nah, alle Länder würden nun zwangsläufig zu liberalen und marktwirtschaftlichen Demokratien, eine Ära des Weltfriedens breche an.

Es kam anders: Die Zahl der autoritären Systeme stieg, die Autokratien wurden repressiver, und heute scheinen wir an einer Wegscheide zu stehen, die einige mit den Jahren 1938/39 vergleichen.

Der russische Überfall auf die Ukraine markiert in der Tat eine historische Zäsur, die Aufarbeitung der Katastrophe wird sicherlich noch Jahrzehnte dauern. Doch schon heute ist klar, dass die russische Aggression auch aus der autoritären Regression seit Putins Machtantritt im Jahr 2000 erklärt werden kann.

Schon am Anfang seiner ersten Amtszeit haben staatsnahe russische Medien begonnen, das Bild der „wilden“ und „verfluchten“ 1990er Jahre zu konstruieren. Massenarmut, Oligarchie, Chaos – das alles sei Vergangenheit, das Chaos werde nun durch Stabilität abgelöst. Vor allem durch solche Mythen der 1990er Jahre hat sich das Regime bis etwa 2007 legitimiert, nach Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz ist der Kreml mehr und mehr zur Legitimierung durch Feindbilder übergegangen. Auch diese Ressentiments bemühten die 1990er Jahre: Der Westen, so hieß es, habe nach dem gewonnenen Kalten Krieg eitlen Stolz und Siegesdünkel versprüht – und alles darangesetzt, Russland zu demütigen. Nun „stehe es aber von den Knien auf“, so die Propagandaformel.

Der Kreml zeichnete die 1990er Jahre als eine Zeit der Wirren, viele Kreml-Kritiker dagegen als eine Zeit der Freiheit. Beide Sichtweisen betonen historische Brüche – einerseits zur Sowjetunion, andererseits zum Putinismus. Beide Sichtweisen verkennen damit aber auch mögliche Kontinuitäten.

dekoder hat sechs Wissenschaftler gebeten, diese Kontinuitäten nachzuzeichnen. Dieses Special bündelt ihre Essays über eine tragische Epoche, in der die Geschichte ihren Lauf nahm.

Konzept: Tamina Kutscher
Redaktion: Anton Himmelspach, Mandy Ganske-Zapf, Dmitry Kartsev
Schlussredaktion: Evgeniya Davydova, Alena Schwarz
Content Management: Alena Schwarz
Webdesign und Programmierung: Daniel Marcus

Das Projekt wurde gefördert von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.