Ideologischer Verbündeter

Text: Nikolai MitrokhinÜbersetzung: Hartmut Schröder28.04.2023

Während der gesamten Zeit der sowjetischen Herrschaft hatte die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) unter Verfolgungen und einer Vielzahl von Restriktionen zu leiden. Diese wurden erst am Vorabend der Perestroika etwas gelockert. Zu dieser Zeit wurde die Russisch-Orthodoxe Kirche durch ernste innere Konflikte belastet, die unter dem Schleier ihrer öffentlichen Tätigkeit verborgen waren. Konflikte, die sich bereits in den 1990er Jahren auf die Entwicklung der Kirche auswirken sollten.

Seit Ende der 1960er Jahre hatten sich in der kirchlichen Hierarchie zunehmend Spannungen entwickelt. Eine große Gruppe gemäßigt fortschrittlicher, junger Bischöfe, die in der Abteilung für externe kirchliche Beziehungen des Moskauer Patriachats tätig gewesen waren, stand einer großen Anzahl (hyper-)konservativer, ja fundamentalistisch eingestellter, Bischöfe und Geistlicher gegenüber, insbesondere unter den Mönchen.

Die gemäßigt fortschrittlichen Bischöfe wurden üblicherweise als „Nikodimler“  bezeichnet. Viele hatten in den Hauptstädten der 15 Sowjetrepubliken oder in Leningrad gedient, oder eine Eparchie der Russisch-Orthodoxen Kirche im Ausland geleitet. Sie hielten ihre Opponenten für zu „prokatholisch“, zu liberal und zu loyal gegenüber dem atheistischen Regime. Die Konservativen und Fundamentalisten wiederum fühlten sich zu einer irrationalen, mystischen Orthodoxie hingezogen. Und sie stachen durch einen schlecht verhehlten Antisemitismus und kryptomonarchistische Sympathien hervor. Rückhalt hatten sie in der russischen Provinz sowie im südlichen Belarus und der östlichen Ukraine.

Der zweite Konflikt ergab sich aus dem ersten. Sehr viele Priester und kirchliche Aktivisten hatten kein Vertrauen zu den Bischöfen insgesamt, zumindest jedoch zu den „progressivsten“ von ihnen. Sie waren zwar administrativ den Bischöfen unterstellt, suchten aber eine „geistliche Führung“ bei informellen Autoritäten („Seelsorgern“), bei sogenannten Starzen. Diese konnten sich zwar im Priester- oder Mönchsstand befinden, hatten aber nominell keinen Posten in der kirchlichen Hierarchie inne. Einige von ihnen standen an der Spitze ganzer informeller Bewegungen (die besonders in der Ukraine aktiv waren). Zu diesen Bewegungen gehörten auch einige Bischöfe, Dutzende oder gar hunderte Priester und Mönche sowie tausende Laien. Viele dieser geistlichen Autoritäten kannten sich und koordinierten sich untereinander. Dadurch entstand innerhalb der Kirche praktisch eine Parallelstruktur, die auf echter geistlicher Autorität basierte.

Ein anderer Konflikt betraf die „Ukrainefrage“. Die Ukraine, insbesondere die Westukraine, stellte mindestens 60 Prozent aller Gemeinden der Russisch-Orthodoxen Kirche. Und aus diesen Gemeinden kam die überwiegende Mehrheit der Schulabgänger, die in die Priesterseminare eintraten. In den 1980er Jahren waren die Geistlichen in vielen Eparchien in Russlands Norden und in Sibirien mehrheitlich ukrainischstämmig. Auf gesamtkirchlicher Ebene jedoch war die Ukraine nur durch das Oberhaupt des Ukrainischen Exarchats [Verwaltungsbereichs – dek] – der späteren Ukrainisch-Orthodoxen Kirche (UOK) des Moskauer Patriarchats – und durch einige Bischöfe ukrainischer Herkunft vertreten.

Darüber hinaus unterstützte in Galizien  und zum Teil in Transkarpatien , also in den Regionen mit dem landesweit dichtesten Netz von orthodoxen Gemeinden, ein beträchtlicher Teil der legalen Gemeinden heimlich die Griechisch-Katholische Kirche, die in der UdSSR seit 1946 verboten worden und in den Untergrund gegangen war. Andere Gemeinden waren für die Autokephalie (völlige Selbständigkeit) einer ukrainischen orthodoxen Kirche. Daher wurden viele Haltungen und Gebräuche, die in der Russisch-Orthodoxen Kirche üblich waren, dort in Wirklichkeit nicht ausgeübt. Das Kirchenslawische (vor allem in seiner russischen Aussprache) wurde nicht verwendet, und die Geistlichen und Laien hegten die Hoffnung auf eine Änderung der Lage in einer für sie günstigen Richtung.

Schließlich schwelte ein weiterer großer Konflikt zwischen dem gesamten System der Kirchenhierarchie, die im Großen und Ganzen konservativ und gleichzeitig sehr ängstlich war, und tausenden Menschen mit höherer Bildung, die sich in den großen und Universitätsstädten seit Mitte der 1960er Jahre der Orthodoxie zugewandt hatten. Bei ihnen hatten sich über die Zeit viele Fragen an die Hierarchie ergeben, sowohl hinsichtlich der Haltung gegenüber dem Sowjetregime, als auch wegen der mangelnden theologischen Ausbildung der Geistlichen. Kurz vor der Perestroika gab es auch in diesem „Intelligenzija“-Milieu eine Spaltung, die sich im Folgenden weiter vertiefte. Verfechter einer fundamentalistischen und promonarchistischen Orthodoxie sahen sich jenen gegenüber, die eine Liberalisierung und Modernisierung des kirchlichen Lebens unterstützten .

Zwei Jahre nach Beginn der Perestroika, 1987/88, wurde beschlossen, den tausendsten Jahrestag der Taufe Russlands auf staatlicher Ebene zu würdigen. Das markierte die endgültige Liberalisierung der Religionspolitik. Der Kirche wurden nun massenweise Kirchengebäude zurückgegeben, und bis 1990 wurden praktisch sämtliche Beschränkungen für ihre Tätigkeit aufgehoben.

Im selben Jahr verstarb das Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche, Patriarch Pimen (Sergej Iswekow), und zum neuen Patriarchen wurde Metropolit Alexij (Alexej Ridiger) gewählt, ein markanter Vertreter der „Nikodimler“. Er war relativ jung, energisch, hatte auffallend gute Manieren und konnte sich klar ausdrücken. Er entstammte einer russischen Adelsfamilie mit deutschen Wurzeln, die nach 1917 nach Estland emigriert war. Und obwohl der neue Patriarch seit seiner Jugend in der UdSSR gelebt und in der Kirchenverwaltung Karriere gemacht hatte, stach er in den Beziehungen zur Regierung und der Öffentlichkeit durch seinen europäischen Schliff hervor.

Im sowjetischen Fernsehen und in Filmen wurde plötzlich klare Propaganda für die Orthodoxie betrieben. Die Priester kamen mit Taufen, Predigten und Trauungen neuer Gemeindemitglieder nicht hinterher. Die kirchliche Obrigkeit nahm unermüdlich Gruppen neuer Gläubiger auf, die in ihrem Gebiet eine Gemeinde gründen und das dortige Kirchengebäude für die Russisch-Orthodoxe Kirche zurückgewinnen wollten. Orthodoxe Aktivisten steckten eifrig neue Ziele und Tätigkeitsbereiche ab: Gemeindegründungen, Verlage, Kindergärten oder die Organisation von Pilgerfahrten.

Die orthodoxe Intelligenzija und Gemeindeaktivisten mittleren Alters ließen sich zu Hunderten zu Priestern weihen oder gingen ins Kloster. Die Nikodimler wurden beim Ausbau der internationalen Kontakte der Russisch-Orthodoxen Kirche (besonders mit den europäischen Kirchen) sehr gebraucht. Aus Europa und vor allem aus Deutschland schwappte eine große Welle humanitärer Hilfe in die UdSSR und das neue Russland: Lebensmittel, Kleidung und Geräte für bischöfliche Verlage und Radiosender. „Demokratische“ Politiker in Russland und den meisten postsowjetischen Ländern unterstützten die Russisch-Orthodoxe Kirche, weil sie in ihr eine Verbündete gegen die kommunistische Nomenklatura sahen. Gewöhnliche demokratische Aktivisten positionierten sich oft als orthodoxe Christen. Eine Reihe Bischöfe und aktiver Priester wurden zu Abgeordneten gewählt.

Viele der früheren Probleme, Konflikte und Widersprüche waren jetzt angesichts der neuen Möglichkeiten vergessen oder verdeckt. Ein Problem geriet jedoch zu einer echten Katastrophe.

Die aus dem Untergrund hervorgekommene Ukrainische griechisch-katholische Kirche und die nach Autokephalie strebenden Bewegungen in der Westukraine (die zur Ukrainisch-Orthodoxen Autokephalen Kirche im Ausland gehörten) nahmen der Russisch-Orthodoxen Kirche in Galizien in mehreren Schritten praktisch sämtliche und im benachbarten Wolhynien eine beträchtliche Zahl an Gemeinden. Der Wechsel der Gemeinden und die Teilung der Kirchen wurden von Hunderten brutaler Zwischenfälle begleitet: Es gab Schlägereien zwischen Bauern desselben Dorfes, aus den Städten kamen Gruppen freiwilliger Kämpfer, die „ihre Leute“ unterstützen wollten, indem sie Priester zwangen, sich „zu entscheiden“.

So erhielt die Russisch-Orthodoxe Kirche das erste Signal, dass es im religiösen Raum der ehemaligen UdSSR auch andere ernstzunehmende Kräfte mit eigenen Interessen gibt. Dies wurde als Grund wahrgenommen, einen Groll gegen den Vatikan zu hegen, dem die Ukrainische griechisch-katholische Kirche doktrinär unterstellt war. Und zwar, weil der Vatikan nichts zum Schutz der Interessen der russischen Kirche unternahm. Der Umstand, dass in den übrigen neu entstandenen Staaten die Infrastruktur nicht nur bewahrt, sondern um ein Vielfaches ausgebaut werden konnte, wurde in der Russisch-Orthodoxen Kirche nicht sonderlich gewürdigt, sondern für etwas Selbstverständliches gehalten.

1994 war die Zeit der Euphorie endgültig vorbei. Es war nun klar, dass die Religiosität der Bevölkerung nicht die vorrevolutionäre Dimension erreichen und Russland kein „orthodoxer Staat“ wird. Die Zahl der Kirchgänger ging drastisch zurück. In Moskau gab es 1994 bei den Nachtgottesdiensten zu Ostern eine Rekordbeteiligung; nach drei Jahren war diese um ein Drittel und bis Mitte der 2000er Jahre um zwei Drittel zurückgegangen. Gleichzeitig verschwendete die Russisch-Orthodoxe Kirche sämtliche Ressourcen für die Wiedereröffnung alter und den Bau neuer Kirchen. Die Kirche hatte nun ein Defizit an Finanzen, Geistlichen und Gemeindemitgliedern.

Die westlichen Spender wiederum registrierten die verbesserte Versorgung mit Nahrungsmitteln und Konsumgütern und reduzierten den Umfang ihrer Hilfen erheblich. Zusätzlich mussten die orthodoxen Priester feststellen, dass sie sich nach drei Jahren heftiger „geistlicher Konkurrenz“ einer Vielzahl religiöser Organisationen gegenübersahen, die im städtischen Milieu offen auf sich aufmerksam machten. Viele dieser Organisationen wurden von westlichen Glaubensgenossen gesponsert (oder von Gemeinden in Ostasien). In den Großstädten wurde zudem das Leben in den katholischen Gemeinden und die katholische Mission sehr viel aktiver. Es war offensichtlich, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche den Kampf um die gebildeten jungen Erwachsenen und älteren Schüler angesichts der Konkurrenz (insbesondere der Katholiken) im Großen und Ganzen verlor. Es war ein Kampf um die Sympathien der geisteswissenschaftlichen Intelligenzija, die sich früher allein für die Orthodoxie interessiert hatte.

Gleichzeitig bestand die Mehrheit der kirchlichen Aktivisten aus recht radikalen russischen Nationalisten. Darunter waren auch ehemalige sowjetische Ideologiekader, die unverhohlen die „Demokraten“ und den „Westen“ hassten. Symbolhafter Anführer dieser Richtung war Ioann (Iwan Snytschow), der hyperkonservative Metropolit von Sankt Petersburg, dessen Assistent Konstantin Duschenow, ein ehemaliger Politkommissar auf einem Atom-U-Boot, im Namen Ioanns viele Aufrufe verbreitete, die nicht selten antisemitische Formulierungen enthielten.

Die „demokratische Öffentlichkeit“, die in den Medien und in der Wissenschaft dominierte und auch im Parlament vertreten war, begriff nun, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche als Ganzes keine Verbündete war. Sie konnte nicht als „progressive Kraft“ gelten, und umso weniger als moralische oder politische Orientierungshilfe.

Die Beziehungen der Russisch-Orthodoxen Kirche zum Kreml hingegen hätten sich nicht besser entwickeln können, auch wenn sich einige orthodoxe Aktivisten beim Konflikt von 1993 auf die Seite des Parlaments gestellt hatten. Die bald danach abgehaltene Dumawahl verlief für die „Demokraten“ höchst unerfreulich und brachte für die LDPR von Wladimir Shirinowski einen sensationellen Stimmengewinn. Die Exekutive reagierte hierauf mit einem schrittweisen Verzicht auf eine „demokratische“ Rhetorik. Sie wurde durch eine gemäßigt patriotische und staatszentrierte ersetzt. Die Russisch-Orthodoxe Kirche wurde zu einem Symbol für eine wahrhafte russische Staatlichkeit. Das Regime wollte sich wohl das gut entwickelte Netz der orthodoxen Gemeinden bei der Präsidentschaftswahl 1996 zunutze machen.

Jelzins Umgebung unterstützte ihre Partner, indem ihnen Zollprivilegien gewährt wurden, die es den Leitern der entsprechenden Strukturen ermöglichten, bei Exporten oder Importen schnell Geld zu machen. Neben der Russisch-Orthodoxen Kirche zählten zu diesen Partnern die Nationale Sportstiftung und die Afghanistan-Veteranen. Diese waren im Oktober 1993 für eine gestärkte Macht des Präsidenten eingetreten und verfügten zudem über ein breites Netz lokaler Organisationen. All diese Organisationen führten nun mit Erlaubnis der Regierung zollfrei Alkohol und Zigaretten ein. Ende 1996, Anfang 1997 wurden in der Presse Dokumente veröffentlicht, die von einer entsprechenden Tätigkeit kirchlicher Strukturen berichteten und Details zu deren Beteiligung an Ölexporten nannten. Die Dokumente belasteten vor allem einen der führenden Köpfe der Nikodimler, nämlich den damaligen Leiter der Abteilung für externe Beziehungen und zukünftigen Patriarchen Kirill (Wladimir Gundjajew, seinerzeit noch Metropolit) sowie einige seiner Assistenten. Die Übergabe der Dokumente an die Presse erfolgte durch einen Angehörigen der Führungsriege der Russisch-Orthodoxen Kirche, der zu einer konkurrierenden Gruppierung gehörte.1

Die Veröffentlichung sorgte für einen heftigen Skandal und eine endgültige Enttäuschung vieler Angehöriger der liberalen Intelligenzija innerhalb der Russisch-Orthodoxen Kirche. Und sie führte letztlich zum Entzug der Zollvergünstigungen.

Der Staat hielt im Übrigen genug anderes „Zuckerbrot“ bereit. 1994 und 1995 wurde in Moskau eine riesige Kirche neu erbaut, die Christ-Erlöser-Kathedrale. Der Staat finanzierte in erheblichem Maße die Restaurierung von Kirchen und Klöstern, die unter Denkmalschutz gestellt wurden. Und 1997 wurde die Orthodoxie per Gesetz zur wichtigsten Konfession im Land erklärt: Am 26. September unterzeichnete Präsident Jelzin eine neue Fassung des föderalen Gesetzes über Gewissensfreiheit und religiöse Vereinigungen, in dessen Präambel die „besondere Rolle der Orthodoxie in der Geschichte Russlands, bei der Entstehung und Entwicklung seiner Spiritualität und Kultur“ hervorgehoben wird. Für die Angehörigen der Verwaltung und für Unternehmen war das ein eindeutiges Signal: Sie sollten die Orthodoxie gegenüber den übrigen Konfessionen hervorheben und die Russisch-Orthodoxe Kirche als wichtigste orthodoxe Organisation behandeln.

Dadurch konnte die Kirche einige ihrer Forderungen durchsetzen, oder – was öfter vorkam – Initiativen ihrer vielzähligen Opponenten blockieren. Das betraf vor allem Organisationen, die sich für eine Gleichstellung der Geschlechter, Kinderrechte, die Förderung neuer Richtungen in der Medizin und die Rechte religiöser Minderheiten einsetzten.

Die Lobbyarbeit der Russisch-Orthodoxen Kirche spiegelte die innerkirchlichen Prozesse wider, bei denen der Einfluss der Konservativen und die Lautstärke ihrer Rhetorik zunahm.

In jener Zeit gab es drei maßgebliche Typen innerkirchlicher Konflikte:

Beim ersten Konflikttyp verlangte ein Bischof zu viel Geld [Kollekte – dek] von Gemeindepriestern, wobei er seine Geringschätzung nicht verhehlte und die Priester regelmäßig von einer Gemeinde zur anderen versetzte.

Der zweite Konflikttyp war nicht nur damit verbunden, dass Priester, Seelsorger und Starzen bei ihrer Auslegung der orthodoxen Dogmatik oder in der Praxis gegen die kirchliche Lehre verstießen. Sie verübten mitunter auch Straftaten (wenn sie zum Beispiel ihren Anhängern Geld abpressten, Sexualstraftaten begingen, psychischen Druck ausübten und sich in das Privatleben einmischten). Eine Manipulation der Gläubigen gelang denen am leichtesten, die von einer baldigen Apokalypse predigten und dazu aufriefen, sich um den Geistlichen zu einer geschlossenen Gemeinde zusammenzuschließen.

Hieraus ergab sich der dritte Konflikttyp, wenn sich nämlich die Leiter solcher Gemeinden der kirchlichen Hierarchie entgegenstellten.

Dadurch geriet bereits 1994/95 ein alter Konflikt an die Oberfläche, nämlich der zwischen den aufgeklärten Nikodimlern einerseits (von denen nach wie vor viele auf leitenden Kirchenposten saßen) und Konservativen mit Verbindungen zum Dreifaltigkeitskloster in Sergijew Possad andererseits. Letztere stellten die meisten der Bischöfe in der Provinz und unterstützten aktiv das überwiegend fundamentalistische „Starzentum“.

Einige der offen fundamentalistischen Bischöfe organisierten sich eine Spalte in der radikalkommunistischen Zeitung Sowetskaja Rossija. Andere unterstützten die bei russischen Nationalisten beliebte Zeitung Russki Westnik sowie eine Reihe ähnlicher Zeitungen in Moskau und in der Provinz (auch in der ukrainischen). Auf den Seiten dieser Blätter wurden die Nikodimler prokatholischer Sympathien beschuldigt und ihre Ablösung durch „orthodoxe“ Erzpriester gefordert.

Die Fundamentalisten verwiesen unter anderem zurecht darauf, dass die Kirchenführung ihre Satzung verletzt, wenn sie sich weigert, ein gesamtkirchliches Pomestny Sobor (dt. Landeskonzil) einzuberufen und dieses stattdessen durch seltenere Bischofssynoden ersetzt, also durch Bischofsversammlungen ohne Priester und Laien.

Stein des Anstoßes im Verhältnis von Kirchenleitung und der Masse der Geistlichen und Bischöfe war die Frage der Heiligsprechung des Zaren Nikolaus II. und seiner Familie. Anfangs forderten die Fundamentalisten und nach 1996 auch viele der gemäßigteren Konservativen eine Heiligsprechung. Die Nikodimler (und auch ein Teil der Konservativen) hatten derweil Zweifel. Diese hingen zum Teil damit zusammen, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche im Ausland – eine konkurrierende Kirche – die Zarenfamilie bereits 1981 heiliggesprochen hatte. Außerdem gab es für eine Heiligsprechung viele theologische und technische Hürden.

Angesichts des Sturms von Kritik, der auf allen Ebenen losbrach und sich praktisch zu einem offenen Aufstand zu entwickeln drohte, verschärfte die Kirchenführung zwischen 1997 und 2002 drastisch ihre Rhetorik. Sie wetterte gegen die „katholische Expansion“, gegen liberale Tendenzen im Protestantismus, gegen andere religiöse Gemeinschaften im Land. Mehr noch: Sie begann damit, die weltlichen Behörden mehr oder weniger systematisch zu Repressionen gegen ihre geistlichen Opponenten zu drängen, wobei sie von Gefahren für die „geistliche Sicherheit“ sprach. Gleich nach Wladimir Putins Machtantritt 2000 kam es zur Ausweisung einiger der einflussreichsten und populärsten katholischen Priester, zu Einreiseverboten für katholische und protestantische Missionare und der allgemeinen Neigung zu einer Verschärfung der Religionspolitik.

Gleichzeitig war die Führung der Russisch-Orthodoxen Kirche gezwungen, den Forderungen der innerkirchlichen Opposition entgegenzukommen: Im Jahr 2000 wurde ein Pomestny Sobor einberufen, auf dem die Zarenfamilie heiliggesprochen wurde. Allerdings wurde dort auch die Satzung der Russisch-Orthodoxen Kirche geändert, wodurch die Landeskonzile offiziell nicht mehr regelmäßig abzuhalten waren und die Abstände zwischen den Bischofssynoden ausgedehnt wurden.

Somit hatte die Russisch-Orthodoxe Kirche zu Beginn der 2000er ihre frühere fortschrittliche Haltung gegen einen Machterhalt „eingetauscht“, wobei die Forderungen der Fundamentalisten und Konservativen umgesetzt und deren Parolen übernommen worden waren. In dem Maße, in dem der Staat in seiner öffentlichen Rhetorik in einen Imperialismus und Nationalismus abrutschte, erhielt er immer stärker die Unterstützung der Russisch-Orthodoxen Kirche als ideologischer Verbündeter.

Fußnoten

Mehr zu dieser Episode in dem Buch Die wirtschaftliche Tätigkeit der Russisch-Orthodoxen Kirche und deren Schattenkomponente [russ.]