Die Angst regiert

Text: Evgenia LezinaÜbersetzung: Die Politische Meinung28.04.2023

Die Sowjetunion und ihre politische Polizei, das Komitee für Staatssicherheit (Komitet gossudarstwennoi besopasnosti SSSR, KGB), existieren seit über dreißig Jahren nicht mehr. Russland wird jedoch nach wie vor – bekanntlich bis hin zum Präsidenten – von einer konsistenten Gruppe ehemaliger Sicherheitsbeamter regiert, die das Denken und die Methoden des KGB beibehalten haben. Heute bedient sich die russische Propaganda zur Rechtfertigung des Krieges gegen die Ukraine des ideologischen Diskurses über den ukrainischen Nationalismus, wie er einst von den sowjetischen Staatssicherheitsorganen entwickelt worden war und derzeit das öffentliche Bewusstsein prägt. Das Fehlen einer Aufarbeitung der belasteten Vergangenheit, die eine systematische Reform der staatlichen Sicherheitsorgane und eine strafrechtliche Ahndung begangener Verbrechen einschließt, kann als eine Ursache für den Angriffskrieg gegen die Ukraine gelten.

In den 74 Jahren der Sowjetherrschaft setzten die Sicherheitsorgane die repressive Politik der Kommunistischen Partei um. Es lassen sich grob zwei Hauptperioden unterscheiden: die Periode des Massenterrors (1917–1953) und die der sozialen Massenkontrolle (1954–1991). Während dieser Periode wurden das Ausmaß der Gewaltanwendung sowie der Modus Operandi der Geheimpolizei von den vorherrschenden ideologischen Einstellungen der politischen Führung geprägt.

Die Phase des Massenterrors hatte ihre eigene Dynamik, ihre Höhepunkte und ihr Scheitern. Beginn und Ende einzelner Repressionskampagnen brachten die Dynamik in dieser Phase zum Ausdruck. Die Rhetorik des aktiven Klassenkampfes erklärte und rationalisierte scheinbar die Zerstörung „feindlicher“ sozialer und politischer Gruppen, deren Haltungen als Rückfall in das alte Regime vor der Russischen Revolution 1917 erachtet wurden, was zu außergerichtlichen Organen („Troika“), Massenhinrichtungen, Deportationen, zur Errichtung des Gulag und zur Kollektivierung führte. Der Übergang zur Phase der sozialen Massenkontrolle setzte ein, als die Partei – nach dem Tod Stalins am 5. März 1953 und der Einsetzung einer kollektiven Führung – verkündete, dass die Phase des Klassenkampfes beendet und die „Einheit des Sowjetvolkes“ erreicht worden sei. Die homogenisierten „Massen“ bedurften nun der Kontrolle und Beseitigung unzuverlässiger, vom Ausland inspirierter „Elemente“, denn in den Augen der sowjetischen Ideologen gab es innerhalb der UdSSR keine Rechtfertigung für irgendwelche Abweichungen.

Der 1954 gegründete KGB wurde zu einer neuen Art von Geheimpolizei, die moderne sozialtechnische Praktiken anwandte: Umerziehung, bezeichnet als „Präventivmaßnahmen“, Zersetzung (analog zu den von der Staatssicherheit der DDR aktiv eingesetzten Maßnahmen), massive bürokratisierte Loyalitätskontrollen, technisch hochentwickelte Überwachungsmethoden, Strafpsychiatrie, Propagandaunterstützung, die alle Formen von Medien und Kunst einschloss, und Bemühungen um die Aufrechterhaltung des eigenen Images. Gleichzeitig wirkte das Mittel der Angst, das durch die offene Gewalt der vorherigen Ära geschürt worden war, lange Zeit im Verborgenen für den KGB weiter. Anhand der verfügbaren Archivdokumente lässt sich nachvollziehen, wie die operativen Praktiken und Methoden des KGB den vom Politbüro vorgegebenen ideologischen und politischen Vorgaben folgten. Der KGB verfügte zwar über ein Monopol auf institutionalisierte Gewalt, allerdings nicht über die Macht, die strategische ideologische Ausrichtung des Politbüros zu bestimmen.

Dass die sowjetische Geheimpolizei im Gegensatz zu ihren Pendants in den meisten besetzten Ländern Mittel- und Osteuropas in den Augen der russischen Gesellschaft nicht ausreichend in Misskredit geriet, um in der postsowjetischen Zeit zumindest eine minimale rechtliche Verantwortung zu übernehmen, kann in gewissem Sinne tatsächlich als ein Beweis für die Effektivität des KGB gelten.

Als Reaktion auf den gescheiterten Putschversuch des Staatskomitees für den Ausnahmezustand im August 1991 wurde das Denkmal von Felix Dsershinski – das berühmte Symbol für die Macht der „Organe“ – auf dem Lubjanka-Platz gestürzt. Viele erachteten diesen Moment als eine entscheidende historische Zäsur. Bald jedoch, wenn auch fast unbemerkt aufgrund der Turbulenzen im Zuge der wirtschaftlichen und politischen Reformen, gewannen die Geheimdienste ihre Strukturen und ihren Einfluss zurück. Die vollständige Demokratisierung Russlands blieb aus.

Die demokratische Transformation geriet auch deshalb weitgehend ins Stocken, weil der Staatssicherheitsapparat des überwundenen Sowjetregimes – das Vehikel repressiver Praktiken – nicht aufgelöst wurde und seine funktionale, personelle und symbolische Kontinuität wahren konnte. Sein an zahlreichen Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen beteiligtes Personal wurde nicht zur Rechenschaft gezogen.

Das Fundament für das „Überleben“ und die Rache der Sicherheitsdienste war bereits in den Jahren der Perestroika gelegt worden. Diese Ära, zu der auch die Glasnost gehörte, war eigentlich eine Zeit der öffentlichen Enthüllung der stalinistischen Verbrechen. Dennoch litt der KGB nicht unter der Perestroika, sondern passte sich strukturell an die veränderte Situation an, griff neue ideologische Strömungen auf und verstärkte seine Geheimhaltung. Seinen Schwerpunkt verlegte er auf verdeckte Arbeitsmethoden und reduzierte zunächst das Ausmaß der offenen Repression. Bis in die letzten Tage der UdSSR hinein behielt der KGB seinen Einfluss, sein „Gewicht“ als Apparat und seine Personalstärke.

Paradoxerweise trug die Kampagne zur Rehabilitierung der Opfer des stalinistischen Terrors mit dazu bei, das Image des KGB anzupassen. Der Rehabilitationskommission des Politbüros, die im September 1987 ihre Arbeit aufnahm, gehörten erstaunlicherweise der KGB-Chef Wiktor Tschebrikow und andere hochrangige Tschekisten an. Generalleutnant Iwan Abramow, seit 1983 Leiter der 5. Hauptverwaltung des KGB [die unter anderem Dissidenten und Andersdenkende verfolgte – dek], wurde im Mai 1989 zum stellvertretenden Staatsanwalt der UdSSR ernannt und mit dem Rehabilitationsprozess betraut.

Die Rehabilitierungskampagne wurde in den Medien als Beweis für die Offenheit des KGB, seine Demokratisierung und die Aufarbeitung der Vergangenheit durch einen großen Teil der Gesellschaft dargestellt. Wie Dokumente aus den freigegebenen Archiven des litauischen und ukrainischen KGB zeigen, war dies jedoch nur ein Vorwand. Die wahren Prioritäten des KGB und des Politbüros waren andere: die öffentliche Diskussion über die sowjetischen Verbrechen auf die stalinistische Periode zu beschränken, das heißt, Nachfragen zu späteren, zeitlich näher liegenden Verbrechen oder zur Kriminalität im gesamten Sowjetregime zu verhindern; Versuche zu unterbinden, die am stalinistischen Terror und an späteren Verbrechen Beteiligten strafrechtlich zu verfolgen, und generell die Idee einer juristischen Verfolgung zu diskreditieren; jegliche Forderungen nach Öffnung der Archive der Staatssicherheitsdienste zu unterdrücken; unabhängige Initiativen zur Identifizierung von Verbrechern und zur Suche nach Massengräbern auszuschließen.

In den späten 1980er und frühen 1990er Jahren akzeptierte die russische Gesellschaft die von den Behörden gesetzten Beschränkungen bei der Aufarbeitung. Die Bemühungen der Bürgerrechtsaktivisten fokussierten sich vor allem auf das Gedenken an die Opfer des stalinistischen Terrors. Die vollständige Öffnung der Archive und ihre Übergabe an die Zivilgesellschaft waren keine zentralen politischen Anliegen. Vor allem diejenigen, die zu Verfechtern der Idee der Wiederherstellung der Gerechtigkeit hätten werden können, weigerten sich, die Täter der Verbrechen der staatlichen Sicherheitsorgane zu verfolgen.

Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Entstehungsgeschichte von Memorial – wichtigste und de facto monopolistische zivilgesellschaftliche Institution im Bereich der Erinnerungspolitik: Auf der Gründungskonferenz der Organisation im Januar 1989 wurde eine Resolution verabschiedet, in der gefordert wurde, Stalin vor ein öffentliches Gericht zu stellen – gleichzeitig wurde die Nichtverfolgung der Verantwortlichen für die Repressionen der Sowjetzeit „im Interesse der Menschlichkeit und der Barmherzigkeit“ proklamiert. Diese Position, die 1989 als erzwungener Kompromiss angesehen werden konnte, wurde auch nach 1991 nicht mehr revidiert.

Außerdem teilten die meisten russischen Liberalen, darunter auch ehemalige Dissidenten, die Ansicht, dass die Lustration, die Entfernung politisch belasteter Mitarbeiter vor allem aus dem öffentlichen Dienst, gefährlich sei. Die meisten hielten sie für „eine Hexenjagd“. Dies ist einer der Gründe, warum der von Präsident Boris Jelzin initiierte Prozess gegen die KPdSU keine ernsthaften rechtlichen Konsequenzen nach sich zog. Aus diesem Grund scheiterte 1993 auch die einzige Gesetzesvorlage – ein Entwurf zur Lustration –, die Galina Starowoitowa, Menschenrechtsaktivistin und Vorsitzende der Bewegung Demokratisches Russland, dem Parlament vorgelegt hatte (sie wurde 1998 von einem Auftragskiller erschossen; die Drahtzieher wurden nie gefunden). Sowohl Anhänger der demokratischen Bewegung als auch Journalisten und andere Abgeordnete hatten Starowoitowas Konzept abgelehnt. Kurz vor ihrem Tod schlug sie eine aktualisierte Fassung des Gesetzes vor; allerdings weigerten sich die Abgeordneten der Duma, seine Beratung überhaupt auf die Tagesordnung zu setzen.

Anders als in der DDR, wo Forderungen nach der Auflösung der Staatssicherheit während der Friedlichen Revolution von 1989 ein bedeutendes Phänomen waren, stand in Russland die Kritik an der politischen Polizei nicht an der Spitze der Protestagenda. Dies gab Boris Jelzin die Möglichkeit, die Sicherheitsdienste zu reformieren, ohne etwas an der Substanz ihrer Arbeit zu ändern.

Jelzin teilte den KGB zwar in mehrere konkurrierende Organe auf, tat dies allerdings nicht im Interesse der Bürgerrechte, sondern zum Schutz seiner eigenen Macht. Die tschekistischen Strukturen wurden mehrfach umbenannt und verwaltungstechnisch umgestaltet, behielten jedoch im Wesentlichen ihre Funktionen, ihr Personal, ihre Symbole und vor allem ihren geschlossenen Korpsgeist bei, der liberalen Werten feindlich gegenüberstand und von antiwestlichem Verschwörungsdenken durchdrungen war.

Durch die heftige Konfrontation mit dem Obersten Sowjet im Herbst 1993 und den blutigen Krieg in Tschetschenien, der 1994 ausbrach, sah sich Jelzin dazu genötigt, die Unterstützung der Sicherheitsdienste zu suchen. Mitte der 1990er Jahre endete daher die Übergangszeit: Der Föderale Spionageabwehrdienst (FSK) erhielt in Anlehnung an den KGB die umfassendere Bezeichnung Föderaler Sicherheitsdienst (FSB), seine Befugnisse wurden erweitert. Als Ermutigung und Anerkennung erhob Jelzin 1995 den Tag der Tschekisten, der offiziell als „Tag der Mitarbeiter der Sicherheitsorgane der Russischen Föderation“ begangen wird und selbst zu Sowjetzeiten nur inoffiziell gefeiert wurde, zu einem offiziellen Feiertag.

Gleichzeitig verschlechterte sich die Menschenrechtslage in Russland ab Mitte der 1990er Jahre stetig. Im Juli 1998 ordnete Jelzin die Schaffung der Abteilung für den Verfassungsschutz innerhalb des FSB an und stellte damit im Wesentlichen die ehemalige ideologische 5. Hauptverwaltung des KGB wieder her (die später in die berüchtigte 2. Abteilung des FSB umgewandelt wurde). Der Leiter der neuen Behörde, Gennadi Sotow, erklärte damals, dass „der Staat das Ziel verfolgt, aus dem FSB-System eine separate Einheit auszugliedern, die sich auf den Kampf gegen Sicherheitsbedrohungen im gesellschaftspolitischen Bereich oder gegen ‚innere Unruhen‘ ‚spezialisiert‘, die für Russland immer beängstigender waren als jede militärische Invasion“.

Mit der Machtübernahme Wladimir Putins, eines ehemaligen KGB-Mitarbeiters, wurden nicht nur die Sicherheitsdienste gestärkt und ihre Personalstärke erhöht, sondern es kamen auch zahlreiche Tschekisten in Machtpositionen, die anschließend mit den Mitteln der Angst regierten. Obwohl dieser Trend erst in den späteren Jahren der Jelzin-Herrschaft einsetzte, könnte der Anteil der ehemaligen Sicherheitsbeamten in der obersten Führungsebene des Landes nach Schätzungen Mitte der 2000er Jahre bereits bei zwei Dritteln liegen. Die Sicherheitsdienste kontrollierten auch die Wirtschaft sowie die Finanz- und Ölströme. Diese Trends spiegeln sich auch im öffentlichen Bewusstsein wider. Auf die Frage von Meinungsforschern des unabhängigen Lewada-Zentrums im Februar 2000 – „Würden Sie die Idee unterstützen, alle russischen Sonderdienste zusammenzulegen und wieder ein einziges Komitee für Staatssicherheit im Stil des KGB einzurichten?“ – antworteten etwa 60 Prozent der Russen mit Ja (nur 22 Prozent stimmten dagegen, während 21 Prozent die Frage nicht beantworten konnten). Fast 70 Prozent der Befragten gaben im März desselben Jahres an, dass der neue Präsident Wladimir Putin mittels einer Stärkung der Sonderdienste „die Ordnung wiederherstellen“ solle, nur ein Drittel äußerte sich besorgt über diese Aussicht.

Heute, da Russland einen aggressiven Krieg gegen die Ukraine führt, bedient sich die russische Propaganda aus dem langjährigen Erbe des KGB: aus dem Klischee über die Gefährlichkeit und Kriminalität der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung, das von sowjetischen Staatssicherheitsdiensten entwickelt und gefördert wurde.

Es war die sowjetische Geheimpolizei, die nach dem Ende des bewaffneten ukrainischen Widerstands Anfang der 1950er Jahre ständig versuchte, die Idee der politischen Emanzipation der Ukraine zu diskreditieren, indem sie die Verfechter der ukrainischen nationalen Selbstbestimmung als Kollaborateure von Nazis darstellte, als Marionetten des Westens, die gegen die Interessen des ukrainischen Volkes handelten und es daher nicht repräsentieren könnten. Das Ziel des KGB bestand darin, den ukrainischen Widerstand gegen die Sowjetisierung und Russifizierung zu verunglimpfen, all seine Spielarten und Formen als NS-nah zu diffamieren und die ukrainische Nationalbewegung mit dem Nationalsozialismus gleichzusetzen. Diese Bemühungen des KGB, die sich unter anderem in der Schaffung von Massenliteratur, Filmen, zahlreichen Veröffentlichungen in den Medien und öffentlichen Kampagnen zur Dämonisierung des ukrainischen Nationalismus äußerten, schufen den fruchtbaren Boden des öffentlichen Bewusstseins in Russland, aus dem die heutige russische Propaganda erwächst – und den sie ausnutzt, indem sie die Ukrainerinnen und Ukrainer fälschlicherweise des Nazismus beschuldigt und mit deren angeblicher „Entnazifizierung“ sie einen brutalen Krieg auch gegen die Zivilbevölkerung zu rechtfertigen versucht.

Ergänzte und überarbeitete Fassung aus Die Politische Meinung, Nr. 577, November/Dezember 2022, S. 33-38.