„Das demokratischste Jahrzehnt“
Kritiker des derzeitigen politischen Regimes in Russland stellen dem Autoritarismus unter Putin für gewöhnlich die Zeit der Demokratie in den 1990er Jahren gegenüber. In Wirklichkeit jedoch wurden gerade im ersten Jahrzehnt des neuen Russland die institutionellen und politischen Grundlagen für die spätere autoritäre Wende gelegt. 1993 wurde zunächst eine neue Verfassung verabschiedet, die praktisch keinerlei Einschränkungen der Macht des Präsidenten vorsah. Außerdem wurde in den 1990er Jahren einem eventuellen Machtwechsel durch den Sieg eines alternativen Präsidentschaftskandidaten ein Riegel vorgeschoben. Da nun aber Demokratie ein politisches System ist, in dem Parteien die Macht durch eine Niederlage bei Wahlen verlieren (Adam Przeworski: Democracy is a system in which parties lose elections), muss man konstatieren, dass in Russland letztlich nie eine Demokratie errichtet wurde. Und das, obwohl der Zusammenbruch des kommunistischen Regimes im August 1991 doch, so schien es, einen Weg dorthin verhieß.
Die Möglichkeiten zum Aufbau einer Demokratie in Russland wurden seinerzeit nicht nur verpasst, sondern durch Angehörige der politischen Klasse, die nun an die Macht gekommen waren, aktiv und bewusst verworfen. Zum Teil war diese Entwicklung durch das Ausmaß der Probleme bedingt, vor denen Russland (wie auch andere postsowjetische Länder) stand. Im Grunde ging es um die gleichzeitige Bewältigung von drei großen Aufgaben: Auf den Ruinen der UdSSR musste ein Nationalstaat aufgebaut, marktwirtschaftliche Reformen durchgeführt und eine Demokratie errichtet werden. Dieses „Dilemma der Gleichzeitigkeit“, wie Claus Offe es nannte, hat die russische Führung dahingehend gelöst, dass die wirtschaftliche Umgestaltung über die politische gestellt wurde, anders als in einer Reihe anderer Staaten Osteuropas und des Baltikums. Dort wurden die Reformen in den verschiedenen Bereichen gleichzeitig und mehr oder weniger erfolgreich vorgenommen.
Aus einer Vielzahl von Gründen war diese Entscheidung in Russland durch die klägliche Lage der Wirtschaft bedingt, die von 1990 bis 1999 eine sehr tiefgreifende und anhaltende Transformationsrezession erlebte. Während andere postsowjetische Staaten gezwungen waren, sich um den Aufbau eines Nationalstaates mit neuen Institutionen zu kümmern, erbte Russland einen beträchtlichen Teil des politischen und institutionellen Gepäcks der Sowjetunion. Das Land hatte weder die Zeit noch die Ressourcen für eine grundlegende Revision, insbesondere angesichts der Krise beim Aufbau eines Nationalstaates im Innern. Dieser wurde von heftigen ethnopolitischen Konflikten im Nordkaukasus und von einem teilweisen Kontrollverlust des Kreml in einigen Teilrepubliken Russlands begleitet. Letztendlich ließen sich die russischen Reformer von der Frage leiten, wie akut ein bestimmtes Problem aus ihrer Sicht war. Und auch von ihrer Wahrnehmung, wie dringend es zu lösen sei.
Doch warum stand die Demokratisierung in dieser Prioritätenliste an letzter Stelle?
Viele Beobachter und auch viele an den politischen Prozessen der 1990er Jahre Beteiligte nahmen an, dass mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft und dem Machtantritt von Politikern, die mit demokratischer Rhetorik auftraten, sich Demokratie gewissermaßen von selbst einstellen werde. In Wirklichkeit jedoch wären für einen Aufbau von Demokratie sehr große Anstrengungen vonnöten gewesen: von freien Wahlen bis hin zur Schaffung neuer politischer Institutionen.
Auf diesem Weg gab es allerdings zwei äußerst wichtige Hindernisse. Zum einen stand eine Reihe russischer Politiker einem bestimmten Element der Demokratie höchst skeptisch gegenüber, nämlich der Abhängigkeit des politischen Kurses der Regierung vom Wählerwillen. Das wurde als Gefahr für die marktwirtschaftlichen Reformen betrachtet, da es die Regierung zu einer populistischen Politik verleiten könnte (in Wirklichkeit ist eine solche Gefahr in den Ländern Osteuropas und des Baltikums letztlich nicht konkret geworden). Die Marktreformer wollten von Anfang an eine eher technokratische Transformation, die sich auf ein strenges autokratisches Regime stützt, das keine Massenproteste gegen einen unpopulären politischen Kurs zulassen würde. Das Problem war jedoch, dass eine Politik autoritärer Marktreformen nach dem Zerfall der UdSSR und der Schwächung des russischen Staates in den 1990er Jahren schlichtweg nicht durchführbar war. Eine solche Politik umzusetzen, wurde stattdessen im folgenden Jahrzehnt möglich, nach dem Machtantritt von Wladimir Putin.
Die zweite Barriere bestand darin, dass ein Machtverlust durch eine Wahlniederlage in den Plänen derer, die in Russland nach 1991 an der Macht waren, ganz dezidiert keinen Platz hatte: Die waren daran interessiert, so lange wie möglich an der Macht zu bleiben, auch unabhängig vom Wählerwillen. Die Einführung demokratischer „Spielregeln“ stand somit ihren Interessen entgegen. Natürlich ist ein maximaler Machtgewinn das Ziel von Politikern in aller Welt. Wo jedoch Demokratie Wurzeln geschlagen hat, ist dies nicht so leicht zu erreichen, sowohl wegen des Widerstands der Konkurrenten wie auch wegen zuvor etablierter Spielregeln, die nicht so einfach zugunsten eigener Interessen umzuschreiben sind. In Russland hingegen ist es nicht gelungen, Barrieren gegen einen maximalen Ausbau der Macht zu errichten: In den 1990er Jahren haben sich keine einflussreichen politischen Kräfte gefunden, die an einer Schaffung solcher Barrieren interessiert gewesen wären.
Auch wenn die Schwächung der Grundlagen für eine Demokratisierung in Russland dem destruktiven Einfluss konkreter Personen wie dem Oligarchen Boris Beresowski angekreidet wurde, so verhielten sich in Wirklichkeit auch die meisten russischen Politiker zur Demokratie bestenfalls wie zu einer abstrakten Idee, die mit ihrer politischen Praxis nichts zu tun habe. Schlimmstenfalls würden sie der Aussage von Anatoli Sobtschak zustimmen, der 1990 schon in einem Gespräch mit mir erklärte: „Wir sind jetzt an der Macht, also herrscht Demokratie“.
Diese Kombination aus Vorstellungen und Interessen eines erheblichen Teils der politischen Klasse in Russland hat zu großen Teilen begünstigt, dass die politische Transformation in Russland zunächst auf bessere Zeiten verschoben und dann praktisch den aktuellen politischen Bedürfnissen der herrschenden Gruppierungen geopfert wurde. Der erste Schritt in diese Richtung wurde im Herbst 1991 unternommen, als die Idee einer schnellen Verabschiedung einer russischen Verfassung und Durchführung von Neuwahlen auf deren Grundlage beerdigt wurde. Stattdessen erhielt der Präsident des Landes zusätzliche Vollmachten zur Durchführung marktwirtschaftlicher Reformen.
Die zweite, äußerst wichtige Etappe war der Konflikt zwischen Jelzin und dem russischen Parlament 1992/93. Anfangs waren die Abgeordneten auf der Seite Jelzins. Schließlich waren sie es, die Jelzin das Mandat für die Wirtschaftsreformen erteilt und ihn mit zusätzlichen Vollmachten ausgestattet hatten. 1992 jedoch, angesichts der steigenden Inflation und der misslungenen Stabilisierung der finanziellen Lage in Russland, ging das Parlament zu einer höchst kritischen Haltung über und verlangte eine Revision des Regierungskurses. Jelzin und seine Umgebung wiederum versuchten, die Schuld für die wirtschaftliche Situation im Land dem Parlament in die Schuhe zu schieben, das verantwortungslose Entscheidungen getroffen habe. Diese Kritik war zum Teil berechtigt, zum Teil provozierte der Kreml bewusst eine Polarisierung, weil er seine politischen Gegner diskreditieren wollte. Dies wiederum trug dazu bei, dass die Abgeordneten in Richtung Revanchismus und antiliberaler Parolen abdrifteten. Und hin zu einem Schulterschluss mit Kräften, die von einer Wiederherstellung des Imperiums träumten – des sowjetischen oder gar des vorrevolutionären Russischen Reiches. Beide Konfliktparteien strebten danach, ihre Macht maximal auszubauen, Jelzin verfügte jedoch über mehr Ressourcen als das Parlament (vor allem bei den Silowiki).
Letztlich wurde – nach einigen Tagen bewaffneter Konfrontation im Herbst 1993 – im Dezember desselben Jahres durch ein Referendum eine Verfassung verabschiedet, die den Präsidenten mit unverhältnismäßig weitreichenden Vollmachten ausstattete.
Eine logische Folge dieser Ereignisse war die Präsidentschaftswahl von 1996, die Jelzin und sein Team so durchgeführt haben, dass ein fairer Wettbewerb unmöglich war. So gab es hinsichtlich des Zugangs zu Medien, der Wahlkampffinanzierung und der Neutralität der Behörden keinen gleichberechtigten Wahlkampf unter den Kandidaten. Dann kam das Ende des Jahrzehnts, die Wirtschaftskrise von 1998, die den Abgang Jelzins von der politischen Bühne unausweichlich machte. Der „Krieg um Jelzins Nachfolge“, der zwischen den verschiedenen Gruppen der politischen Klasse stattfand, und der Sieg Wladimir Putins in diesem Konflikt bildeten den Schlussstrich unter den 1990er Jahren und öffneten den Weg für den anschließenden Aufbau des Autoritarismus. An keiner dieser Weggabelungen fiel die Entscheidung zugunsten einer demokratischen Lösung der politischen und institutionellen Probleme. Die Konflikte innerhalb der Eliten Russlands wurden nach dem Prinzip eines Nullsummenspiels ausgetragen, in dem die siegreiche Seite alles gewinnt und die unterlegene nichts. Die Rolle der russischen Bürger bei diesen Konflikten reduzierte sich darauf, Entscheidungen gutzuheißen, die die herrschenden Gruppierungen zuvor im eigenen Interesse getroffen hatten.
Die 1990er Jahre sind in die Geschichte Russlands als eine Zeit eingegangen, in der die politischen und bürgerlichen Rechte und Freiheiten in vielerlei Hinsicht ausgeweitet wurden. Im Land entstand eine Vielzahl neuer politischer Parteien und NGOs. Es entwickelte sich eine pluralistische Medienlandschaft, in vielen Regionen wurden Gouverneurs- und Bürgermeisterwahlen abgehalten, die durchaus Wettbewerbscharakter hatten (bei denen die Amtsinhaber ihre Macht des Öfteren aufgrund einer Niederlage verloren).
Diese Entwicklungen erzeugten bei Beobachtern und in der Gesellschaft die Illusion, dass die russische Demokratie erfolgreich sei. Und sie ermöglichten es, dass die antidemokratischen Entwicklungen der 1990er Jahre als eine Art „Kinderkrankheit“ abgetan werden konnten, die sich mit der Zeit überwinden ließe. Dabei waren die Freiheiten und der politische Pluralismus größtenteils die Kehrseite einer tiefgreifenden Fragmentierung der russischen Eliten und der Schwäche des russischen Staates. Die Führung des Landes war schlichtweg nicht in der Lage, die politischen Prozesse in Russland unter ihre Kontrolle zu bringen und war daher genötigt, viele Freiheiten zu dulden, weil sie nicht die Kraft hatte, politische Konkurrenten zu besiegen oder diese in zweitrangigen Rollen für sich zu kooptieren. In den 2000er Jahren, unter der Präsidentschaft Wladimir Putins, unternahm der Kreml eine „Korrektur der Fehler“, woraufhin die „Kinderkrankheiten“ zu chronischen Krankheiten des politischen Systems Russlands gerieten. Gleichwohl wurden die Grundlagen für diese autoritäre Wende gerade in den 1990er Jahren gelegt.