Welchen Herausforderungen begegnen wir beim Übersetzen journalistischer Texte – was davon ist spezifisch und was begegnet uns immer wieder, nur in unterschiedlichen Kleidern/Texten/in unterschiedlicher Textur? Henriette Reisner mit Thesen, die wir im Neustart-Workshop diskutierten.
„Bei der Übersetzung geht es nicht nur um Worte, sondern darum, eine ganze Kultur verständlich zu machen.“ Auf diese Weise beschrieb der britische Schriftsteller Anthony Burgess einmal treffend den Vorgang des Übersetzens. dekoder überträgt in dieser Mission regelmäßig russische – und seit 2020 auch belarussische – Medien ins Deutsche sowie seit 2019 deutsche Texte ins Russische. Was aber geschieht bei der Übertragung journalistischer Texte in eine neue Sprache, ja, bei der Übersetzung einer ganzen Medienlandschaft in eine andere? Und was gilt es bei dieser komplexen Aufgabe zu beachten? Dieser Text sammelt einige Herausforderungen und Erfahrungen aus der Übersetzungsarbeit bei dekoder, ebenso wie offene Fragen – die man beim Übersetzen journalistischer Texte nicht beantworten muss, aber derer man sich bewusst sein sollte.
Eine Kultur anhand einer Medienlandschaft verständlich machen
Folgen wir dem Eingangszitat, so können wir mit Burgess davon ausgehen, dass es beim Übersetzen nicht nur um die sprachliche Ebene geht, sondern darum, „eine ganze Kultur verständlich zu machen“ – im Fall von dekoder anhand einer Medienlandschaft und sogar einer speziellen Nische innerhalb dieser Medienlandschaft, den „unabhängigen“ Medien in Russland. Die Einordnung der Medien und Autoren für Leserinnen und Leser nehmen bei dekoder die RedakteurInnen vor. Was aber gilt es beim Übersetzen der Artikel zu beachten? Gerade journalistische Texte haben oft eine starke kulturelle Dimension, da sie nicht selten Redewendungen, Wortspiele, Metaphern, Anspielungen et cetera enthalten. Insbesondere beim journalistischen Übersetzen müssen wir uns also fragen: Wo unterstellt der Text ein sprachlich nicht kommuniziertes, kulturelles Wissen, das bei einem/einer LeserIn, in unserem Fall beim/bei der LeserIn von Medien, aus einem anderen Kulturkreis nicht vorausgesetzt werden kann?
Eine bewährte Methode, Hintergrundwissen zu vermitteln, die bei dekoder regelmäßig zum Einsatz kommt, ist der sogenannte Blurb: eine lexikalische oder enzyklopädische Notiz, die in einem kleinen Textfenster erscheint und kurze Begriffserklärungen liefert, die fast unmerklich den fehlenden Kontext ergänzen. Mitunter führt der Blurb auch zu einem ausführlichen Text zum jeweiligen Thema, der von WissenschaftlerInnen verfasst ist. Auf dekoder nennt sich dieses Format Gnose (von altgriechisch „gnosis” – Wissen): Für die ÜbersetzerInnen ist es ein elegantes Verfahren, da sie dem Originaltext möglichst treu bleiben können, und ein deutlicher Vorteil des Online-Mediums.
Bei dekoder ergänzen sogenannte Blurbs den Kontext
Außerdem gibt es auch textinterne Möglichkeiten, mithilfe derer man Kontextlücken begegnen kann, wie etwa kleine Einschübe oder Auslassungen, um entweder fehlendes Wissen zu ergänzen oder mit Blick auf das neue Zielpublikum auf nicht relevante oder womöglich Verwirrung stiftende Verweise zu verzichten.
Wie aber lassen sich politische Metaphern und Konzepte von einem Sprach- und Kulturbereich in den anderen übertragen? Sowohl Begriffe als auch Konzepte und Institutionen können mitunter verschiedene Konnotationen haben und sind mit unterschiedlichen historisch gewachsenen Vorstellungen verknüpft. Um es an einem einfachen Beispiel zu verdeutlichen: Je nachdem in welchem Kulturkreis und in welcher politischen Tradition wir aufgewachsen sind, können wir sehr unterschiedliche Inhalte und Vorstellungen mit den Begriffen „links“ und „rechts“ verknüpfen, über deren Gebrauch wir uns, solange wir uns in unserem eigenen Koordinatensystem bewegen, nur selten Gedanken machen. Über diesen Umstand (möglicher unterschiedlicher ideelicher Verknüpfungen) muss sich der/die ÜbersetzerIn stets bewusst sein und im Zweifelsfall sensible Lösungen finden, die beiden Vorstellungswelten gerecht werden.
Wie umgehen mit Metaphern und markierten Ausdrucksweisen?
Eine weitere Herausforderung: Manche Ausdrucksweisen, die in der Zielsprache markiert sind, also zum Beispiel als unsensibel oder diskriminierend empfunden werden , finden in der Ausgangssprache völlig neutrale Verwendung und rufen beim Leser keinerlei Unbehagen hervor (ähnliches ist natürlich auch umgekehrt vorstellbar). Bei der Übersetzung journalistischer Texte jedenfalls sollte es nicht nur darum gehen, in der Zielsprache den Informationsgehalt beizubehalten, sondern auch darum, den richtigen Effekt zu erzielen (Wirkungsäquivalenz). Letzteres spricht dafür, im Zieltext nach Möglichkeit auf Irritationen durch markierte Begriffe zu verzichten, da sich der Effekt sonst verschieben und im Zweifelsfall von der eigentlichen Information ablenken kann. Erfahrungsgemäß hält die Zielsprache aber meist mehr Fremdheit aus, als wir ihr üblicherweise zutrauen, sodass es auch hier immer wieder sensibel abzuwägen gilt, um beiden Anforderungen so gerecht wie möglich zu werden.
Journalistische Traditionen und Emotionalitätsgrade
Wer journalistisch übersetzt, muss sich allerdings auch darüber im Klaren sein, dass sich oftmals nicht nur journalistische Traditionen, sondern, damit verbunden, auch die einzelnen Textgattungen und Lesegewohnheiten stark unterscheiden – was den/die ÜbersetzerIn vor die Herausforderunge stellt, den Text entsprechend zu adaptieren. Hier ist es sicherlich von Vorteil, einen generellen Überblick über die Merkmale journalistischer Texte und ihre jeweiligen Spezifiken, auch innerhalb der unterschiedlichen Kulturen, zu haben, um diese bei der Übersetzung ins Deutsche zu berücksichtigen. Hilfreich sind aber auch immer wieder allgemeine Fragen an den Text, wie beispielsweise: Welche sprachlichen Mittel werden im Originaltext eingesetzt? Welchen Duktus weist ein Text auf? Was ist seine Intention, seine Sprechhaltung ? Das anvisierte Publikum?
Eine weitere wichtige Frage ist der Umgang mit verschiedenen Emotionalitätsgraden und Mitteln zur Erzielung von Expressivität. Auch hier lassen sich nicht geringe Unterschiede feststellen, die bei der Übersetzung berücksichtigt werden wollen. Eine wichtige Rolle im Hinblick auf die bestmögliche Organisation des Informationsgehalts in der Zielsprache spielt auch die Syntax, die in starkem Maße dafür verantwortlich ist, dass den einzelnen Worten oder Satzbausteinen das richtige Gewicht zukommt und den Informationen der richtige Grad an Nachdruck verliehen wird. So finden sich wichtige Informationen in einer deutschen Satzkonstruktion oftmals am Ende, während sie im Russischen eher an erster oder zweiter Stelle im Satz stehen. Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Choroscho smejetsja tot, kto smejetsja poslednim (dt. wörtl. Gut lacht der, der zuletzt lacht).
Am Schluss das schwierigste: Der Witz
Als Kür in der Übersetzung von Medieninhalten, bei der fast alle Anforderungen zusammenkommen, könnte man die Übertragung eines Memes bezeichnen: Hier geht es darum, ein kulturspezifisches Phänomen und den daraus resultierenden Witz in ein anderes sprachliches und kulturelles Umfeld zu katapultieren beziehungsweise zu transferieren, was sich im Zweifelsfall als gar nicht so einfach erweist. Dabei spielen nicht zuletzt auch der unterschiedliche Stellenwert und Verbreitungsgrad des Formats beim Original- und Zielpublikum eine Rolle. Dennoch finden sich oftmals viele kreative Lösungen, die sowohl den spezifischen Gebrauch der Sprache (von Vereinfachung bis hin zu falscher Grammatik) als auch die visuelle Komponente berücksichtigen.
Letztendlich gilt für die journalistische Übersetzung dasselbe wie für jeden (originalsprachlichen) journalistischen Text: Sie sollte genau und transparent, zugleich dynamisch und leicht zu lesen sein. Dabei gilt es sowohl Stil und Intention des Autors zu respektieren als auch das eigene Zielpublikum nicht aus den Augen zu verlieren.
Der Spagat gelingt, wenn wir uns bewusst machen, dass jedes Original die Grenzen unseres eigenen sprachlichen Koordinatensystems testet, das unsere Wahrnehmung der Welt bestimmt. Dabei stoßen wir jedoch nicht nur auf Barrieren, sondern auch auf ungeahnte Möglichkeiten der Ausdehnung und Strapazierbarkeit der eigenen Sprache.