Maria Rajer
Text: Maria Rajer28.09.2022

Politisch korrekt im engeren Sinne ist die russische Sprache nicht. Was macht eine Übersetzerin, die mit solchen Aspekten im Text konfrontiert ist? So tun, als wäre nichts? Und damit Autoren und Protagonisten womöglich nicht gerecht werden? Das ist bestimmt keine Lösung, so Maria Rajer, die für Transparenz und Selbstermächtigung beim Übersetzen plädiert.

Während meines Studiums fiel in einem Übersetzungsseminar der Satz, Übersetzen sei wie Putzen, man merke es nur, wenn es schlecht gemacht sei. Was die Dozentin mit dieser Haushaltsmetapher wohl ausdrücken wollte, ist, dass ein flüssiger, gut lesbarer Text produziert werden sollte, bei dem die Leserinnen zumindest auf sprachlicher Ebene nichts irritiert.

Übersetzerin als stille Dienerin beim Gespräch des Lesers mit dem Autor

Aufgabe der Übersetzerin ist es demnach, die Illusion zu erzeugen, der Text wäre in der Zielsprache verfasst – und dabei sollte sie ihre Arbeit und sich selbst möglichst unsichtbar machen. Eine stille Dienerin sein beim vermeintlich unmittelbaren Gespräch des Lesers mit dem Autor.

Auf den ersten Blick ist gegen diese Forderung nichts einzuwenden, doch die Strategie geht nicht auf. Impliziert sie doch die Annahme, Leserin und Autorin sprächen nicht nur dieselbe Sprache, sondern lebten auch in derselben Welt, teilten den Referenzrahmen ihrer Sprachen. Aber Sprachen sind nicht symmetrisch, nicht auf der syntaktischen und pragmatischen, ja nicht einmal auf der lexikalischen Ebene. Die gleichen Worte bezeichnen in den seltensten Fällen die gleichen Dinge. Selbst wenn wir die gleiche Sprachen sprechen, assoziieren wir bei einfachen Begriffen wie Baum nicht unbedingt die gleichen Bäume, zu schnell kommt uns die subjektive Erfahrung dazwischen. Sprechen wir auch noch unterschiedliche Sprachen, steht obendrein jedes Wort in einem eigenen historischen, kulturellen, sozialen und politischen Kontext, der sich nicht einfach abschütteln lässt. Und auch diese Kontexte sind nicht deckungsgleich. Um die Putzmetapher noch einmal aufzugreifen: Sprachen existieren nicht in einem sterilen Raum. Zum Glück, möchte man hier ausrufen, alles andere wäre auch schrecklich langweilig. Texte lassen sich nicht eins zu eins übertragen. Und hier kommt die Übersetzerin ins Spiel.

Begriffe sind im deutschen Text vielleicht sprachlich unauffällig, politisch unauffällig sind sie nicht

Als ich im Juli 2021 (gemeinsam mit meiner Kollegin Ruth Altenhofer) eine Reportage über die katastrophale Situation der Geflüchteten an der belarussisch-polnischen Grenze übersetzte, stieß ich im russischsprachigen Text auf Wendungen wie potok nelegalnych migrantow . Es läge nahe, sie wörtlich als „illegalen Migrantenstrom“ oder gar „illegalen Flüchtlingsstrom“ zu übersetzen. Letzteres würde auf Deutsch besonders glatt und geschmeidig klingen. Doch was passiert dann? Die Begriffe mögen im deutschen Text sprachlich unauffällig sein, politisch unauffällig sind sie nicht. Für deutsche Leserinnen sind sie eindeutig markiert. Im Deutschen haben sich für dieses Phänomen statt des „Flüchtlingsstroms“, der die Migranten nicht nur entmenschlicht, sondern auch noch die Assoziation einer Naturkatastrophe aufruft, mittlerweile Begriffe wie Fluchtbewegung oder Migrationsbewegung etabliert. Ebenso wird nicht von „illegalen Migranten“, sondern von „unerlaubt einreisenden“ Menschen oder von „illegalen Grenzübertritten“ gesprochen. Diese Entwicklung, der ein politisch sensibler Sprachgebrauch zugrunde liegt, ist vergleichsweise neu. Dennoch steht außer Frage, dass ein Deutsch schreibender Autor einen Begriff wie Flüchtlingsstrom nicht verwenden würde, wollte er das Phänomen neutral benennen. Verwende ich diese Begriffe also in der Übersetzung, verorte ich den belarussischen Autor automatisch in einem rechten Spektrum. Zurecht? Nein. Denn im Russischen lesen sich der „Strom“ und die „illegalen“ Menschen neutral und stoßen dem durchschnittlichen Leser nicht auf. Das gleiche Wort ruft also völlig unterschiedliche politische Assoziationen auf. Bei einer auf Wortebene symmetrischen Übersetzung käme es folglich zu einem Missverständnis zwischen Autor und Leserin.

Doch was tue ich als Übersetzerin, wenn ich einen politisch korrekten deutschen Begriff verwende, den es im Russischen so nicht gibt? Suggeriere ich dem Leser damit nicht einen politischen Kontext, der so in Belarus nicht vorherrscht (zumindest nicht flächendeckend, sondern nur unter AktivistInnen). Erzeuge ich damit ein falsches Bild der belarussischen Wirklichkeit? Wäre es also nicht doch besser, den „Flüchtlingsstrom“ zu lassen und die Irritation und vielleicht auch den Missmut der Leserin in Kauf zu nehmen? Oder sogar vorauszusetzen, dass sie reflektiert genug ist und den Kontext mitdenkt? Hier stellt sich die ewige Frage: eingemeindend oder verfremdend übersetzen? Sprich, bringe ich den Text näher zum Leser oder mute ich der Leserin eine Bewegung auf den fremden Kontext zu?

Es sind Entscheidungen im Plural, denn solche Fragen stellen sich in nahezu jedem Satz

Entscheidend ist die Funktion des jeweiligen Textes. Im obengenannten Fall handelt es sich um eine Reportage. Der konkrete journalistische Text verfolgt also das Ziel, verhältnismäßig schnell über die Lage an der belarussisch-polnischen Grenze zu informieren. Der sprachpolitische Kontext ist in diesem Fall weniger relevant. Die Leserin will vorrangig erfahren, was an der Grenze passiert. Würde es sich jedoch um einen literarischen Text, beispielsweise einen Roman, handeln, könnte man annehmen, dass es dem Leser gerade um eine genaue Abbildung der politischen und sozialen Diskurse geht. Dann wäre eine solche Verklärung der bestehenden Verhältnisse durch eine Anpassung an die sprachpolitischen Konventionen der Zielsprache unzulässig.
Aber lässt sich das so pauschal trennen? Natürlich nicht. Der Entscheidung geht jedes Mal eine Analyse voraus: Was will der konkrete Text? Die Unterteilung in journalistische und literarische, informative und künstlerische Texte kann dabei hilfreich sein, aber sie allein bietet noch keine Antwort. Die Entscheidungen trifft die Übersetzerin, indem sie abwägt, welche Elemente relevanter sind. Und es sind Entscheidungen im Plural, denn solche Fragen stellen sich in nahezu jedem Satz. Diese Entscheidungen prägen dann den Rezeptionsvorgang, bestimmen buchstäblich, wie der Text bei der Leserin ankommt. Unser Ziel sollte es also nicht sein, dem Leser eine Kongruenz vorzugaukeln, sondern unsere Arbeit transparent zu machen. Dabei ist nicht nur relevant, dass ein Text übersetzt wurde, sondern auch, von wem. Denn nicht zuletzt spielt der individuelle Sprachgebrauch der Übersetzerin eine Rolle. Es ist sicher nicht der ausschlaggebende Punkt, dass es mir persönlich widerstrebt, Menschen zu dehumanisieren und als illegal zu bezeichnen. Aber diese, meine Haltung mag dazu beigetragen haben, dass diese Elemente in den Fokus meiner Aufmerksamkeit geraten sind.