Was können Essays? Und wie machen sie das? Und was muss man beim Übersetzen beachten, damit sie es in der anderen Sprache auch noch tun? Anja Schloßberger-Oberhammer über das Übersetzen einer journalistischen Form, die in unruhigen Zeiten wichtig ist, weil sie nicht überzeugen will.
„Blütezeiten der Essayistik wurden Perioden gesteigerter geistig-gesellschaftlicher Kultur, andererseits Krisen- und Umbruchzeiten.“1
Es ist mehr als eine Krisen- und Umbruchszeit, in der derzeit Essays in (und außerhalb von) Russland geschrieben werden – ein Genre, das ich für mehrere Medien übersetze. Was mich angesichts der aktuellen Situation besonders für den Essay einnimmt, ist seine Fähigkeit, auch in schlimmsten Zeiten zu inspirieren, sein seismographisches Potenzial (das zwar leider kassandrahaft oft ungehört verhallt) und seine Begabung, die Wahrheit auch in totalitären Systemen zwischen den Zeilen (zumindest) anklingen zu lassen.
Was ist mir wichtig, was sehe ich mir im Vorfeld meiner Übersetzungsarbeit genauer an, wenn ich einen Essay vor mir habe? Es ist die Art und Weise, WIE der Autor seinen Gegenstand, sein Thema umrundet. Mit anderen Worten: Ich untersuche, welche Haltung er einnimmt. Der Essay bezieht oft eine sehr subjektive Position, um seinen Gedanken möglichst freien Lauf zu lassen. Die Haltung ist auch das, was den Essay mit seinen journalistischen Verwandten verbindet. Deshalb werde ich mich ausschließlich auf diesen Aspekt konzentrieren und andere etwaige Probleme beim Essayübersetzen unerwähnt lassen.
Wie kann es gelingen, die Haltung oder subjektive Positionierungen des Verfassers im Ausgangstext möglichst ohne Verluste in eine andere Sprache rüberzubringen? Wie manifestiert sich etwas wie Haltung an der Text- und Rezeptionsoberfläche? Blitzt sie zwischen den Zeilen hervor, baut sie sich selbstbewusst vor dem Leser auf, entsteht sie im Spannungsverhältnis von Text und Zitat, zwischen den Zitaten? Oder legt sie sich in den Tonfall? Finden sich Marker für Ironie oder Sarkasmus? Sind emotionale oder graduelle Marker im Text? Wird explizit oder implizit eine Wertung vorgenommen? Ein bestimmter Stil an den Tag gelegt? Wie subjektiv ist der Text eingefärbt?
Im Gegensatz zu den meisten journalistischen Textsorten, die – bis auf die mit dem Essay verwandten Ausnahmen –, ihren Anspruch auf Objektivität durch Verwendung neutraler Konstruktionen unterstreichen, zieht sich das essayistisch-feuilletonistische Schreiben gern auf ein Subjekt zurück, auf jemanden, der diesen bestimmten Standpunkt vertritt. Allerdings nicht, um sich und seine Meinung selbstverliebt in den Vordergrund zu stellen, sondern weil die Allgemeingültigkeit der Aussage dem Essayisten, der sein Thema mit offenem Ergebnis angeht, als Anmaßung und Hybris erschiene.2
Ergebnisoffenheit
Der Essay will nicht missionieren, überzeugen, überreden3 – deshalb lässt er sein Ergebnis meist offen.4 Er will sein Gegenüber animieren, selbst aktiv zu werden. Er spielt seinem Gegenüber einen – häufig provokanten – Impuls zu, um dessen Gedanken in Bewegung zu versetzen. Ob dieser den Ball aufgreift, verwirft oder zurückschlägt, zeigt nicht zuletzt an, ob der Text und also auch die Übersetzung ihr Ziel erreichen konnten.
Diese Ergebnisoffenheit ist ein Grund, weshalb die ÜbersetzerIn die Haltung dem Text richtig dosiert verabreichen muss, damit die zielsprachlich vermittelte Haltung nicht eindeutiger, plumper oder auch dezenter als die dem Text eingeschriebene Haltung in der Ausgangssprache aufscheint und also idealiter eine ähnliche Wirkung erzielt. Was nun die Haltung in journalistischen Textsorten und Meinungsbeiträgen betrifft, kann es durchaus sein, dass andere Motivierungen zugrundeliegen. Aber eines ist gewiss: Auch sie verlören eine Tonspur, wenn das, was ihre Haltung ausmacht, herausgenommen oder eben nicht mitübersetzt würde.
In dem Sammelband Journalistic Translation Research Goes Global fand ich eine Untersuchung, die zu meinem Thema passt: Evaluation in translation: a case study of Ukrainian opinion articles von Angela Kamyanets. Die Verfasserin analysiert nicht nur, in welchem Maß es in dem von ihr betrachteten Material gelungen ist, Wertungen, Einschätzungen oder Beurteilungen des Verfassers je zu übersetzen, sondern beschreibt auch sprachwissenschaftlich, worin sich die Haltung des Verfassers im Text manifestiert, und illustriert ihre Beobachtungen anhand von Beispielen.
Worin manifestiert sich die Haltung des Autors/der Autorin?
Auch in journalistischen Meinungsbeiträgen wie etwa Kolumne, Glosse oder Leitartikel ist – genau wie beim Essay, dessen Monolog letztlich dialogisch funktioniert5 – die Artikulation der eigenen Haltung6 zum Gesagten „dialogisch ausgerichtet, um den Adressaten in einen gemeinsamen Wertungs- und Überzeugungshorizont einzubinden“.7 Ob es dem Verfasser unbedingt darum geht, seinen Rezipienten zum Teilhaber seines Wertungshorizonts zu machen, weiß ich nicht. Sicher ist, dass die Haltung, die der Verfasser in den Text packt, dem Leser nicht vorenthalten werden sollte. Denn, wie Kamyanets konstatiert: „Es ist offensichtlich, dass sich die ideologische Position eines Textes ändern kann, wenn die Mittel, welche die Haltung zum Ausdruck bringen, beim Übersetzen verändert werden.“8
Wenn das, was die Haltung im Ausgangstext konstituiert, sich anders (abgemildert, verstärkt et cetera) oder aber überhaupt nicht auf den Zieltext überträgt, ändert dieser seine ideologische Position und damit seine Stoßrichtung ebenso wie die Wirkung, die er bei seinem Leser hervorruft oder auch nicht. Nun ist es, zumindest für mich als Übersetzerin, einerseits selbstverständlich, so zu übersetzen, dass kein Wirkungsverlust eintritt. Andererseits kommt Kamyanets in ihrer Studie zur Übersetzungspraxis journalistischer Texte aus dem Ukrainischen ins Englische zu dem Ergebnis, dass die Übersetzungen im Vergleich zum Original zu mehr Neutralität tendieren.9 Sicherlich wäre es interessant zu untersuchen, wie es sich mit anderen Sprachpaaren verhält.
Wie drückt sich Haltung aus?
Für die Neutralisierung gibt es sicher viele und sehr unterschiedliche Gründe, doch mich interessieren hier die sprachlichen Mittel und Verfahren, die einem Text implizit oder explizit Haltung verleihen. Haltung beziehen heißt, bestimmte Wertungen insgeheim oder offensichtlich vorzunehmen: „Wertung ist der weite Oberbegriff für Ausdrücke, die die Einstellung oder Haltung des Sprechenden oder Schreibenden, seinen Standpunkt oder seine Gefühle gegenüber den Einheiten oder Propositionen vermitteln, von denen er oder sie gerade spricht.“10 Der Begriff Wertung umfasst hier alles, was die Haltung des Autors oder Sprechers in eine Äußerung trägt: Es kann sich um Adverbien handeln, die das Geschriebene intensivieren. Ließe man ein „zufällig“, „absolut“, „ganz und gar“ oder „fuchsteufelswild“ links liegen, verlöre der Ausgangstext an Kolorit. Es können auch emotionale Einschätzungen sein, die einer Person oder Situation zugeschrieben werden. Explizit äußert jemand seine Haltung auch, wenn er etwas oder jemanden bewundert, lobt, missbilligt oder kritisiert.11
Klartext
Ein Mittel, das ich persönlich sehr schätze, in Zeiten, in denen häufig die Dinge nicht beim Namen genannt werden, subsumiere ich unter dem Schlagwort Klartext: Wenn zum Beispiel in einem autoritären Staat Politik, offizielle Medien und Nachrichten Euphemismen benutzen, die Konnotationen von Harmlosigkeit bis Dreistigkeit wecken, bezieht der Verfasser allein dadurch Haltung, dass er die Dinge ganz schlicht und wertungsfrei beim Namen nennt. Den offiziellen Sprech nicht zu übernehmen reicht völlig aus, um ihn zu entlarven. Tatsachen sprechen für sich.12
Metaphern und Vergleiche
Ein weiteres schlagkräftiges Werkzeug, das Haltung zeigt, sind lexikalische Metaphern und Vergleiche. Beide sind, so Kamyanets, in höchstem Maße „ideologisch effektiv“, das heißt sie rufen eine emotionale Reaktion hervor.13 Allerdings würden Metaphern häufig idiomatisch übersetzt. Dies führt zwar nicht zu einem Verlust an Bedeutung, aber das Gesagte verliert dennoch an Schlagkraft: Idiome verfügen nicht wie Metaphern und Vergleiche über ein tertium comparationis, also das verbindende Dritte, das heißt das Idiom bringt nicht zwei Dinge miteinander in Verbindung, vielmehr ist seine Bedeutung den Sprechern geläufig.14
Natürlich sind das bei weitem nicht alle Mittel und Verfahren, die beim Übersetzen eine Rolle spielen können, will man die ursprüngliche Haltung eines Textes bewahren15, doch möge es als Einblick dienen.
Zum Schluss möchte ich das Motto aufgreifen und auf den Essay, die Essayistik zurückkommen. Hochkonjunktur hatte die Essayistik in Zeiten hoher geistiger Kultur, in denen sich der Essay lustwandelnd in Salons dem freien Spiel der Vorstellungskräfte überlassen konnte. Hamburger schreibt, aus diesem leichtfüßigen und ziellos umherspazierenden Essay hätten „die totalitären Systeme dieses Jahrhunderts ein Verbrechen gemacht“.16 Das stimmte und stimmt immer noch. Doch auch und gerade in Krisenzeiten bewahrt die Essayistik, und sei sie zurückgedrängt in kleinste Spielräume, Haltung und hält es mit der Wahrheit und hält hoffentlich durch. Je enger der Spielraum für Journalisten und Autoren, desto größere Behutsamkeit erfordert es, Haltung zu bewahren.
Postskriptum nach Kriegsbeginn
Die sprachliche Situation für oppositionelle Autoren, Dichter und Künstler in Russland – sprich für das freie Wort und Schaffen – hatte sich aufgrund diverser Gesetzesänderungen bereits 2021, also vor dem russischen Angriffskrieg, vor dem Überfall auf die Ukraine, immer weiter verschärft – fingierte Verfahren, Verfolgung, strafrechtliche Konsequenzen (Stichwort ausländische Agenten et cetera). Nach dem Überfall auf die Ukraine verpasste das russische Regime der Bevölkerung jedoch einen noch fester angeschnallten Maulkorb: Wörter wie „Krieg“ ebenso wie „Frieden“ dürfen nicht im Zusammenhang mit gegenwärtigen Ereignissen verwendet werden. Natürlich hat das Auswirkungen auf die Möglichkeit, schreibend Haltung zu wahren. Texte, Interviews und überhaupt jedes sprachliche Verhalten, das andenkt gegen die offiziell propagierte Wirklichkeitsversion , ist in Russland gezwungen, Sprachmanöver zu vollziehen, um einerseits die Wahrheit zu sagen, dies aber andererseits auf eine Weise zu tun, die den Sprecher nicht (allzu sehr) gefährdet. Die russische Sprache hält dafür, durch ihr lang gewachsenes Verhältnis zur Obrigkeit, ein Arsenal sprachlicher Praktiken bereit: etwa die so genannte ptitschi jasyk , die Vogelsprache, oder auch die esopow jasyk , die nach dem Fabeldichter Äsop benannte Sprache: Man spricht und schreibt also auf eine Art und Weise, die nur innerhalb bestimmter Kreise (wenn überhaupt) verstanden werden kann.
Den Autoren ist dieser Umstand, dass sie also für ein ganz bestimmtes, enges Publikumssegment schreiben, durchaus bewusst: Nachdem ich einen Artikel, der in einer russischen Tageszeitung erschienen war, gelesen hatte und den Autor fragte, ob es nicht sinnvoll wäre, diesen Text ins Deutsche zu bringen und auch hierzulande zu veröffentlichen, bekam ich zur Antwort, dies sei keine gute Idee. Es handle sich um einen Text in der Vogelsprache. Texte, die bewusst in der sogenannten Vogelsprache geschrieben worden seien, könne man nicht einfach so übersetzen, ohne als Autor hier – in der freien oder zumindest freieren Welt – missverstanden zu werden, da ja Vieles nicht ausgesprochen, wenngleich sehr wohl gesagt werde.
Die aktuelle Situation bringt also weitere Herausforderungen für Übersetzer mit sich, für die ich hier nur die Sensibilität in fragender Form schärfen möchte: Wie soll man sich zu dem Mitgemeinten, Mitgesagten, aber Unausgesprochenen als Übersetzer:in verhalten? Soll man, um Missverständnisse zu vermeiden, Selbiges ergänzen? Den Leser im Kommentar entsprechend instruieren? Oder lässt man diese Texte am Besten einfach da, wo sie herkommen? Macht es überhaupt Sinn, Texte zu übersetzen, die so geschrieben sind, dass sie innerhalb eines totalitären Kommunikationssystems nur einen kleinen Sprecherkreis erreichen? Und was müssten dann die Übersetzungen leisten? Den Text belassen und kommentieren? Den Autor, falls möglich, befragen, was er/sie unter anderen, freien Bedingungen zu sagen gehabt hätte?
Schweikle, G. und I. (1984): Metzler Literatur Lexikon: Stichwörter zur Weltliteratur, Stuttgart, Stichwort „Essay“
Haas, G. (1969): Essay, Stuttgart, S. 50
Haas, 1969, S. 38
Haas, 1969, S. 51f.
Haas, 1969, S. 49
Kamyanets, A. (2021): „Evaluation in translation: a case study of Ukrainian opinion articles«, in: Valdeón, R. A. (Hrsg.): Journalistic Translation Research Goes Global, London, S. 69-81, hier S. 70
Martin, J. R./White, P.R.R. (2005): The language of evaluation: Appraisal in English, Basingstoke, S. 95; zitiert nach Kamyanets 2021, S. 70
Kamyanets, 2021, S. 70
Kamyanets, 2021, S. 79
Thompson, G./Hunston, Susan (2000): „Evaluation: An Introduction“, in: Hunston, S./Thompson, G. (Hrsg.): Evaluation in text: Authorial stance and the construction of discourse, Oxford, S. 1-27, S. 5; darauf bezieht sich: Kamyanets, 2021, S. 71
Kamyanets, 2021, S. 71
Kamyanets, 2021, S. 73
Kamyanets, 2021, S. 74
Kamyanets, 2021, S. 75
Zur Ironie s. Kamyanets, 2021, S. 76-79
Hamburger, Michael (1965): „Essay über den Essay“, in: Akzente: Zeitschrift für Dichtung, 12. Jahrgang, Heft 4/65, München, S. 290-292, S. 290