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Die unglaubliche Revolution

Olga Shparaga
Text: Olga ShparagaÜbersetzung: Anselm BühlingTitelbild: Der 24-jährige Student Alexander wurde festgenommen und im Minsker Okrestina Gefängnis gefoltert / Foto © Jędrzej NowickiBildredaktion: Andy Heller23.02.2024

Am Abend der Präsidentschaftswahl, dem 9. August 2020, brach in ganz Belarus eine historische Protestwelle los, getragen von zehntausenden Menschen ganz unterschiedlichen Alters und aus den verschiedensten Berufsgruppen. Diese Revolution gehört zu den 15 größten und längsten Protestwellen der letzten 50 Jahre, bei einigen Parametern übertraf sie sogar die ukrainische Protestbewegung von 2014  und die venezolanische von 2017.1  

Trotz der schieren Größe haben die Proteste  ihr Ziel nicht erreicht: Die Gesellschaft konnte ihre Forderung nach mehr Demokratie und Freiheit nicht durchsetzen. Im Gegenteil: Der Autoritarismus in Belarus hat sich nach 2020 weiter konsolidiert, heute kontrolliert der Staat die Gesellschaft sogar mit Mitteln, die totalitären Regimen eigen sind

Die Verschärfung der Repression schürt Angst und wirkt demobilisierend. Sie verrät aber auch die Angst des Regimes selbst, das mit der Gesellschaft nun vor allem mittels unverhohlener Gewalt „interagiert“.  

OMON-Einheiten auf der Brücke in der Maxim Bahdanowitsch Straße in den ersten Stunden der Massenproteste / Foto © Jędrzej Nowicki

Die Proteste von 2020 waren die umfassendsten in der Geschichte von Belarus. Ihre aktive Phase erstreckte sich über mehr als 100 Tage; sie waren prodemokratisch und friedlich, und praktisch alle sozialen Gruppen in ganz Belarus waren involviert. Auslöser waren die für den 9. August 2020 angesetzten Präsidentschaftswahlen der Republik Belarus. Zunächst schien nichts darauf hinzudeuten, dass sich am Status quo etwas ändern könnte: Seit 1994 wurde das Land von dem Dauerregenten Alexander Lukaschenko beherrscht, der die politische Landschaft und die Gesellschaft als Ganzes unter seine Kontrolle gebracht hatte. Protestkundgebungen fanden schon immer wieder in den 1990er und 2000er Jahren bei den Präsidentschaftswahlen und Referenden zu Verfassungsänderungen statt. Vor allem 2006 und 2010 erreichten sie vier- und fünfstellige Teilnehmerzahlen, wurden allerdings auch schnell und effektiv unterdrückt. 

Eine Frau steht in der Nähe des Okrestina Gefängnis. Sie hält einen Strauß mit weißen Blumen und weißer Schleife. Rote und weiße Blumen und Bänder wurden zu einem Symbol der Proteste / Foto © Jędrzej Nowicki

Im Mai 2020 standen die Menschen in Minsk und anderen Städten jedoch kilometerlang Schlange, um die Kandidaten zu unterstützen, die gegen Lukaschenko antreten wollten. Der populärste von ihnen, der damals 56-jährige Viktor Babariko, konnte insgesamt 400.000 Unterstützer-Unterschriften sammeln und wurde daraufhin Mitte Juni 2020 verhaftet.  

Auch zwei weitere Bewerber erfreuten sich großer Beliebtheit: der 42-jährige Geschäftsmann und Blogger Sergej Tichanowski und der 55-jährige Waleri Zepkalo, ein bekannter IT-Unternehmer. Tichanowski wurde am 29. Mai 2020 verhaftet; Zepkalos Kandidatur wurde nicht zugelassen und er musste aufgrund von Bedrohungen emigrieren. Die neuen Kandidaten kamen nicht aus dem Umfeld der Oppositionsparteien, die in all den Jahren von Lukaschenkos Herrschaft nur um den Preis scharfer Verfolgungsmaßnahmen – bis hin zu Gefängnisstrafen – hatten existieren können, ohne wirklich etwas zu erreichen. Und sie pflegten auch nicht den gängigen oppositionellen Diskurs, der sich weniger um die Forderungen verschiedener – vor allem jüngerer – Gruppen der Gesellschaft drehte als um die belarussische Kultur, Vergangenheit und Sprache.  

Dieses Profil der belarussischen Opposition hatte eine lange Tradition. Es entstand zum einen aus der Arbeit der Belarussischen Volksfront (BNF), die 1988 als erste NGO entstand und aus der ein Jahr später die Partei BNF hervorging. Zum anderen war es durch die Tätigkeit der nonkonformistischen belarussischen Intelligenzija geprägt. Sie hatte sich Mitte der 1980er Jahre breiter gesellschaftlicher Unterstützung erfreut, was auf die Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Lage und die den Folgen der Katastrophe von Tschernobyl zurückging, deren todbringende Emissionen zu 70 Prozent Belarus trafen. Die meisten Organisatoren und Mitglieder der NGO und der Partei BNF – auch der Vorsitzende Sjanon Pasnjak – kamen aus der Intelligenzija. Sie interessierten sich in in den 1970er Jahren erster Linie nicht für den Kampf um Demokratie und die Absetzung des kommunistischen Regimes, sondern für die „nationale Wiedergeburt“ – die Belebung der belarussischen Sprache und Kultur. Zu weiteren Schlüsselpunkten ihres Programms gehörten die Aufarbeitung stalinistischer Repressionen, der Aufbau einer eigenständigen Nation und der Widerstand gegen den „russischen Imperialismus“.2  

Diese Tendenz setzte sich in den folgenden Jahrzehnten fort. Die Menschen, die sich Anfang der 1990er Jahre für die „nationale Wiedergeburt“ einsetzten – so der Philosoph Valentin Akudowitsch , der sich damals selbst zu den Anhängern dieser Idee zählte und sich in den 2000er Jahren zum Kritiker wandelte – hätten eher in der Vergangenheit als in der Gegenwart gelebt und das Konzept eines ethnischen Nationalstaats vertreten, das Akudowitsch im 21. Jahrhundert nicht mehr als zeitgemäß ansieht.3

Die Slogans der neuen Bewerber zielten auf Wandel statt „nationale Wiedergeburt“. Sie forderten ein Ende der wirtschaftlichen und politischen Stagnation und eine demokratische Zukunft mit wechselbaren Regierungen, in der die Bürger dank ihrer Kenntnisse, neuer Technologien und Kooperationen aktiv auf den politischen Entscheidungsprozess einwirken können. Viele, die die Kandidaten aktiv unterstützen – etwa in der von Viktor Babarykos Wahlkampfteam gegründeten Initiative Ehrliche Leute – sagten, Belarus brauche Meinungsfreiheit und überhaupt frische Luft. Sie brachten damit nicht nur ihr eigenes Lebensgefühl zum Ausdruck, sondern auch das des Milieus, dem sie entstammten.4 

Ein Arzt behandelt einen freigelassenen Demonstranten in der Nähe des Gefängnisses in der Okrestina Straße in Minsk, 14. August 2020 / Foto © Jędrzej Nowicki

Dass die Gesellschaft, als sie im Sommer 2020  aktiv wurde, an die eigenen Kräfte glaubte und sich dem paternalistischen Regime entgegenstellte, lag unter anderem an der Situation, die durch die Corona-Pandemie entstanden war.  

Ab Mitte März 2020 stiegen die Zahlen der COVID-19-Infektionen und der durch sie bedingten Todesfälle zunehmend an. Die Phrasen der Regierung hatten nichts mehr mit dem zu tun, was Ärzte in den nichtstaatlichen Medien schilderten und was Menschen erlebten, die mit der Krankheit in Kontakt kamen, vor allem in den Regionen. Die Menschen glaubten nicht den offiziell verkündeten Zahlen und waren empört über die Reaktion des Staates und Lukaschenkos Auftreten. Der Präsident weigerte sich, die Pandemie ernst zu nehmen und schob die gesamte Verantwortung für das Geschehen den Bürgerinnen und Bürgern von Belarus selbst zu.   

Das brachte das Fass zum Überlaufen. Die Menschen hatten genug von dem Modell des paternalistischen „Sozialstaats“, für das Lukaschenkos Herrschaft stand und auf das er sich in seinen offiziellen Verlautbarungen immer wieder berief. Bis Anfang der 2010er Jahre war es ihm – wie Studien belegen und zahlreiche Expertinnen und Experten bezeugen – tatsächlich gelungen, dieses Modell halbwegs zu erhalten. Anders als in den Nachbarstaaten war in Belarus nach der Unabhängigkeit 1991 nicht nur die neoliberale Privatisierung in der Industrie und anderen Branchen ausgeblieben, sondern es hatte auch eine mehr oder weniger gleichmäßige Verteilung der Einkünfte zwischen allen gesellschaftlichen Gruppen gegeben. In den 2010er Jahren zählte Belarus zu den zehn Ländern der Welt mit der kleinsten Einkommensungleichheit.5

Da diese Wirtschafts- und Sozialpolitik mit Repression einherging, haben Experten von einem besonderen Vertrag zwischen Lukaschenko und der Gesellschaft gesprochen. Der belarussische Philosoph Wladimir Furs etwa hat dies als ein System des freiwilligen Zwangs bezeichnet: Die Bürgerinnen und Bürger genießen soziale Unterstützung, büßen aber zugleich politische Rechte ein und müssen bestimmte Beziehungen mit dem Staat eingehen, etwa durch den Eintritt in regierungsnahe Organisationen an Schulen und Universitäten und in Staatsunternehmen.6  

Ab Ende der 2000er verschlechterte sich jedoch die ökonomische Situation, unter anderem wegen der Weltwirtschaftskrise ab 2007. Der Staat leitete notgedrungen wirtschaftliche Liberalisierungsmaßnahmen ein und förderte zudem – offen oder verdeckt – die Arbeitsemigration und den Wechsel in die Privatwirtschaft. 2019 waren nach offiziellen Angaben 56,1 Prozent der Belarusinnen und Belarusen im privatwirtschaftlichen Sektor tätig.7 Besonders dynamisch entwickelte sich die IT-Branche, die – nicht zuletzt dank steuerrechtlicher Sonderregelungen – seit 2005 stark im Wachsen begriffen war. Ende 2019 trugen IT-Dienstleistungen 6,5 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt von Belarus bei – fast so viel wie die Land-, Forst- und Fischwirtschaft, deren Anteil zusammengenommen bei 7,2 Prozent lag.8  

Diese begrenzte wirtschaftliche und politische Liberalisierung, die auch als „sanfte Belarussifizierung“ bezeichnet wurde und in deren Zug sich die Regierung um eine Verbesserung ihrer Beziehungen zu den EU-Ländern bemühte, spiegelte sich in der zweiten Hälfte der 2010er Jahre auch im Bereich der unabhängigen Kulturszene und der sozialen NGOs wider – und das nicht nur in Minsk, sondern im ganzen Land.9 Ende des Jahrzehnts gab es in Belarus insgesamt ca. 3.000 bis 3.500 NGOs mit unterschiedlicher Ausrichtung.10 Sie nutzten erstmals auch digitale Technologien, waren horizontal vernetzt und arbeiteten mit kleinen Unternehmen und IT-Firmen zusammen.  

Wichtig sind insbesondere die Crowdfunding-Plattformen, die um diese Zeit entstanden, und die neuen öffentlichen Räume und Coworking Spaces in Minsk, Brest, Hrodna, Wizebsk, Homel, Mahiljou sowie einigen kleineren Orten. Schwerpunkt der Projekte waren unter anderem Bildung und Aufklärung, Ökologie, Urbanistik, Gleichstellung der Geschlechter und soziale Inklusion, das kulturelle Erbe und Gedächtnis sowie gesellschaftskritische Kunst und Theater. Dabei ging es auch darum, durch Advocacy-Arbeit und auf verschiedene andere Weisen auf die soziale Landschaft in Belarus und ihre staatlich oktroyierten Regeln einzuwirken.  

Zugleich musste der Staat wegen wirtschaftlicher Stagnation die Sozialausgaben kürzen. Die Preise für die Bahn, den öffentlichen Nahverkehr und Kommunikationsdienstleistungen wurden erhöht, die Renten praktisch eingefroren und die Staatsbediensteten zum überwiegenden Teil auf Kurzzeitverträge umgestellt.11 Die Unzufriedenheit mit diesem vertikalen „Gesellschaftsvertrag“ entlud sich 2017 erstmals in umfassenden regionalen Protesten. Sie richteten sich gegen das sogenannte „Schmarotzergesetz“, das unter anderem die zunehmende wirtschaftliche und soziale Ungleichheit zwischen Minsk und den Regionen offenkundig werden ließ.  

In der Pandemiesituation traf die Enttäuschung der vulnerabelsten Bevölkerungsgruppen, die bisher loyal zu Lukaschenko gestanden hatten, auf eine Gesellschaft, die bereit war, in Eigenregie eine „Fürsorge-Infrastruktur“ zu errichten und zu betreiben. In vieler Hinsicht gelang ihr dies auch. Im März 2020 wurde die Kampagne ByCovid gestartet, eine gesellschaftliche Initiative zur Unterstützung von Ärzten und Kliniken. In nur 45 Tagen brachten Freiwillige mit vereinten Kräften per Crowdfunding 250.000 US-Dollar zur Beschaffung der notwendigsten Geräte und Infektions-Schutzmittel zusammen.12 Zudem nähten die Aktivistinnen und Aktivisten der Kampagne in verschiedenen belarussischen Städten auch Schutzanzüge, kümmerten sich um den Einkauf und den Transport von Masken, Antiseptika und Geräten sowie das Sortieren von Medikamenten und Schutzmitteln. Dutzende von Cafés und Restaurants beteiligten sich an der Verpflegung der Ärzte und Freiwilligen. Es wurde eine eigene Website eingerichtet, über die die Ärzteteams Hilfe anfordern konnten. Fast alle medizinischen Einrichtungen des Landes taten das.

Diese horizontal organisierte Gemeinschaft war die Basis der Protestbewegung von 2020. Sie brachte während der ersten Welle nicht nur die neuen männlichen Protagonisten Sergej Tichanowski, Viktor Babariko und Waleri Zepkalo hervor, sondern – nach deren Festnahme und Inhaftierung – auch weibliche Leitfiguren: Swetlana Tichanowskaja, Maria Kolesnikowa und Veronika Zepkalo. Die studierte Pädagogin Tichanowskaja, Ehefrau von Sergej Tichanowski, war zuvor als Hausfrau tätig gewesen. Die Musikerin und Kulturmanagerin Kolesnikowa hatte das Wahlkampfteam Viktor Babarikos geleitet und Veronika Zepkalo das Team ihres Ehemanns Waleri Zepkalo.  

Diese drei Frauen aus der Millennial-Generation, die bei der Präsidentschaftswahl 2020 die Hälfte der Wählerschaft stellte,13 schlossen sich Mitte Juli zu einem „vereinten Wahlkampfteam“ zusammen. Das Team unterstützte Swetlana Tichanowskaja, die nach der Inhaftierung ihres Mannes selbst als Kandidatin für das Präsidentenamt angetreten war und die offizielle Zulassung erhalten hatte. Sie begründete ihre Kandidatur mit der Liebe zu ihrem Mann und zu ganz Belarus und positionierte sich als Übergangskandidatin, die bei einem Sieg alle politischen Gefangenen freilassen und neue, faire Wahlen organisieren würde.  

Das Symbol des vereinten Frauen-Wahlkampfteams – die geballte Faust, das Herz und das Victory-Zeichen V – wurde nicht zuletzt durch die Version der Künstlerin Antonina Slobodtschikowa bekannt, die schon einen Tag nach der Gründung des Teams entstand. Die Kampagne wurde in zahlreichen Städten geführt. Hunderttausende Menschen kamen zu den Veranstaltungen des Teams, ein Novum in der Geschichte von Belarus. Lukaschenko erklärte derweil bei seinen Auftritten, die belarussische Verfassung sei „nicht für Frauen gemacht“ und die Gesellschaft akzeptiere die Kandidatur einer Frau nicht. Er schlüpfte sogar in die Pose des gewalttätigen Liebhabers und verkündete, er werde seine Geliebte – womit er den Staat Belarus meinte – niemand anderem überlassen.    

Trotzdem erfuhren Swetlana Tichanowskaja und das vereinte Team ein beispielloses Ausmaß an gesellschaftlicher Unterstützung. Tausende von Menschen im ganzen Land meldeten sich zur Wahlbeobachtung und sprachen sich in den sozialen Medien per Text- und Videobotschaft für faire Wahlen aus. Die IT-Community in Belarus und in der Diaspora entwickelte unter der Leitung von Pawel Liber die Digitalplattform Golos für alternative Stimmenauszählung. Über sie konnten in Kooperation mit der digitalen Plattform Subr und mit Unterstützung Initiative Ehrliche Leute die Wahlprotokolle von 22,7 Prozent aller Wahlbezirke – 1310 von insgesamt 5767 – digital ausgewertet werden.14 Anhand der Daten sowie der Aussagen von Mitgliedern der Wahlkommissionen ließ sich nachweisen, dass die Ergebnisse in mindestens einem Drittel der Wahlbezirke gefälscht worden waren. In den Bezirken, in denen die Stimmen ordnungsgemäß gezählt wurden, erhielt Swetlana Tichanowskaja über 50 Prozent der Stimmen.  

Die in Berlin lebende belarussische Künstlerin Marina Naprushkina hat dieser Unterstützung, die nicht allein Swetlana Tichanowskaja, sondern dem gesamten vereinten Frauenteam galt, ihr Textkunstwerk „Ich will eine Präsidentin“ gewidmet. Sie hebt darin besonders die Feministin Maria Kolesnikowa hervor, die durch ihre Videobotschaften, ihre unermüdliche Teilnahme an Protestkundgebungen und ihre Losungen bekannt wurde: „Wir Belarussen sind unglaublich!“ und „Wir müssen auf dieses Regime einhämmern, einhämmern, einhämmern“. Im September 2020 zerriss Kolesnikowa an der Grenze ihren Pass, um ihre gewaltsame Ausweisung aus Belarus zu vereiteln. Heute sitzt sie – wie Tausende andere politische Gefangene in Belarus – im Gefängnis, wo sie Folterungen und Todesgefahr ausgesetzt ist.  

Ihr Spruch „Wir Belarussen sind unglaublich!“ passt zu einem Gedankengang des iranisch-amerikanischen Wissenschaftlers Asef Bayat, der die Revolutionen des Arabischen Frühlings um 2010/2011 erforscht. In seinem 2021 erschienenen Buch Revolutionary Life: The Everyday of the Arab Spring weist Bayat darauf hin, dass diese Revolutionen möglich waren, weil gewöhnliche (ordinary) und sehr verschiedene Menschen – junge und alte, einkommensschwache und wohlhabende, Männer, Frauen und andere – zu außergewöhnlichen (extraordinary) wurden. Aus gruppenspezifischen Forderungen wurden Forderungen der ganzen Gesellschaft, und die Beteiligung an den Protesten nahm vielfältige Formen an.15 Wie die belarussische Revolution von 2020 hatten auch die Revolutionen des Arabischen Frühlings eine Vielfalt von Leitfiguren und zeichneten sich durch horizontale Organisationspraktiken und die zentrale Funktion digitaler Technologien aus. Die Frauen, die in ihnen eine wichtige Rolle spielten, hatten einige Gemeinsamkeiten mit Maria Kolesnikowa.

Am 9. August erlebten die Menschen in ganz Belarus, wie die Wahlergebnisse vor ihren Augen gefälscht wurden. Noch in derselben Nacht gingen sie in Minsk, Brest und anderen Städten auf die Straße. Als die Zentrale Wahlkommission verkündete, 80,23 Prozent der Wählerschaft hätten für Lukaschenko gestimmt, heizte das die Proteststimmung zusätzlich an. Am selben Abend wurde das Internet praktisch in ganz Belarus gesperrt. 

Silowiki in der Nähe der Stele der Heldenstadt, 23. August 2020 / Foto © Jędrzej Nowick

In der Nacht vom 9. zum 10. August fanden in 30 belarussischen Städten Protestkundgebungen statt. Tausende beteiligten sich daran. Miliz, OMON und die Truppen des Innenministeriums gingen mit Tränengas, Blendgranaten, Wasserwerfern und Gummigeschossen gegen die friedlich Demonstrierenden vor. In Brest kamen sogar Schusswaffen zum Einsatz. Vom 9. bis zum 12. August wurden 6.000 Menschen verhaftet. Mindestens zwei Personen wurden getötet – eine in Minsk und eine in Brest – und Tausende körperlich misshandelt.16 

Über Telegram-Kanäle und andere Onlinemedien wurden unzählige Foto-, Ton- und Videozeugnisse der Gewaltanwendung verbreitet. Die Menschen auf den Videobildern waren mit blauen Flecken übersät. Viele wurden mit Knochenbrüchen und anderen Verletzungen, die chirurgische Eingriffe erforderten, ins Krankenhaus eingeliefert. Die verletzten Männer und Frauen berichteten, wie brutal sie geschlagen worden waren – erst bei der Verhaftung, dann im Gefangenentransporter, auf dem Hof der Bezirksinnenverwaltung und schließlich im Gefängnis. Die Verhafteten – darunter auch solche, die zufällig ins Epizentrum der Gewalt geraten waren – wurden in überfüllten Gewahrsamsräumen und Gefängniszellen festgehalten. Sie mussten stundenlang mit dem Gesicht nach unten und gefesselten Händen auf dem Fußboden oder übereinander liegen und erhielten weder Essen noch Wasser. Schläge und Tritte führten dazu, dass einige für lange Zeit das Bewusstsein verloren. Gleichzeitig verbreitete sich die Nachricht, dass das Regime Swetlana Tichanowskaja in der Nacht vom 10. auf den 11. August zur Ausreise nach Litauen gezwungen hatte.

Opfer der Miliz-Gewalt Artjom in einem Minsker Krankenhaus / FOTO © Jędrzej Nowicki

Die zahllosen Belege für das gewaltsame Vorgehen in den ersten drei Tagen nach der Wahl, die über verschiedene Telegram-Kanäle und andere Kommunikationswege – vor allem NEXTA – verbreitet wurden, lösten die zweite große Protestwelle aus.17 Die Menschen bildeten Ketten der Solidarität. Am 12. August schlossen sich Frauen auf dem Kamarouski rynak, einem Markt im Stadtzentrum von Minsk, zu einer solchen Kette zusammen. Der Protest blieb weiterhin friedlich und richtete sich vor allem gegen die Anwendung von Gewalt.   

Laut Erhebungen des britischen Thinktanks Chatham House beteiligte sich allein im August und September 2020 ein Fünftel der belarussischen Stadtbevölkerung an Protesten.18 An den Kundgebungen Ende November 2020 nahmen vor allem Einwohnerinnen und Einwohner von Minsk und anderen Städten teil. Die Männer waren leicht in der Mehrzahl, und die größte Altersgruppe war die der 31- bis 40-jährigen, zu der zwei von fünf Befragten zählten. Aber auch die 18- bis 30-jährigen und die 41- bis 50-jährigen waren gut vertreten. Die Protestierenden verfügten zum größten Teil über Hochschulbildung und arbeiteten vorwiegend in IТ, Industrie, Handel, Baugewerbe, Wissenschaft und Bildung, aber auch vielen anderen Berufsfeldern. Die IT-Branche war mit 15 Prozent am stärksten vertreten.19 In Staatsunternehmen wurde ebenso gestreikt wie in TV-Sendern und Universitäten. Lehrer, Sportler, Künstler, Rentner und Menschen mit Behinderung schlossen sich jeweils untereinander zusammen, um Aktionen zu organisieren und die Opfer staatlicher Gewalt zu unterstützen. Besondere Bedeutung hatten die Hofgemeinschaften der Wohnblöcke und ihre Aktionen.

Okrestina Gefängnis in Minsk / Foto © Jędrzej Nowicki

Eine wichtige Institution der Protestbewegung war der Koordinationsrat. Er war auf Swetlana Tichanowskajas Initiative hin gebildet worden, um eine gesellschaftliche Plattform für Verhandlungen mit dem Regime zu schaffen. Der Rat, dessen Präsidium unter anderem die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch angehörte, forderte die Freilassung aller politischen Gefangenen, das Ende der Repressionen und die Einleitung neuer, fairer Wahlen. Auch die im Ausland lebenden Belarussinnen und Belarussen unterstützten ihre Landsleute vor Ort mit ganzem Einsatz. Erstmals seit der Unabhängigkeit empfanden sie Stolz darauf, der politischen Gemeinschaft von Belarus oder der belarussischen Nation anzugehören. 

Eine der wichtigsten Protestaktionen des Sommers und Herbstes 2020 war der landesweite Sonntagsmarsch am 16. August. Allein in Minsk nahmen zwischen 200.000 und 500.000 Menschen daran teil. Lukaschenko versuchte damals vergeblich, seine Anhängerschaft zu aktivieren. Im August 2020 blieb die proautoritäre Mobilisierung in Belarus äußerst schwach. Es waren vor allem die Silowiki, die weiterhin an Lukaschenko festhielten (wobei mindestens 461 im Herbst 2020 aus dem Beruf ausschieden).20 

Trotzdem kam es in Belarus auch nach 100 Tagen intensiver Proteste nicht zu einem Regimewechsel. Wie ein vergleichender Blick zeigt, ist das jedoch nicht ungewöhnlich. Ähnlich verlief die Entwicklung etwa bei den Protesten in der Türkei 2013 oder in Polen 1980/81. Das politische Erwachen der belarussischen Gesellschaft zwang das Lukaschenko-Regime zur Verschärfung der Repressionen. Diese haben ein in der jüngsten Geschichte des Landes bisher nie gekanntes Ausmaß erreicht. Das Regime selbst scheut nicht davor zurück, Parallelen zu den stalinistischen „Säuberungen“ der 1930er Jahre zu ziehen.

Nach der Freilassung aus dem Foltergefängnis Okrestina / FOTO © Jędrzej Nowicki

Zurzeit gibt es in Belarus nicht weniger als 1613 politische Gefangene. In den letzten drei Jahren werden Monat für Monat hunderte Menschen festgenommen und zu bis zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt. Es gibt mehr als 5.000 politische Strafverfahren, und über 50.000 Menschen sind seit 2020 verschiedenen Formen der Verfolgung ausgesetzt. Sobald jemand aus dem Gefängnis freikommt, nimmt umgehend ein neuer politischer Häftling seinen oder ihren Platz ein. Zudem sind über 1.400 NGOs und über 600 unabhängige Medien zwangsweise geschlossen worden oder müssen mit Schließung rechnen. 200.000 bis 500.000 Belarussinnen und Belarussen mussten das Land verlassen, weil ihnen politische Repressionen oder wirtschaftliche Sanktionen drohten.   

Die wichtigsten Medien, etwa Zerkalo.io (bis 2020 Tut.by) oder Nasha Niva, die älteste Zeitung von Belarus, setzen ihre Arbeit im Ausland fort. Auch die verschiedenen prodemokratischen politischen Organisationen sind für die Aktivitäten der Diaspora von entscheidender Bedeutung, vor allem das Büro von Swetlana Tichanowskaja, der Koordinierungsrat und das Vereinigte Übergangskabinett. Letzteres wurde am 9. August 2022 unter dem Druck der belarussischen Gesellschaft geschaffen, die eine deutlichere Reaktion der prodemokratischen Gemeinschaft auf die Ausweitung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ab Februar 2022 forderte. 

Dieser großflächige Krieg prägt neben den unausgesetzten Repressionen den Kontext, in dem die belarussische Gesellschaft heute existieren muss. Während Lukaschenko den russischen Präsidenten Putin in der neuen Phase des von ihm entfesselten Kriegs unterstützt , zeigt die Gesellschaft Solidarität mit der Ukraine. Anfang 2024 wurden in Belarus nicht weniger als 1645 Menschen aus diesem Grund politisch verfolgt. 82 von ihnen erhielten Gefängnisstrafen zwischen einem und 23 Jahren. Die Bürger und Bürgerinnen von Belarus haben das Gefühl, unter einer doppelten Besatzung zu leben: zum einen durch das illegitime belarussische Regime, zum anderen durch die militärische Präsenz Russlands.   

Dieser zweifache Kontext hat dazu geführt, dass im Kampf für die demokratische Zukunft von Belarus auch die Frage der nationalen Unabhängigkeit und Erhalt der eigenen Staatlichkeit an Aktualität gewonnen hat. Neben dem Widerstand gegen den Autoritarismus und dem Bekenntnis zu Demokratie und Menschenrechten stehen heute in Belarus selbst und in der Diaspora auch die Bewahrung der belarussischen Kultur, die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und das historische Gedächtnis wieder auf der Tagesordnung.

In der Nähe der Stele der Heldenstadt am Prospekt der Sieger, unweit des Zentrums der Hauptstadt. Der Platz an der Stele war ein zentraler Versammlungsort für die ersten Sonntagsmärsche / Foto © Jędrzej Nowicki

Das verbindende Element zwischen all diesen Aufgaben und Themen ist die Solidarität, die die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Proteste 2020 begründet haben und die den Ausdruck „unglaublich“ wirklich rechtfertigt. Die Frau eines politischen Gefangenen, die noch in Minsk lebt und anonym bleiben möchte, hat das im April 2023 so ausgedrückt: „Das Jahr 2020 lebt weiter. Wenn ich durch die Stadt laufe und die Menschen sehe, denke ich: Ihr wart ja alle bei den Sonntagsmärschen dabei! Wir waren damals vereint und haben etwas Unglaubliches gespürt. Und auch wenn wir heute alle unter der Besatzung leben, die Stadt ist immer noch unsere. Die Menschen unterstützen sich gegenseitig. Man hat das Gefühl, sich aufeinander verlassen zu können. Nur findet das heute nicht mehr auf der Straße statt, sondern in den privaten Beziehungen, in Gesprächen, in verschiedenen Situationen, denen wir ausgesetzt sind. Und diese Unterstützung hilft mir, auszuhalten, dass mein Mann im Gefängnis sitzt.“21

    Fußnoten

    belinstitute.com, Toward a New Belarus: Transformation Factors, 27.09.2021, S. 68.

    Astroŭskaja, Taccjana, Kul’tura i supraciŭ. Intėlihencyja, inšadumstva i samvydat u saveckaj Belarusi (1968–1988), Balestok 2022, S. 166. Auf Englisch: Tatsiana Austrouskaya, Cultural Dissent in Soviet Belarus (1968–1988). Intelligentsia, Samizdat and Nonconformist Discourses, Harrassowitz 2019.

    Akudowitsch, Valentin, Der Abwesenheitscode. Versuch, Weißrussland zu verstehen, Suhrkamp 2013, S. 106.

    Shparaga, Olga, U revoljucii ženskoe lico. Slučaj Belarusi, Petro ofsetas 2021, S. 160. Auf Deutsch: Shparaga, Olga, Die Revolution hat ein weibliches Gesicht. Der Fall Belarus, Suhrkamp 2021. 

    Stykow, Petra, Der lange Abschied vom Bac’ka, in: Osteuropa, 70. Jahrgang, Heft 10–11, Berlin 2020, S. 107–125.

    Furs, Vladimir, Belorusskij proekt «sovremennosti»?, 2007. Furs, Vladimir, Sočinenija v 2 t. EGU, 2012, S. 137–154, S. 159.

    Nacional’nyj statističeskij komitet Respubliki Belarus’, Belarus’ v cifrach. Statističeskij spravočnik 2019, Minsk 2019, S. 14.

    Shparaga, Olga, U revoljucii ženskoe lico. Slučaj Belarusi, S. 248ff.

    Shparaga, Olga, U revoljucii ženskoe lico. Slučaj Belarusi, S. 146.

    Als die Kampagne am 26. Juni zu Ende ging, waren 335.000 Dollar zusammengekommen – ein Rekord bei der Spendensammlung durch Einzelpersonen in Belarus.

    Stykow, Petra, Der lange Abschied vom Bac’ka, S. 113.

    Bayat, Asef, Revolutionary Life: The Everyday of the Arab Spring, Harvard University Press 2021, S. 108.

    Am 1. September berichteten UN-Experten über 450 dokumentierte Fälle von Folter in Belarus, darunter auch Vergewaltigungen (ohcr.org, Ėksperty OON po pravam čeloveka: Belarus’ dolžna prekratit’ pytki nad protestujuščimi i predotvratit’ nasil’stvennye isčeznovenija), während der OSZE-Bericht im Rahmen des so genannten Moskauer Mechanismus vom 29. Oktober 2020 feststellt, dass die systematische und weit verbreitete Misshandlung und Folter zahlreicher Menschen in Belarus „klar von einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit zeugt“.

    Umfragen ergaben, dass die Hälfte der Demonstrierenden nicht sofort, sondern erst drei Tage nach der Wahl auf die Straße gingen. Siehe Stykow, Petra, Der lange Abschied vom Bac’ka, S. 122.

    Vgl. belinstitute.com, Toward a New Belarus: Transformation Factors, 27.09.2021, S. 37.