Die unglaubliche Revolution
Am Abend der Präsidentschaftswahl, dem 9. August 2020, brach in ganz Belarus eine historische Protestwelle los, getragen von zehntausenden Menschen ganz unterschiedlichen Alters und aus den verschiedensten Berufsgruppen. Diese Revolution gehört zu den 15 größten und längsten Protestwellen der letzten 50 Jahre, bei einigen Parametern übertraf sie sogar die ukrainische Protestbewegung von 2014 und die venezolanische von 2017.1
Trotz der schieren Größe haben die Proteste ihr Ziel nicht erreicht: Die Gesellschaft konnte ihre Forderung nach mehr Demokratie und Freiheit nicht durchsetzen. Im Gegenteil: Der Autoritarismus in Belarus hat sich nach 2020 weiter konsolidiert, heute kontrolliert der Staat die Gesellschaft sogar mit Mitteln, die totalitären Regimen eigen sind.
Die Verschärfung der Repression schürt Angst und wirkt demobilisierend. Sie verrät aber auch die Angst des Regimes selbst, das mit der Gesellschaft nun vor allem mittels unverhohlener Gewalt „interagiert“.
Die Proteste von 2020 waren die umfassendsten in der Geschichte von Belarus. Ihre aktive Phase erstreckte sich über mehr als 100 Tage; sie waren prodemokratisch und friedlich, und praktisch alle sozialen Gruppen in ganz Belarus waren involviert. Auslöser waren die für den 9. August 2020 angesetzten Präsidentschaftswahlen der Republik Belarus. Zunächst schien nichts darauf hinzudeuten, dass sich am Status quo etwas ändern könnte: Seit 1994 wurde das Land von dem Dauerregenten Alexander Lukaschenko beherrscht, der die politische Landschaft und die Gesellschaft als Ganzes unter seine Kontrolle gebracht hatte. Protestkundgebungen fanden schon immer wieder in den 1990er und 2000er Jahren bei den Präsidentschaftswahlen und Referenden zu Verfassungsänderungen statt. Vor allem 2006 und 2010 erreichten sie vier- und fünfstellige Teilnehmerzahlen, wurden allerdings auch schnell und effektiv unterdrückt.
Im Mai 2020 standen die Menschen in Minsk und anderen Städten jedoch kilometerlang Schlange, um die Kandidaten zu unterstützen, die gegen Lukaschenko antreten wollten. Der populärste von ihnen, der damals 56-jährige Viktor Babariko, konnte insgesamt 400.000 Unterstützer-Unterschriften sammeln und wurde daraufhin Mitte Juni 2020 verhaftet.
Auch zwei weitere Bewerber erfreuten sich großer Beliebtheit: der 42-jährige Geschäftsmann und Blogger Sergej Tichanowski und der 55-jährige Waleri Zepkalo, ein bekannter IT-Unternehmer. Tichanowski wurde am 29. Mai 2020 verhaftet; Zepkalos Kandidatur wurde nicht zugelassen und er musste aufgrund von Bedrohungen emigrieren. Die neuen Kandidaten kamen nicht aus dem Umfeld der Oppositionsparteien, die in all den Jahren von Lukaschenkos Herrschaft nur um den Preis scharfer Verfolgungsmaßnahmen – bis hin zu Gefängnisstrafen – hatten existieren können, ohne wirklich etwas zu erreichen. Und sie pflegten auch nicht den gängigen oppositionellen Diskurs, der sich weniger um die Forderungen verschiedener – vor allem jüngerer – Gruppen der Gesellschaft drehte als um die belarussische Kultur, Vergangenheit und Sprache.
Dieses Profil der belarussischen Opposition hatte eine lange Tradition. Es entstand zum einen aus der Arbeit der Belarussischen Volksfront (BNF), die 1988 als erste NGO entstand und aus der ein Jahr später die Partei BNF hervorging. Zum anderen war es durch die Tätigkeit der nonkonformistischen belarussischen Intelligenzija geprägt. Sie hatte sich Mitte der 1980er Jahre breiter gesellschaftlicher Unterstützung erfreut, was auf die Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Lage und die den Folgen der Katastrophe von Tschernobyl zurückging, deren todbringende Emissionen zu 70 Prozent Belarus trafen. Die meisten Organisatoren und Mitglieder der NGO und der Partei BNF – auch der Vorsitzende Sjanon Pasnjak – kamen aus der Intelligenzija. Sie interessierten sich in in den 1970er Jahren erster Linie nicht für den Kampf um Demokratie und die Absetzung des kommunistischen Regimes, sondern für die „nationale Wiedergeburt“ – die Belebung der belarussischen Sprache und Kultur. Zu weiteren Schlüsselpunkten ihres Programms gehörten die Aufarbeitung stalinistischer Repressionen, der Aufbau einer eigenständigen Nation und der Widerstand gegen den „russischen Imperialismus“.2
Diese Tendenz setzte sich in den folgenden Jahrzehnten fort. Die Menschen, die sich Anfang der 1990er Jahre für die „nationale Wiedergeburt“ einsetzten – so der Philosoph Valentin Akudowitsch , der sich damals selbst zu den Anhängern dieser Idee zählte und sich in den 2000er Jahren zum Kritiker wandelte – hätten eher in der Vergangenheit als in der Gegenwart gelebt und das Konzept eines ethnischen Nationalstaats vertreten, das Akudowitsch im 21. Jahrhundert nicht mehr als zeitgemäß ansieht.3
Die Slogans der neuen Bewerber zielten auf Wandel statt „nationale Wiedergeburt“. Sie forderten ein Ende der wirtschaftlichen und politischen Stagnation und eine demokratische Zukunft mit wechselbaren Regierungen, in der die Bürger dank ihrer Kenntnisse, neuer Technologien und Kooperationen aktiv auf den politischen Entscheidungsprozess einwirken können. Viele, die die Kandidaten aktiv unterstützen – etwa in der von Viktor Babarykos Wahlkampfteam gegründeten Initiative Ehrliche Leute – sagten, Belarus brauche Meinungsfreiheit und überhaupt frische Luft. Sie brachten damit nicht nur ihr eigenes Lebensgefühl zum Ausdruck, sondern auch das des Milieus, dem sie entstammten.4
Dass die Gesellschaft, als sie im Sommer 2020 aktiv wurde, an die eigenen Kräfte glaubte und sich dem paternalistischen Regime entgegenstellte, lag unter anderem an der Situation, die durch die Corona-Pandemie entstanden war.
Ab Mitte März 2020 stiegen die Zahlen der COVID-19-Infektionen und der durch sie bedingten Todesfälle zunehmend an. Die Phrasen der Regierung hatten nichts mehr mit dem zu tun, was Ärzte in den nichtstaatlichen Medien schilderten und was Menschen erlebten, die mit der Krankheit in Kontakt kamen, vor allem in den Regionen. Die Menschen glaubten nicht den offiziell verkündeten Zahlen und waren empört über die Reaktion des Staates und Lukaschenkos Auftreten. Der Präsident weigerte sich, die Pandemie ernst zu nehmen und schob die gesamte Verantwortung für das Geschehen den Bürgerinnen und Bürgern von Belarus selbst zu.
Das brachte das Fass zum Überlaufen. Die Menschen hatten genug von dem Modell des paternalistischen „Sozialstaats“, für das Lukaschenkos Herrschaft stand und auf das er sich in seinen offiziellen Verlautbarungen immer wieder berief. Bis Anfang der 2010er Jahre war es ihm – wie Studien belegen und zahlreiche Expertinnen und Experten bezeugen – tatsächlich gelungen, dieses Modell halbwegs zu erhalten. Anders als in den Nachbarstaaten war in Belarus nach der Unabhängigkeit 1991 nicht nur die neoliberale Privatisierung in der Industrie und anderen Branchen ausgeblieben, sondern es hatte auch eine mehr oder weniger gleichmäßige Verteilung der Einkünfte zwischen allen gesellschaftlichen Gruppen gegeben. In den 2010er Jahren zählte Belarus zu den zehn Ländern der Welt mit der kleinsten Einkommensungleichheit.5
Da diese Wirtschafts- und Sozialpolitik mit Repression einherging, haben Experten von einem besonderen Vertrag zwischen Lukaschenko und der Gesellschaft gesprochen. Der belarussische Philosoph Wladimir Furs etwa hat dies als ein System des freiwilligen Zwangs bezeichnet: Die Bürgerinnen und Bürger genießen soziale Unterstützung, büßen aber zugleich politische Rechte ein und müssen bestimmte Beziehungen mit dem Staat eingehen, etwa durch den Eintritt in regierungsnahe Organisationen an Schulen und Universitäten und in Staatsunternehmen.6
Ab Ende der 2000er verschlechterte sich jedoch die ökonomische Situation, unter anderem wegen der Weltwirtschaftskrise ab 2007. Der Staat leitete notgedrungen wirtschaftliche Liberalisierungsmaßnahmen ein und förderte zudem – offen oder verdeckt – die Arbeitsemigration und den Wechsel in die Privatwirtschaft. 2019 waren nach offiziellen Angaben 56,1 Prozent der Belarusinnen und Belarusen im privatwirtschaftlichen Sektor tätig.7 Besonders dynamisch entwickelte sich die IT-Branche, die – nicht zuletzt dank steuerrechtlicher Sonderregelungen – seit 2005 stark im Wachsen begriffen war. Ende 2019 trugen IT-Dienstleistungen 6,5 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt von Belarus bei – fast so viel wie die Land-, Forst- und Fischwirtschaft, deren Anteil zusammengenommen bei 7,2 Prozent lag.8
Diese begrenzte wirtschaftliche und politische Liberalisierung, die auch als „sanfte Belarussifizierung“ bezeichnet wurde und in deren Zug sich die Regierung um eine Verbesserung ihrer Beziehungen zu den EU-Ländern bemühte, spiegelte sich in der zweiten Hälfte der 2010er Jahre auch im Bereich der unabhängigen Kulturszene und der sozialen NGOs wider – und das nicht nur in Minsk, sondern im ganzen Land.9 Ende des Jahrzehnts gab es in Belarus insgesamt ca. 3.000 bis 3.500 NGOs mit unterschiedlicher Ausrichtung.10 Sie nutzten erstmals auch digitale Technologien, waren horizontal vernetzt und arbeiteten mit kleinen Unternehmen und IT-Firmen zusammen.
Wichtig sind insbesondere die Crowdfunding-Plattformen, die um diese Zeit entstanden, und die neuen öffentlichen Räume und Coworking Spaces in Minsk, Brest, Hrodna, Wizebsk, Homel, Mahiljou sowie einigen kleineren Orten. Schwerpunkt der Projekte waren unter anderem Bildung und Aufklärung, Ökologie, Urbanistik, Gleichstellung der Geschlechter und soziale Inklusion, das kulturelle Erbe und Gedächtnis sowie gesellschaftskritische Kunst und Theater. Dabei ging es auch darum, durch Advocacy-Arbeit und auf verschiedene andere Weisen auf die soziale Landschaft in Belarus und ihre staatlich oktroyierten Regeln einzuwirken.
Zugleich musste der Staat wegen wirtschaftlicher Stagnation die Sozialausgaben kürzen. Die Preise für die Bahn, den öffentlichen Nahverkehr und Kommunikationsdienstleistungen wurden erhöht, die Renten praktisch eingefroren und die Staatsbediensteten zum überwiegenden Teil auf Kurzzeitverträge umgestellt.11 Die Unzufriedenheit mit diesem vertikalen „Gesellschaftsvertrag“ entlud sich 2017 erstmals in umfassenden regionalen Protesten. Sie richteten sich gegen das sogenannte „Schmarotzergesetz“, das unter anderem die zunehmende wirtschaftliche und soziale Ungleichheit zwischen Minsk und den Regionen offenkundig werden ließ.
In der Pandemiesituation traf die Enttäuschung der vulnerabelsten Bevölkerungsgruppen, die bisher loyal zu Lukaschenko gestanden hatten, auf eine Gesellschaft, die bereit war, in Eigenregie eine „Fürsorge-Infrastruktur“ zu errichten und zu betreiben. In vieler Hinsicht gelang ihr dies auch. Im März 2020 wurde die Kampagne ByCovid gestartet, eine gesellschaftliche Initiative zur Unterstützung von Ärzten und Kliniken. In nur 45 Tagen brachten Freiwillige mit vereinten Kräften per Crowdfunding 250.000 US-Dollar zur Beschaffung der notwendigsten Geräte und Infektions-Schutzmittel zusammen.12 Zudem nähten die Aktivistinnen und Aktivisten der Kampagne in verschiedenen belarussischen Städten auch Schutzanzüge, kümmerten sich um den Einkauf und den Transport von Masken, Antiseptika und Geräten sowie das Sortieren von Medikamenten und Schutzmitteln. Dutzende von Cafés und Restaurants beteiligten sich an der Verpflegung der Ärzte und Freiwilligen. Es wurde eine eigene Website eingerichtet, über die die Ärzteteams Hilfe anfordern konnten. Fast alle medizinischen Einrichtungen des Landes taten das.
Diese horizontal organisierte Gemeinschaft war die Basis der Protestbewegung von 2020. Sie brachte während der ersten Welle nicht nur die neuen männlichen Protagonisten Sergej Tichanowski, Viktor Babariko und Waleri Zepkalo hervor, sondern – nach deren Festnahme und Inhaftierung – auch weibliche Leitfiguren: Swetlana Tichanowskaja, Maria Kolesnikowa und Veronika Zepkalo. Die studierte Pädagogin Tichanowskaja, Ehefrau von Sergej Tichanowski, war zuvor als Hausfrau tätig gewesen. Die Musikerin und Kulturmanagerin Kolesnikowa hatte das Wahlkampfteam Viktor Babarikos geleitet und Veronika Zepkalo das Team ihres Ehemanns Waleri Zepkalo.
Diese drei Frauen aus der Millennial-Generation, die bei der Präsidentschaftswahl 2020 die Hälfte der Wählerschaft stellte,13 schlossen sich Mitte Juli zu einem „vereinten Wahlkampfteam“ zusammen. Das Team unterstützte Swetlana Tichanowskaja, die nach der Inhaftierung ihres Mannes selbst als Kandidatin für das Präsidentenamt angetreten war und die offizielle Zulassung erhalten hatte. Sie begründete ihre Kandidatur mit der Liebe zu ihrem Mann und zu ganz Belarus und positionierte sich als Übergangskandidatin, die bei einem Sieg alle politischen Gefangenen freilassen und neue, faire Wahlen organisieren würde.
Das Symbol des vereinten Frauen-Wahlkampfteams – die geballte Faust, das Herz und das Victory-Zeichen V – wurde nicht zuletzt durch die Version der Künstlerin Antonina Slobodtschikowa bekannt, die schon einen Tag nach der Gründung des Teams entstand. Die Kampagne wurde in zahlreichen Städten geführt. Hunderttausende Menschen kamen zu den Veranstaltungen des Teams, ein Novum in der Geschichte von Belarus. Lukaschenko erklärte derweil bei seinen Auftritten, die belarussische Verfassung sei „nicht für Frauen gemacht“ und die Gesellschaft akzeptiere die Kandidatur einer Frau nicht. Er schlüpfte sogar in die Pose des gewalttätigen Liebhabers und verkündete, er werde seine Geliebte – womit er den Staat Belarus meinte – niemand anderem überlassen.
Trotzdem erfuhren Swetlana Tichanowskaja und das vereinte Team ein beispielloses Ausmaß an gesellschaftlicher Unterstützung. Tausende von Menschen im ganzen Land meldeten sich zur Wahlbeobachtung und sprachen sich in den sozialen Medien per Text- und Videobotschaft für faire Wahlen aus. Die IT-Community in Belarus und in der Diaspora entwickelte unter der Leitung von Pawel Liber die Digitalplattform Golos für alternative Stimmenauszählung. Über sie konnten in Kooperation mit der digitalen Plattform Subr und mit Unterstützung Initiative Ehrliche Leute die Wahlprotokolle von 22,7 Prozent aller Wahlbezirke – 1310 von insgesamt 5767 – digital ausgewertet werden.14 Anhand der Daten sowie der Aussagen von Mitgliedern der Wahlkommissionen ließ sich nachweisen, dass die Ergebnisse in mindestens einem Drittel der Wahlbezirke gefälscht worden waren. In den Bezirken, in denen die Stimmen ordnungsgemäß gezählt wurden, erhielt Swetlana Tichanowskaja über 50 Prozent der Stimmen.
Die in Berlin lebende belarussische Künstlerin Marina Naprushkina hat dieser Unterstützung, die nicht allein Swetlana Tichanowskaja, sondern dem gesamten vereinten Frauenteam galt, ihr Textkunstwerk „Ich will eine Präsidentin“ gewidmet. Sie hebt darin besonders die Feministin Maria Kolesnikowa hervor, die durch ihre Videobotschaften, ihre unermüdliche Teilnahme an Protestkundgebungen und ihre Losungen bekannt wurde: „Wir Belarussen sind unglaublich!“ und „Wir müssen auf dieses Regime einhämmern, einhämmern, einhämmern“. Im September 2020 zerriss Kolesnikowa an der Grenze ihren Pass, um ihre gewaltsame Ausweisung aus Belarus zu vereiteln. Heute sitzt sie – wie Tausende andere politische Gefangene in Belarus – im Gefängnis, wo sie Folterungen und Todesgefahr ausgesetzt ist.
Ihr Spruch „Wir Belarussen sind unglaublich!“ passt zu einem Gedankengang des iranisch-amerikanischen Wissenschaftlers Asef Bayat, der die Revolutionen des Arabischen Frühlings um 2010/2011 erforscht. In seinem 2021 erschienenen Buch Revolutionary Life: The Everyday of the Arab Spring weist Bayat darauf hin, dass diese Revolutionen möglich waren, weil gewöhnliche (ordinary) und sehr verschiedene Menschen – junge und alte, einkommensschwache und wohlhabende, Männer, Frauen und andere – zu außergewöhnlichen (extraordinary) wurden. Aus gruppenspezifischen Forderungen wurden Forderungen der ganzen Gesellschaft, und die Beteiligung an den Protesten nahm vielfältige Formen an.15 Wie die belarussische Revolution von 2020 hatten auch die Revolutionen des Arabischen Frühlings eine Vielfalt von Leitfiguren und zeichneten sich durch horizontale Organisationspraktiken und die zentrale Funktion digitaler Technologien aus. Die Frauen, die in ihnen eine wichtige Rolle spielten, hatten einige Gemeinsamkeiten mit Maria Kolesnikowa.
Am 9. August erlebten die Menschen in ganz Belarus, wie die Wahlergebnisse vor ihren Augen gefälscht wurden. Noch in derselben Nacht gingen sie in Minsk, Brest und anderen Städten auf die Straße. Als die Zentrale Wahlkommission verkündete, 80,23 Prozent der Wählerschaft hätten für Lukaschenko gestimmt, heizte das die Proteststimmung zusätzlich an. Am selben Abend wurde das Internet praktisch in ganz Belarus gesperrt.
In der Nacht vom 9. zum 10. August fanden in 30 belarussischen Städten Protestkundgebungen statt. Tausende beteiligten sich daran. Miliz, OMON und die Truppen des Innenministeriums gingen mit Tränengas, Blendgranaten, Wasserwerfern und Gummigeschossen gegen die friedlich Demonstrierenden vor. In Brest kamen sogar Schusswaffen zum Einsatz. Vom 9. bis zum 12. August wurden 6.000 Menschen verhaftet. Mindestens zwei Personen wurden getötet – eine in Minsk und eine in Brest – und Tausende körperlich misshandelt.16
Über Telegram-Kanäle und andere Onlinemedien wurden unzählige Foto-, Ton- und Videozeugnisse der Gewaltanwendung verbreitet. Die Menschen auf den Videobildern waren mit blauen Flecken übersät. Viele wurden mit Knochenbrüchen und anderen Verletzungen, die chirurgische Eingriffe erforderten, ins Krankenhaus eingeliefert. Die verletzten Männer und Frauen berichteten, wie brutal sie geschlagen worden waren – erst bei der Verhaftung, dann im Gefangenentransporter, auf dem Hof der Bezirksinnenverwaltung und schließlich im Gefängnis. Die Verhafteten – darunter auch solche, die zufällig ins Epizentrum der Gewalt geraten waren – wurden in überfüllten Gewahrsamsräumen und Gefängniszellen festgehalten. Sie mussten stundenlang mit dem Gesicht nach unten und gefesselten Händen auf dem Fußboden oder übereinander liegen und erhielten weder Essen noch Wasser. Schläge und Tritte führten dazu, dass einige für lange Zeit das Bewusstsein verloren. Gleichzeitig verbreitete sich die Nachricht, dass das Regime Swetlana Tichanowskaja in der Nacht vom 10. auf den 11. August zur Ausreise nach Litauen gezwungen hatte.
Die zahllosen Belege für das gewaltsame Vorgehen in den ersten drei Tagen nach der Wahl, die über verschiedene Telegram-Kanäle und andere Kommunikationswege – vor allem NEXTA – verbreitet wurden, lösten die zweite große Protestwelle aus.17 Die Menschen bildeten Ketten der Solidarität. Am 12. August schlossen sich Frauen auf dem Kamarouski rynak, einem Markt im Stadtzentrum von Minsk, zu einer solchen Kette zusammen. Der Protest blieb weiterhin friedlich und richtete sich vor allem gegen die Anwendung von Gewalt.
Laut Erhebungen des britischen Thinktanks Chatham House beteiligte sich allein im August und September 2020 ein Fünftel der belarussischen Stadtbevölkerung an Protesten.18 An den Kundgebungen Ende November 2020 nahmen vor allem Einwohnerinnen und Einwohner von Minsk und anderen Städten teil. Die Männer waren leicht in der Mehrzahl, und die größte Altersgruppe war die der 31- bis 40-jährigen, zu der zwei von fünf Befragten zählten. Aber auch die 18- bis 30-jährigen und die 41- bis 50-jährigen waren gut vertreten. Die Protestierenden verfügten zum größten Teil über Hochschulbildung und arbeiteten vorwiegend in IТ, Industrie, Handel, Baugewerbe, Wissenschaft und Bildung, aber auch vielen anderen Berufsfeldern. Die IT-Branche war mit 15 Prozent am stärksten vertreten.19 In Staatsunternehmen wurde ebenso gestreikt wie in TV-Sendern und Universitäten. Lehrer, Sportler, Künstler, Rentner und Menschen mit Behinderung schlossen sich jeweils untereinander zusammen, um Aktionen zu organisieren und die Opfer staatlicher Gewalt zu unterstützen. Besondere Bedeutung hatten die Hofgemeinschaften der Wohnblöcke und ihre Aktionen.
Eine wichtige Institution der Protestbewegung war der Koordinationsrat. Er war auf Swetlana Tichanowskajas Initiative hin gebildet worden, um eine gesellschaftliche Plattform für Verhandlungen mit dem Regime zu schaffen. Der Rat, dessen Präsidium unter anderem die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch angehörte, forderte die Freilassung aller politischen Gefangenen, das Ende der Repressionen und die Einleitung neuer, fairer Wahlen. Auch die im Ausland lebenden Belarussinnen und Belarussen unterstützten ihre Landsleute vor Ort mit ganzem Einsatz. Erstmals seit der Unabhängigkeit empfanden sie Stolz darauf, der politischen Gemeinschaft von Belarus oder der belarussischen Nation anzugehören.