Das war Russland 2021 – ein dekoder Jahresrückblick

Vorgehen gegen „ausländische Agenten“ in Medien und Zivilgesellschaft, Memorial International aufgelöst, Alexej Nawalny im Straflager … 2021 – ein Jahr des Shifts in Russland.

In weiser Voraussicht gibt Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew schon im Dezember 2020 einen Ausblick auf das, was kommt:

2021 wird ein Jahr des erbitterten Kampfes zwischen den Dissidenten und der Macht. Und dieser wird leider […] mit einer kolossalen Niederlage der Dissidenten [enden] – weil die Daumenschrauben angezogen werden, ein wesentlich konservativeres Parlament zusammengesetzt, die Zensur verschärft und die Zahl derer, die weggehen, rapide zunehmen wird.

Wladislaw Inosemzew

Dissidenten in Russland heute sind für Inosemzew „Menschen mit einem modernen Weltbild, die grundlegende humanistische Werte teilen, Gewalt und Rechtlosigkeit ablehnen und gegen die Einschränkung ihrer politischen Freiräume protestieren“.

Als der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny am 17. Januar aus Deutschland zurückkehrt wird er noch am Flughafen verhaftet. Bei Solidaritätsprotesten Ende Januar und am Valentinstag, dem 14. Februar, gehen landesweit Hunderttausende auf die Straßen. Alles Nawalny-Anhänger? Nein, der scheint eher Ventil für schon länger angestaute Unzufriedenheit, meint Lewada-Soziologe Denis Wolkow:

​​Mehr als ein Drittel machen heute diejenigen aus, die mit der Situation unzufrieden sind, die die Regierung nicht stillschweigend unterstützen. Das ist immer noch der kleinere Teil der Bevölkerung, aber es sind trotzdem sehr viele. Doch diese Unzufriedenen bleiben zersplittert und in vielerlei Hinsicht desorientiert.

Denis Wolkow, Soziologe, Lewada-Institut

Dissidenz in der Sowjetunion: Einer, der wegging und das nicht freiwillig, war Joseph Brodsky. Als geistiger Rebell war er von früher Jugend an kein Sowjetbürger nach offiziellem Geschmack. Doch war er eifriger Schüler der russischen Poesie und folgte dem, was Anna Achmatowa jungen Poeten mit auf den Weg gab. Dann wurde er ausgebürgert und sah darin nur ein Gutes: Dass er endlich nach Venedig fahren konnte, und zwar im Winter. Am 28. Januar vor 25 Jahren starb der Nobelpreisträger.

Am 2. Februar entscheidet ein Gericht, Alexej Nawalnys Bewährungsstrafe im Fall Yves Rocher in eine mehr als zweijährige Haftstrafe umzuwandeln, die er seitdem in einem Straflager absitzt.

Ein merkwürdiges Gefühl entsteht. Ein Gefühl der Abwesenheit des Staates, ein Gefühl der Abwesenheit dessen, der geschworen hat, Garant für das Leben und die Würde seiner Bürger zu sein.

Andrej Swjaginzew, Regisseur (Leviathan)

Um mehr über „unser freundliches Konzentrationslager“ – so nennt Alexej Nawalny die Strafkolonie Nr. 2, wo er jetzt ist – zu erfahren, hier eine Gnose zum russischen Strafvollzugssystem und seiner prallgefüllten Geschichte.

Die Proteste in Belarus vom Sommer 2020 noch vor Augen und die kommende Dumawahl bereits im Sinn, gehen die russischen Behörden nicht nur gegen Nawalny mit Härte vor, sondern auch gegen die, die aus Solidarität demonstrieren – sowie gegen Journalistinnen und Journalisten, die über die Proteste berichten.

Mediazona-Chefredakteur Sergej Smirnow bekommt wegen eines Retweets 25 Tage Haft, 15 davon muss er tatsächlich absitzen. Wonderzine spricht mit Journalistinnen und Journalisten, die trotz allem weitermachen wollen: „Nur meine Hände zittern manchmal“, sagt Kristina Safronowa von Meduza.

Auch sie gehört zum russischen Winter: die Banja  – Mythos und Sehnsuchtsort mit kathartischer Wirkung. Und dekoders erste Novellen-Gnose im Special-Format (na, ob es sowas geben kann?!).

Corona hat Russland 2021 fest im Griff. Bis Ende des Jahres meldet die Statistikbehörde Rosstat mehr als eine halbe Million Coronatote. Unabhängige Analysten gehen von einer Übersterblichkeit von einer Million Menschen aus, fast alle Todesfälle stehen im Zusammenhang mit Covid-19. Die Impfskepsis ist dennoch hoch.

Woran das liegt? Darauf gibt es mehrere Antworten: Das unentschiedene Vorgehen der Verantwortlichen – und ein zerrüttetes Gesundheits- und Vertrauenssystem, das Andrej Sinizyn auf Republic aus eigener Erfahrung illustriert.

Dorfärztinnen, Psychologinnen, Heilerinnen … das sind die Feldschery, vor allem in weitläufigen, dünn besiedelten Gegenden – wie dem Rajon Archangelsk in Baschkirien. Dort hat die Dokumentarfotografin Natalja Madiljan sechs von ihnen mit der Kamera begleitet.

Die Sonnenbrillen täuschen: Die Beziehungen zwischen Russland und den USA, der Nato und dem Westen sind 2021 auf dem Gefrierpunkt. Im März antwortet Biden in einer Talkshow auf die Frage „Denken Sie, dass Putin ein Killer ist?“ mit: „Yes I do.“
Endlich Klartext, loben manche. Schwerer Fehler, meint dagegen Iwan Dawydow auf Republic und stellt fest, dass es für Loyalisten nun noch leichter sei, sehr loyal zu sein.

Am Freitag, 23. April, wird das Exilmedium Meduza zum sogenannten „ausländischen Agenten“ erklärt. Doch das war nur der erste Streich – bis Jahresende folgen mehr als 80 weitere, VTimes, Mediazona, Republic … Es geht gegen Medien wie auch einzelne Journalistinnen und Journalisten, die Nachricht kommt meistens freitags.

Olga Tschurakowa (Foto) saß im Café, als sie davon erfuhr, dass ihr Name auf der Liste der „ausländischen Agenten“ steht: „Mir zerriss es förmlich das Herz, und die Leute aßen weiter ihr Mittagessen.“

„In den Augen der Machthaber übernehmen auch die Medien eine indirekt oppositionelle Rolle“, schreibt die Politikwissenschaftlerin Tatjana Stanowaja. In ihrem Text auf Projekt beleuchtet sie die Shifts auf zahlreichen Ebenen, das Einschreiten gegen jede Art von Opposition oder eben Dissidenz – und die neue Maxime, die da lautet: Wer nicht Freund ist, ist Feind.

Auch gegen Soziale Netzwerke gehen die Behörden vor: Im März wird Twitter verlangsamt, Geldstrafen gegen Facebook, Twitter, Telegram, Google und TikTok wegen des Nicht-Löschens „verbotener Informationen“ belaufen sich 2021 insgesamt auf umgerechnet rund 2 Millionen Euro. Eingeordnet wird das und anderes in unserem Mediendossier.

Als es noch Idole gab – kollektive Idole: Juri Gagarin ist vor 60 Jahren ins All geflogen und ALLE waren dabei! Eine Gnose samt Dossier – und während der Lektüre kann im Hintergrund der Song Gagarin, ich habe Sie geliebt laufen, der das Generationengefühl transportiert – und das Fliegen …

Wo wir schon im Weltall sind: „Das aktuelle politische System Russlands ist eine Rakete, die von der Erde losgeschossen in den offenen Kosmos geflogen ist, und nun fliegt sie und fliegt, weiter und weiter. Bis sie mit einem Asteroiden zusammenstößt“, meint Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew. Und sieht als möglichen Asteroiden, der auf Russland zurast, den europäischen Ausstieg aus den fossilen Energieträgern.

Astronomische Höhen erreicht auch die Inflation in Russland. Bis Jahresende beträgt sie laut Statistikbehörde Rosstat 8,4 Prozent – Höchststand seit 2015.

Zum Tag des Sieges am 9. Mai erscheint ein dekoder-Special zu einem lange kaum erinnerten Kriegsthema: Die sogenannten „Ostarbeiter“. Zur Aufarbeitung ihrer Schicksale, auch in der Sowjetunion lange ein Tabu, trug die Menschenrechtsorganisation Memorial wesentlich bei (siehe Dezember).

Meine Mutter hat mich in die Kreisstadt gebracht und geweint. ,Wenn du in Deutschland angekommen bist, schreib einen Brief. Und wenn es dort schlecht ist, mal eine Blume, das errät keiner. Und wenn es gut ist, dann schreib gar nichts.’

Viktor Schuldeschow, ehemaliger sog. „Ostarbeiter“

Eine, die für ein anderes Russland steht: Siegerin wurde sie beim ESC, entgegen unserer Hoffnung, zwar nicht. Aber sie trat an (was in Russland durchaus für kontroverse Debatten sorgte), und wir lernten sie kennen: Die aus Tadshikistan stammende Moskauerin und LGBT-Aktivistin Manizha, Psychologin und Musikerin, die schon immer sang und sagt: Musik ist eine Schulter zum Anlehnen.

Im russischen Jahr der Extreme werden Anfang Juni sämtliche Organisationen des inhaftierten Alexej Nawalny als „extremistisch“ eingestuft: Die landesweiten Wahlkampfteams genauso wie der Fonds zur Korruptionsbekämpfung (FBK). Es bedeutet das Ende dieser Organisationen, zahlreiche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehen ins Exil. Trotz dieser Folgen nach Nawalnys Rückkehr zeigt sich Ex-Wahlkampfchef Leonid Wolkow im Podcast mit Meduza ziemlich unbeirrt: „Hätten wir eine andere Wahl gehabt? Nein.“

Bereits Ende Mai wurden auch drei deutsche Organisationen in Russland als „unerwünscht“ erklärt – was das genau bedeutet, erklärt Fabian Burkhardt in unserem Bystro.

Am 22. Juni jährt sich der Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion zum 80. Mal. Insgesamt fanden auf den von Deutschland besetzten Gebieten der Sowjetunion bis 1944 etwa 2,6 Millionen Juden den Tod. Auf dekoder erörtert der Jurist und Publizist Lew Simkin, inwiefern am 22. Juni 1941 auch der Holocaust begann.

Im Juni bekommt dekoder Preise – gleich zwei in einer Woche: Für unsere dekoder-Specials werden wir nach 2016 zum zweiten Mal mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet – dekoder macht daraus wegen entfallender Gala eine sehr kleine, aber feine Hofparty in Berlin Friedrichshain.
Am Vorabend in der Bundesstiftung Aufarbeitung war die Stimmung gewichtiger, sogar Ex-Bundespräsident Horst Köhler drückte uns die Hand.

Den dekoder-Leuten, deren Arbeit ich schon sehr lange verfolge und bewundere, soll jetzt die Bühne gehören – das sind die, die in Zukunft die entscheidenden Dinge machen werden.

Gerd Koenen, Autor, Hauptpreisträger Karl-Wilhelm-Fricke-Preis 2021

Im Juli beschwört Putin in einem vieldiskutierten Aufsatz die vermeintlich historische Einheit von Russen, Ukrainern und Belarussen. Konstantin Eggert sieht darin wiederum eine Kampfansage an das „Anti-Russland“ (wie es der Kreml versteht).
Wie Geschichte instrumentalisiert wird für die große Erzählung vom mächtigen Russland mit starkem Mann an der Spitze – das beleuchtet unser Special in einer virtuellen Sightseeing-Tour Rund um den Kreml.

Auch in diesem Jahr: Raum für Sommer und Träume – Das Zauberding.

Menschen, die von startenden Flugzeugen stürzen: Der US-Abzug aus Afghanistan Mitte August wird zum Desaster. Während US- und westliche Streitkräfte abziehen, belässt Russland einen Teil seiner Diplomaten im Land und führt Gespräche mit den Taliban. Dieses Vorgehen erklärt der ehemalige Kriegskorrespondent Michail Koshuchow im Interview mit Znak, und auch, welche Interessen Russland dabei verfolgt.

Vor 30 Jahren, im Lauf des Jahres 1991, erklärten immer mehr sowjetische Republiken ihre Unabhängigkeit: Am 27. August etwa die Republik Moldau. Ein kriegerischer Streit um Transnistrien führte schließlich zu dessen De-facto-Unabhängigkeit. Wie lebt es sich in Transnistrien mit seiner halben Million Einwohnern heute? Fotos von Michail Kalaraschan, Mensch ohne Heimat, wie er sagt, der auszog, um die Puzzleteile seiner Kindheit aufzusammeln.

Letzter Versuch, den Zerfall der Sowjetunion aufzuhalten: Am 19. August vor 30 Jahren erklärten Putschisten im Weißen Haus Michail Gorbatschow für amtsunfähig. Die Putschisten scheiterten, Jelzin wurde zum Symbol des demokratischen Aufbruchs. Doch 43 Prozent der Russen sehen heute in den August-Ereignissen von 1991 eine Tragödie für das Land. „Das ist in Wirklichkeit keine Sehnsucht nach der Vergangenheit. Es ist eine innere Abneigung gegen die Gegenwart“, sagt Zeitzeuge Anatoli Berstein.

Unser Special KRACH 1991 sammelt Bersteins und weitere persönliche Erinnerungen an die frühen 1990er Jahre, als die Sowjetunion aufhörte zu existieren und etwas Neues begann. Visual history zeigt private Bilderinnerungen an die Perestroika, dekoder-Autoren und Redakteure sowie Kollegen aus Russland zeigen ihr eigenes Gesicht – nun, ja ein wenig jünger. Und gemeinsam mit der Bundesstiftung Aufarbeitung zeigt dekoder eine Ausstellung, nicht virtuell, sondern im real life: Postsowjetische Lebenswelten.

Vor 80 Jahren werden die Deutschen in der Sowjetunion zum Opfer der Stalinschen Gewaltpolitik, pauschal und kollektiv der vermeintlichen Kollaboration mit NS-Deutschland bezichtigt. Unser Dossier Russlanddeutsches Diarama erinnert daran – erinnert auch an die sogenannte zweite Generation, die Kinder der Deportierten, die mit dem Trauma ihrer Eltern leben mussten. Ist das nun deutsche Geschichte? Sowjetische Geschichte? Europäische Geschichte? Warum uns diese Geschichte heute alle angeht – auch darum geht es.

Der 1. September ist wie immer auch dieses Jahr russlandweit der erste Schultag, der erste Unitag, der erste Kindergartentag. Doch besonders in der Grundschulzeit prangen die Bantiki, die Haarschleifen – ein erstes „Symbol weiblicher Anmut”?
Und wir sind nun auch schon groß: Am 2. September wird dekoder sechs. Doch fast alle haben sich geweigert, sich Schleifen ins Haar zu binden …

Die Dumawahl Mitte September 2021 gilt als Blaupause für die Präsidentschaftswahl 2024. Und, keine Überraschung, es gibt keine Überraschung – außer vielleicht eine kleine, für die sorgt die kommunistische KPFR, die nun 57 Sitze innehat und damit stärkste Partei der Systemopposition ist. Wie die Duma wurde, was sie ist, und worüber dort in den letzten 30 Jahren gesprochen wurde – das alles zeigt unser Special.

Nur eine Woche später ist Bundestagswahl – mit ihr endet die Ära Merkel. Erstmal folgen Koalitionsverhandlungen und die große Frage: Wie wird sich die deutsche Russlandpolitik ändern? dekoder lässt außerdem 16 Jahre Merkel, Russland, Putin  Revue passieren.

80 Jahre nach Beginn der Leningrader Blockade erinnern wir uns an diese Tragödie, die hierzulande noch immer viel zu wenig bekannt ist: Am 8. September 1941 begann mit der Blockade Leningrads eines der größten Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkriegs. Sie wird als „größte demographische Katastrophe“ definiert, „die eine Stadt in der Geschichte der Menschheit jemals erfahren musste“. Über eine Million Menschen kamen dabei ums Leben. Die Blockade durch die deutsche Wehrmacht dauerte bis zum 27. Januar 1944, ohne dass die Bewohner aufgaben.

Der Internationale Übersetzertag am 30. September wird bei dekoder dieses Jahr begleitet von einer Workshopreihe:
Journalistisches Übersetzen zwischen Politik, Kultur und Ästhetik. Gefördert ist dieses Projekt vom Deutschen Übersetzerfonds im Rahmen des Programms Neustart Kultur.
Erste Freude: Russisch-Übersetzerinnen, die für unterschiedliche Medien übersetzen (das sind meistens auch dekoder-Übersetzerinnen) haben zwei Tage lang die Möglichkeit, gemeinsam zu arbeiten, sich auszutauschen darüber, was sie da tun, wenn sie journalistisch übersetzen. Zweite Freude: Wir arbeiten zusammen an einer Publikation zum Thema.

Am 7. Oktober vor 15 Jah­ren wurde die Journalistin Anna Politkowskaja ermordet. Die Täter sind zwar verurteilt, die Auftraggeber jedoch sind noch immer unbekannt – und frei. Und nun gilt der Fall als verjährt.

Nur einen Tag nach dem Todestag Politkowskajas dann die Nachricht: Der Friedensnobelpreis wird in diesem Jahr an Dmitri Muratow verliehen, Chefredakteur der Novaya Gazeta. Mit ihm wird auch die philippinische Journalistin Maria Ressa ausgezeichnet. Der Preis würdigt den Einsatz der beiden Journalisten für die Meinungsfreiheit in ihren Ländern.
Die Novaya gilt als Flaggschiff der unabhängigen Presse in Russland, es gibt sie seit den 1990er Jahren. In einem ersten Statement widmet Muratow den Preis der gesamten Redaktion und den sechs getöteten Kolleginnen und Kollegen seiner Zeitung – darunter Anna Politkowskaja.

In Russland ist die Entscheidung des Komitees nicht unumstritten: Warum Muratow und nicht Nawalny? Andrej Kolesnikow zeichnet die innerrussische Debatte nach und meint:


Ja, der Friedensnobelpreis wurde nicht Alexej Nawalny verliehen, sondern einem Menschen, der im Land die personifizierte Meinungsfreiheit ist. Und diese ist höchst bedeutend dafür, dass Nawalny – der wichtigste Widersacher der Staatsmacht – nicht in einem Informationsvakuum bleibt, also nicht ohne Schutz durch die Öffentlichkeit.

Andrej Kolesnikow, Carnegie.ru

Zeitensprung: Vor 200 Jahren ist Dostojewski  geboren und immer noch wollen ihn alle lesen und manche lesen ihn dann auch tatsächlich, obwohl die Romane dick wie Elefanten sind … auf dekoder gibt es nun ein Vademecum – und das klappte nur mit euch: unseren Leserinnen und Lesern, die innerhalb von zehn Tagen das Geld zusammengeklappert haben und das Crowdfunding Gaudi und Erfolg werden ließen. Dostojewski und dekoder danken!

Während wir im Special KRACH 1991 selig schwelgen in Erinnerungen an die Perestroika der Beziehungen zwischen Ost und West, samt Buttercremetorten mit Aufschrift „Willkomm“ (siehe Foto), schließt Russland zum 1. November 2021 seine Vertretung bei der Nato in Brüssel. Beziehungsstatus: Es ist kompliziert, zumal …

… das Säbelrasseln Russlands an der Grenze zur Ukraine weitergeht: Rund 100.000 Soldaten soll Russland dort zusammengezogen haben. Noch glauben die wenigstens Kommentatoren in den unabhängigen russischen Medien an echte Kriegspläne Russlands: Solche Gebärden seien nur Bluff, meint Julia Latynina, Russland führe gegen den Westen eher hybride und keine heißen Kriege, ihm gehe es vor allem um die Aufmerksamkeit der USA, der Nato.

Fjodor Krascheninnikow hält die Situation in jedem Fall für extrem gefährlich: Wo die Eskalationsdynamik so hochgetrieben wird, da könne der Konflikt auch ohne konkrete Pläne explodieren. Russland nutzt die Ukraine-Krise für Forderungen an die Nato (unter anderem möchte es einen Verzicht auf eine Nato-Osterweiterung) und so spitzt sich die Situation bis Jahresende immer weiter zu, wird zu einer umfassenden euro-atlantischen Sicherheitsfrage mit gehöriger Portion Kremlologie. Biden und Putin wollen noch am 30. Dezember dazu telefonieren. Gespräche mit den USA und der Nato sind für den 10. und 12. Januar anberaumt.

Und wo sich zwei streiten, freut sich ein Dritter: Weshalb Lukaschenko genau darauf achtet, seine eigene Auseinandersetzung mit dem Westen als „Teil eines großen Feldzugs der Nato gegen Russland“ darzustellen, analysiert Artyom Shraibman im Dezember – und die komplexe belarussisch-russische Beziehung insgesamt.

All dies findet in einer ohnehin stark angespannten Atmosphäre statt: Nawalny, Nord Stream 2 – und der sogenannte Tiergarten-Mord waren wohl die Themendauerbrenner zwischen Deutschland und Russland in diesem Jahr. Die umstrittene Ostseepipeline Nord Stream 2 ist inzwischen fertig, der Gaspreis in Europa bricht historische Terminbörsen-Rekorde – läuft also bei Gazprom? Nicht ganz: Tatsächlich erfüllt die Pipeline bislang kaum eine der EU-Anforderungen für den Gasbinnenmarkt, deshalb ist ihre Zukunft immer noch fraglich. Kostspielige Fehlinvestitionen und der europäische Energieausstieg (siehe April) könnten das Unternehmen – und damit auch das ganze Land – langfristig in eine massive Krise stürzen.

Drohgebärden nach außen, Daumenschrauben nach innen: Das Vorgehen gegen unabhängige Akteure in Russland findet noch einen traurigen Höhepunkt zum Jahresende.
Schon in der Feiertagsruhe rund um das russische Neujahr ordnet das Oberste Gericht am 28. Dezember die Auflösung der Menschenrechtsorganisation Memorial International an, tags drauf beschließt das Moskauer Stadtgericht die Schließung des Menschenrechtszentrums der Organisation. Die steht wie keine andere für die Aufarbeitung der Geschichte, vor allem der Stalinschen Repressionen. Ihr Gründungsvorsitzender: Andrej Sacharow (siehe unten).

Eine „Liquidierung des Gedenkens”, schreibt Oleg Kaschin. Ein Signal auch an den Westen, meint Maxim Trudoljubow:

Es wäre nicht das erste Mal, dass der Kreml als Reaktion auf den Druck von außen Jagd auf einen westlichen „Agenten“ im eigenen Land veranstaltet.

Maxim Trudoljubow, Meduza

Zuvor blockiert die Medienaufsichtsbehörde außerdem auch die Seite der Menschenrechtsorganisation OWD-Info (hier ein Interview über ihre Arbeit aus dem dekoder-Archiv). Diese sagt in einem ersten Statement, dass sie das Vorgehen als „Fortsetzung des Angriffs auf die Zivilgesellschaft durch den Staat“ verstehe.
In Karelien erhöht ein Gericht ebenfalls Ende Dezember die Lagerhaft für Juri Dmitrijew von 13 auf 15 Jahre.

Am 10. Dezember reist außerdem Dmitri Muratow nach Oslo, um den Friedensnobelpreis entgegenzunehmen. Seine Rede beendet er mit den Worten: „Ich möchte, dass Journalisten alt werden”, und bittet die Anwesenden sich zu erheben zu einer Schweigeminute für Journalistenkollegen, die ihr Leben für ihren Beruf verloren haben.

Anders sein, nicht einverstanden sein – das zieht sich als roter Faden durch Leben von Rebellen der sowjetischen Geschichte. dekoders Dissens-Special geht an Andrej Sacharows Todestag am 14. Dezember online – der Mann, dem als kritischem Kernphysiker und Erfinder der Wasserstoffbombe aufgrund seines Engagements für die Menschenrechte 1975 der Friedensnobelpreis verliehen wurde. Und Gründungsvorsitzender von Memorial (siehe oben). Joseph Brodsky, ein Bruder im Geiste, erhielt 1987 den Nobelpreis für Literatur. Illustriert sind die Leben der beiden berühmten Dissidenten von Anna Che.

Frieden, Fortschritt, Menschenrechte – diese drei Ziele sind unlösbar miteinander verbunden. Es ist unmöglich, eines dieser Ziele zu erreichen, wenn die beiden anderen vernachlässigt werden.

Aus Andrej Sacharows Rede anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises 1975, in Oslo entgegengenommen von seiner Frau Jelena Bonner.

Vor 30 Jahren war die Sowjetunion endgültig Geschichte, die Geschichte selbst jedoch vor vielfältigem Neubeginn – und bis heute sind auch sie noch da und gehören zu jedem Neujahrsfest in Russland: Hering im Pelz, Salat Olivier, Ironie des Schicksals

2021 – ein Jahr des Shifts in Russland geht zu Ende. Was 2022 wohl bringen mag?

Jetzt Schluss mit Grübeln, Schluss mit Ackern und Putzen, jetzt wird gefeiert – mit den immer besten Wünschen, denen wir uns anschließen und mit denen wir 2022 willkommen heißen: С Новым годом, с новым счастьем! Neues Jahr, neues Glück!

Text: dekoder-Redaktion
Bildredaktion: Andy Heller