16 Jahre deutsch-russische Beziehungen. Ein Rückblick auf Merkels Kanzlerschaft in Bildern – mit Texten von Katja Gloger.
In einem kleinen Rahmen stand in Angela Merkels Amtszimmer jahrelang ein Portrait der Prinzessin Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst, der späteren Katharina der Großen.
aus Katja Gloger (2017), Putins Welt
Schon vor dem Einzug ins Kanzleramt rätselten einige deutsche Medien, was Russland und die russische Zarin für die neue Bundeskanzlerin wohl bedeuten. 16 Jahre später stellt sich auch die Frage, wie sich Merkels Bild von russischer Politik und von Katharina verändert hat – von einer Deutschen, die 1783 das Khanat der Krimtataren annektierte.
Für die Pfarrerstochter Angela Kasner gehörten die »Russen« zum Alltag in der DDR. Ihre Eltern waren kurz nach ihrer Geburt 1954 aus Hamburg in den Norden der DDR gezogen, die Landeskirche brauchte dringend Pfarrer. In Templin in der Uckermark übernahm ihr Vater 1957 den Aufbau einer Weiterbildungsstätte, die auf dem Gelände der karitativen Behinderteneinrichtung »Walddorf« untergebracht war. Hier, im Walddorf, wuchs Angela Merkel, geborene Kasner auf.
aus Katja Gloger (2019), Fremde Freunde
Mit Abstand in nahezu allen Fächern die beste Schülerin, lernte sie früh Russisch: »so gefühlvolle« Sprache, »ein bisschen wie Musik, ein bisschen melancholisch«.1
aus Katja Gloger (2019), Fremde Freunde
Sie ging sonntags in den Russisch-Club, den freiwilligen Unterricht neben der Schule; paukte noch an der Bushaltestelle Vokabeln. Sie probierte ihre Sprachkenntnisse auch an sowjetischen Soldaten aus.
aus Katja Gloger (2019), Fremde Freunde
»Die nahe gelegene Stadt Vogelsang war einer der größten Stützpunkte der Sowjetischen Armee in der DDR, immer wieder traf man auf Soldaten. Manchmal standen sie nur an den Straßenecken, rauchten und warteten. Ich habe viel mit russischen Soldaten geplaudert, weil bei uns ja doppelt so viele Russen im Wald waren wie Deutsche.«2
aus Katja Gloger (2019), Fremde Freunde
1970 gewann Kasner die landesweit ausgetragene Russisch-Olympiade, da war sie in der 9. Klasse. Sie durfte – ein seltenes Privileg – als Teilnehmerin der Internationalen Russisch-Olympiade mit dem »Zug der Freundschaft« in die Sowjetunion reisen. Und ausgerechnet in Moskau habe sie ihre erste Beatles-Platte gekauft, Yellow Submarine.3
aus Katja Gloger (2019), Fremde Freunde
Angela Kasner reiste nach Moskau und Leningrad, in die Ukraine. Als FDJ-Sekretärin für Agitation und Propaganda ihrer Universitätsfakultät in Leipzig organisierte sie nicht nur das FDJ-Studienjahr sowie monatlich stattfindende politische Schulungen, sondern auch Theaterbesuche und Literaturabende, dort hörte man auch von jüngeren sowjetischen Schriftstellern. Und im Sommer 19834 trampte sie mit zwei Freunden durch den Süden der Sowjetunion: Georgien, Armenien, Aserbaidshan. Merkel reiste wohl »UdF«. Unerkannt durch Freundesland.
aus Katja Gloger (2019), Fremde Freunde
Russisch bot Angela Merkel eine besondere Lebensschule: »Ich habe immer sehr gern Russisch gesprochen. Eines der schönsten russischen Worte ist stradanije und es klingt wie das, was es heißt: Leidensfähigkeit. Nicht so zu sein wie wir, sich aufzulehnen und zu rebellieren, sondern die Dinge auch hinzunehmen und zu akzeptieren. Das schafft eine höhere Gelassenheit dem Leben gegenüber.«5
aus Katja Gloger (2019), Fremde Freunde
Leidensfähigkeit, die Dinge hinnehmen: So gesehen, hätte Angela Merkel sehr wohl eine »russische Seele«.
aus Katja Gloger (2019), Fremde Freunde
Politisch nahm sie die Sowjetunion als Diktatur und Besatzungsmacht wahr. Zwar hing die Existenz der DDR von der Sowjetunion ab. Umgekehrt aber drohte ohne DDR der Vorposten und Eckpfeiler des sowjetischen Sicherheitssystems in Europa wegzubrechen.
aus Katja Gloger (2019), Fremde Freunde
Schon der Volksaufstand des 17. Juni 1953 hatte gezeigt, dass die sowjetische Führung im Zweifel über die Zukunft der DDR zu entscheiden gedachte, brutal und unter Einsatz von Panzern. Wenn es um die Aufrechterhaltung der »Ordnung von Jalta« ging, erwiesen sich die »sowjetischen Freunde« und die SED als gnadenlos.6 Der Bau der Mauer 1961, auf massives Drängen der DDR-Führung vom ebenso sprunghaften wie resoluten KPdSU-Generalsekretär Nikita Chruschtschow in Moskau entschieden,7 machte selbst bescheidene Hoffnungen auf ein Tauwetter zunichte. Die für Merkel und eine ganze DDR-Generation entscheidende Erfahrung mit der Sowjetmacht aber war die Niederschlagung der demokratischen Reformbewegung in Prag 1968. Wie gründlich sich Träume von einem demokratischen Sozialismus zerschlugen.
aus Katja Gloger (2019), Fremde Freunde
Von der Invasion hörte die damals 14-jährige Angela Kasner im Radio: »Das war dann ganz schrecklich«, sagte sie.8
aus Katja Gloger (2019), Fremde Freunde
Bis 1989 trugen Viele, wohl auch Angela Merkel, das Lebensgefühl der sechziger Jahre mit sich herum: die Prager Frühlingshoffnung auf einen menschlichen Sozialismus. Die Vorstellungen deutscher Kerzen-Revolutionäre von 1989 entsprachen durchaus Gorbatschows Vision von den »allgemeinmenschlichen Werten«, die er in einer reformierten Sowjetunion verwirklichen wollte: »Vom sowjetischen ›Bruder‹ erwartete man jetzt ehrlichen Herzens ›Befreiung‹ aus der Stagnation. An sowjetischen Siegesdenkmälern prangten Losungen wie ›Perestroika‹ und ›Befreit uns noch mal‹.«9
aus Katja Gloger (2019), Fremde Freunde
Im Dezember 1989 begann Merkel bei der neu gegründeten Partei Demokratischer Aufbruch (DA) zu arbeiten, die für die erste freie Volkskammerwahl am 18. März 1990 der Allianz für Deutschland beitrat – ein Wahlbündnis mit der Ost-CDU, der Partei Deutsche Soziale Union (DSU). Die Allianz gewann die Wahl, der CDU-Spitzenkandidat Lothar de Maizière wurde zum Ministerpräsidenten der DDR und Angela Merkel zu seiner stellvertretenden Regierungssprecherin.
Als er im Frühjahr 1990 zu Verhandlungen in Moskau weilte, schickte Lothar de Maizière Merkel zu privater Meinungserhebung auf die Straße: Angela Merkel konnte ja gut Russisch. Sie sollte in Erfahrung bringen, was die Russen über die deutsche Wiedervereinigung dachten. Merkel sei konsterniert zurückgekehrt. Die meisten hätten ihr gesagt: Wenn das passiert, haben wir den Krieg doch noch verloren.10
aus Katja Gloger (2019), Fremde Freunde
Merkel war damals oft in Moskau, auch beim Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrages am 12. September 1990 war sie dabei. Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland wurde auf den 3. Oktober festgesetzt, eine stellvertretende Sprecherin der DDR-Regierung würde bald keiner mehr brauchen. Anfang August 1990 vereinigte sich der DA mit der Ost-CDU, im Oktober schloss sich die Vereinigung mit der westdeutschen CDU zusammen. Merkels DA-Mitgliedschaft wurde zur CDU-Mitgliedschaft und die junge Politikerin bekam beim Vereinigungsparteitag der CDU Deutschlands Redezeit:
„Im letzten Jahr hat sich zumindest für uns aus dem östlichen Teil Deutschlands unendlich viel geändert. Ich habe mir heute vor einem Jahr nicht vorstellen können, Mitglied der CDU (Ost) zu sein.
Das war deshalb so, weil ich keinen Spielraum für eigene aktive politische Tätigkeit sah. Ich konnte mir aber ebensowenig vorstellen, Mitglied der CDU West zu sein, weil ich in meiner Verzagtheit dachte, daß die Mauer unüberwindlich hoch ist.“11
Am Rande des Parteitags in Hamburg traf Merkel im Restaurant Ratsweinkeller den Kanzler Helmut Kohl. In den Folgejahren wurde der „Kanzler der Einheit“ zu Merkels Protegé und böse Zungen verpassten ihr einen Spitznamen: „Kohls Mädchen“.
Die junge Politikerin machte schnell Karriere: von 1991 bis 1994 war sie Bundesministerin für Frauen und Jugend, von 1994 bis 1998 Bundesumweltministerin. Rund ein Jahr nach der herben Niederlage der CDU bei der Bundestagswahl 1998 geriet die Partei in den Strudel der Spendenaffäre und Merkel – seit der Wahlniederlage Generalsekretärin der CDU – schrieb in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass „die von Kohl eingeräumten Vorgänge der Partei Schaden zugefügt haben“: Die Partei müsse jetzt „laufen lernen, muss sich zutrauen, in Zukunft auch ohne ihr altes Schlachtross, wie Helmut Kohl sich oft selbst gerne genannt hat, den Kampf mit dem politischen Gegner aufzunehmen. Sie muss sich wie jemand in der Pubertät von zu Hause lösen, eigene Wege gehen und wird trotzdem immer zu dem stehen, der sie ganz nachhaltig geprägt hat – vielleicht später sogar wieder mehr als heute.“12
Einige deutsche Medien bezeichneten den Schritt damals als „Scheidungsbrief“: Viele Parteifreunde verurteilten den Artikel, der CDU-Vorsitzende Wolfgang Schäuble nannte den Schritt „Akt der Illoyalität“.13 Mit der Distanzierung von dem „Übervater“ gewann Merkel allerdings auch an politischem Gewicht, vor allem unter jüngeren CDU-Mitgliedern wie Friedrich Merz, Annette Schavan und Christian Wulff. Nachdem auch Schäuble über die Spendenaffäre gestürzt war, wurde Merkel am 10. April 2000 schließlich zur neuen CDU-Bundesvorsitzenden.
Im Juni 2000 traf sie in Berlin zum ersten Mal Putin, 2002 besuchte sie ihn in Moskau. Sie habe den KGB-Test bestanden, soll sie damals erzählt haben: dem Blick des Gegenübers nicht ausweichen.14
aus Katja Gloger (2017), Putins Welt
Wenn Sprache der Schlüssel zur Seele eines Landes ist, dann müsste Wladimir Putin ein Deutschland-Versteher sein. Schon in der Schule hatte er Deutsch anstatt Englisch für den Fremdsprachenunterricht gewählt.15 Als der junge KGB-Major Anfang der 1980er Jahre am renommierten Andropow-Institut des Rotbannerordens in Moskau für einen möglichen Auslandseinsatz ausgebildet wurde, war Deutsch eines der Hauptfächer. Das wollte er ja immer – so berichtete er es später zumindest –, Geheimagent werden: »Wie ein einzelner Mensch das erreichen konnte, was ganze Heere nicht vermochten.«16
aus Katja Gloger (2017), Putins Welt
1985 wurde Putin als »Hauptoperativbevollmächtigter« in der KGB-Residentur Dresden stationiert. Es war sein erster – und letzter – Auslandsaufenthalt. Alles lief bestens, berichtete er später den Autoren einer Interview-Biografie über ihn. In Dresden wurde seine zweite Tochter Katja geboren, er selbst stieg zum Chefassistenten des Abteilungsleiters auf. Er bekam einen Teil seines Gehaltes in D-Mark und Dollar ausbezahlt, damit sparte die Familie für ein eigenes Auto.
aus Katja Gloger (2017), Putins Welt
In der DDR lebte Putin in einer quasi sowjetischen Welt. Während sich diese Welt in Gorbatschows Perestroika-Sowjetunion allerdings rasend schnell veränderte, blieb die DDR ein totalitäres Land, glich einer Sowjetunion der 1950er Jahre. Es war eine der vielen Selbsttäuschungen westlicher Politiker im späteren Umgang mit Wladimir Putin, dem »Deutschen« im Kreml:17 Sie glaubten, dass ihm sein Bezug zu Deutschland auch die politische Textur des Westens nähergebracht habe, die Denkweise ihrer Politiker. Das aber war nicht der Fall. Und während der Fall der Mauer 1989 für Angela Merkel zu einem Befreiungserlebnis wurde, stellte er für Wladimir Putin eine berufliche wie persönliche Katastrophe dar, eine Kapitulation.
aus Katja Gloger (2017), Putins Welt
Und doch: Deutschland – nicht die USA – blieb für Wladimir Putin das Tor zur Welt.
aus Katja Gloger (2017), Putins Welt
Manchmal spricht Angela Merkel russisch mit Wladimir Putin, so, wie er deutsch mit ihr spricht. Zwar führen sie offizielle Verhandlungen in ihrer jeweiligen Muttersprache – aber manchmal korrigieren sie dabei die Dolmetscher. So war es im Februar 2015 auch in Minsk, in jener langen Nacht, als sie über die Vereinbarung verhandelten, die einen Weg zu Frieden im Südosten der Ukraine bahnen sollte. Am Ende beugte sich Angela Merkel über die russische Übersetzung des englischen Originals. Sie wollte ganz sichergehen, dass jedes der so mühsam ausgehandelten Worte stimmte. Und so, heißt es, verhandelte die Kanzlerin auch den gar nicht so unbedeutenden semantischen wie juristischen Unterschied zwischen den Worten »Einigung« und »Vereinbarung«.
aus Katja Gloger (2017), Putins Welt
In den Krisenmonaten 2014 und 2015 fiel Beobachtern der Gespräche zwischen Angela Merkel und Wladimir Putin noch etwas auf: Wie sich sein Ton veränderte, wenn er Deutsch sprach. Als ob da ein ganz anderer Putin zum Vorschein kam. Weich auf einmal der Duktus, leise und sanft. Beinahe so, als ob er sich in eine Hierarchie begab – oder so tat, als ob –, in der er Angela Merkel die Führungsrolle überlassen wollte. Ganz anders, wenn er Russisch sprach: hart und manchmal stählern, mit einem gewissen Hang zu anzüglichen Witzen. Anders als in den Jahren zuvor, 2006 und 2007 etwa, während Merkels Besuchen bei Putin.
aus Katja Gloger (2017), Putins Welt
Da hatte er ihr noch gezeigt, aus welcher Schule er kommt: Erst schenkte er ihr einen Stoffhund, im Jahr darauf ließ er seinen schwarzen Labrador Koni in den Raum laufen. Der Hund beschnüffelte Merkel und legte sich zu ihren Füßen, während Putin sinngemäß Friedrich den Großen zitierte: Je mehr ich von den Menschen sehe, umso lieber habe ich meinen Hund. Putin muss gewusst haben, dass sich Angela Merkel vor Hunden ängstigt: 1995 war sie beim Fahrradfahren in der Uckermark vom Jagdhund des Nachbarn angegangen worden. Der hatte sie ins Knie gebissen.18
aus Katja Gloger (2017), Putins Welt
Schon mit dem Amtsantritt Angela Merkels 2005 kühlten die deutsch-russischen Beziehungen merklich ab. Kumpelfreundschaft à la Schröder funktionierte mit der superrationalen Kanzlerin nicht; auch der Gedanke der »Äquidistanz«, der jeweils gleichen politischen Entfernung Deutschlands zu den USA und zu Russland, behagte ihr nicht sonderlich. All die Papiere und Partnerschaften, die SPD-Außenminister Frank-Walter Steinmeier entwerfen ließ, fand man im Kanzleramt eher überflüssig. Doch ganz Erbe sozialdemokratischer Ostpolitik, wollte Steinmeier die Politik der Öffnung gegenüber Moskau fortsetzen. Der nun propagierte »Wandel durch Verflechtung« sollte den »Wandel durch Annäherung« fortschreiben.
aus Katja Gloger (2017), Putins Welt
Für große Verärgerung hatte in Moskau 2012 eine Resolution des Bundestages gesorgt. Nach längeren Querelen mit dem zögerlichen Auswärtigen Amt hatten die Mitglieder des Bundestages mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen (damals noch CDU/CSU und FDP) sowie der Grünen in dieser Resolution Russland zwar weiterhin als »strategischen Partner« bezeichnet, zugleich aber deutlich Kritik an der zunehmend repressiven russischen Innenpolitik geäußert und Demokratisierung angemahnt20 – ein außergewöhnlicher Vorgang, da er als faktische Einmischung des Parlaments in die Innenpolitik eines anderen Landes interpretiert werden konnte.21 Schon damals empörte sich Putins Sprecher Dimitri Peskow über »antirussische Rhetorik«.
aus Katja Gloger (2017), Putins Welt
Und Putin schien Entgegenkommen zu zeigen. Hatte er nicht für die vorzeitige Entlassung der beiden jungen Frauen von Pussy Riot aus dem Arbeitslager gesorgt? Hatte er nicht sogar den seit beinahe zehn Jahren inhaftierten Regimekritiker, den ehemaligen Oligarchen Michail Chodorkowski, auch aufgrund der jahrelangen, beharrlichen Bitten der Deutschen begnadigt? Angela Merkel und der ehemalige deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher hatten sich geheimdiplomatisch für Chodorkowski eingesetzt; Genscher war mehrmals nach Moskau gereist, um Putin für diese »humanitäre Geste« zu gewinnen.23
aus Katja Gloger (2017), Putins Welt
Zwar hatte man sich in Berlin sehr über Putins Rochade geärgert, mit der er seine Rückkehr in den Kreml 2012 gesichert hatte. War doch der 2008 gewählte Präsident Dimitri Medwedew für die westlichen Staatschefs ein ernstzunehmender Gesprächspartner, der auch an politischer Modernisierung interessiert schien. Aber dann stellte sich heraus, dass dessen Präsidentschaft offenbar nichts weiter war als ein abgekartetes Spiel, um Putin für mindestens eine weitere Amtszeit die Macht zu sichern. Auch Angela Merkel fühlte sich hintergangen. Doch in Moskau ging man – zu Recht – davon aus, dass die ökonomischen Interessen der Handelsmacht Deutschland24 rasch wieder Oberhand gewinnen würden.
aus Katja Gloger (2017), Putins Welt
Der 21. Februar 2014 und die Monate danach25 wurden für Deutschland zur Sollbruchstelle im Verhältnis zu Russland, für Angela Merkel ebenso wie für Frank-Walter Steinmeier.26 Aus dem strategischen Partner Putin wurde ein strategisches Problem, aus dem vermeintlichen verlässlichen Freund ein Rivale, vielleicht gar ein unberechenbarer Gegner, dem man nicht mehr trauen konnte.27 Die Hoffnungen auf eine Europäisierung, vielleicht gar »Verwestlichung« Russlands hatten sich nicht erfüllt, politischer Wandel durch ökonomische Verflechtung wurde nicht erreicht. Weder Handelsbeziehungen noch Nord-Stream-Pipelineprojekte hatten dazu beigetragen, Russland dauerhaft in Europa zu integrieren. Im Gegenteil: Putin setzte auf eine »postwestliche« Welt.
aus Katja Gloger (2019), Fremde Freunde
Selbst Angela Merkel zeigte sich ernüchtert ob der Skrupellosigkeit, mit der Wladimir Putin seine Eskalationsdominanz ausspielte. Immer wieder habe der Mann »geniale Ideen«, Unruhe zu stiften, sagte sie.28
aus Katja Gloger (2019), Fremde Freunde
Immerhin herrschte Klarheit: Im Zäsurenjahr 2014 wurde Russland zur Bedrohung der europäischen Sicherheit. Im Osten der Ukraine verloren bis zum Herbst 2021 mehr als 14.000 Menschen ihr Leben in einem »Konflikt«, der in Wahrheit ein Krieg ist. In der Ukraine – wie später auch in Syrien – bewies Putin, dass es durchaus eine militärische Lösung der Krise geben konnte: Wenn man, wie er, bereit war, militärische Mittel einzusetzen, und die Kosten nicht scheute – oder unterschätzte.
»Wandel durch Annäherung« – das jahrzehntealte Erfolgsrezept deutscher Ost- und Entspannungspolitik – schien innerhalb weniger Monate außer Kraft gesetzt. Dabei waren doch deutsche Kanzler von Willy Brandt über Helmut Kohl bis Gerhard Schröder stets als »verlässliche Fürsprecher russischer Befindlichkeiten« aufgetreten: Aus historischer Verantwortung für den Krieg und aus Dankbarkeit für die Wiedervereinigung »empfanden sie lange Zeit eine Bringschuld« gegenüber Russland.29 Zu lange lagen der deutschen Russland-Politik Selbsttäuschung und Selbstüberschätzung zugrunde, wahrscheinlich auch eine sentimentale Russland-Überhöhung: Politik, ausgerichtet auf ein Wunschbild von Russland, das es so nie gab.30
aus Katja Gloger (2019), Fremde Freunde
Noch 2013 schien es in Moskau, als würde Russland der privilegierte Partner Deutschlands im Osten Europas bleiben. Umso tiefer war Putins Enttäuschung über die Position der Bundesregierung in der Ukrainekrise. Man hatte im Kreml erwartet, dass Deutschland eine Mittlerrolle einnehmen würde. Die Deutschen könnten das russische Vorgehen, die Annexion der Krim erklären, gar verstehen. Ausdrücklich hatte Wladimir Putin in seiner Rede über die »Rückkehr der Krim in den Bestand der Russischen Föderation« auf die deutsche Wiedervereinigung Bezug genommen: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, sagte er, wurde »das russische Volk zu einem der größten, wenn nicht dem größten geteilten Volk auf dem Planeten … Ich glaube auch daran, dass mich die Europäer verstehen, vor allem die Deutschen. Ich möchte daran erinnern, dass während der politischen Konsultationen zur Wiedervereinigung der BRD und der DDR bei weitem nicht alle Verbündeten die Idee der Wiedervereinigung unterstützten. Dagegen hat unser Land das aufrichtige, unaufhaltsame Streben der Deutschen nach nationaler Einheit unterstützt.«31
aus Katja Gloger (2019), Fremde Freunde
Es war seine wohl größte Fehlkalkulation in der Ukrainekrise: denn Angela Merkel sah in Putins Vorgehen das, was es war – die Verletzung der Grenzen eines souveränen Staates und der Versuch einer Revision der europäischen Sicherheitsordnung. Und mehr noch: Sie verpflichtete die Europäische Union auf Geschlossenheit und umfangreiche Sanktionen gegenüber Russland, die auch die deutsche Wirtschaft empfindlich treffen würden. Selbst die deutsche Industrie beugte sich, wenn auch murrend. Offiziell zumindest unterstützte sie die Politik der Sanktionen: Langfristige Rechtssicherheit sei wichtiger als die Aussicht auf kurzfristige Gewinne.32
aus Katja Gloger (2019), Fremde Freunde
So verlor Wladimir Putin 2014 den wichtigsten strategischen Partner, den er bislang in Europa, vielleicht sogar in der westlichen Welt hatte: Deutschland.
aus Katja Gloger (2017), Putins Welt
Nach der Angliederung der Krim an Russland 2014 war das deutsch-russische Verhältnis noch weiteren Belastungen ausgesetzt: MH17-Abschuss, Fall Lisa, Bundestags-Hack, Tiergarten-Mord, Nawalnys Vergiftung – trotz allem ließ Merkel den Kontakt zum Kreml nicht abreißen, sie betrieb Krisenmanagement und versuchte sich in der illusionslosen Politik der ganz kleinen Schritte.
Zwar vermied man den Begriff – aber wie zu Zeiten des Kalten Krieges galt es, Balance zwischen Abschreckung und Entspannung zu finden, zwischen Abgrenzung und Annäherung, zwischen Konflikt und Kooperation: Wirtschafts- und Wissenschaftskontakte, erweiterter Jugendaustausch vielleicht, Städtepartnerschaften und Gesprächsforen für die immer kleiner werdende Gruppen der russischen Zivilgesellschaft.
aus Katja Gloger (2017), Putins Welt
Bei der Regierungsbefragung im Deutschen Bundestag im Mai 2020 sagte Merkel, dass Russland eine „Strategie der hybriden Kriegsführung“ verfolge. Rund drei Monate später verurteilte sie die Vergiftung Nawalnys ebenfalls scharf – als „versuchten Giftmord“. Die Kanzlerin besuchte den Oppositionellen am Krankenbett in der Charité, was im Kreml wohl als Affront gewertet wurde. Es war wohl ein Zufall, dass Merkels Abschiedsbesuch in Moskau am Jahrestag des Giftanschlags auf Nawalny stattfand, es war ihr 19. Treffen mit Putin in Russland.
„Ich habe gegenüber dem russischen Präsidenten noch einmal die Freilassung von Alexej Nawalny gefordert und auch deutlich gemacht, dass wir an der Sache dranbleiben werden“, sagte sie bei der gemeinsamen Pressekonferenz. Und: „Ich werde mich jedenfalls bis zum letzten Amtstag dafür einsetzen, dass die territoriale Integrität der Ukraine gewährleistet sein kann.“33
Persönlich wie selten erzählte sie auf der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang Februar 2015, wie lange die Menschen der DDR auf Selbstbestimmung warten mussten, auch sie. Es war ihre realpolitische Botschaft an die Ukraine. Die Botschaft an ihr eigenes verunsichertes Land und an Europa aber ging unter im Summen des Saals. Denn sie mahnte Geschlossenheit an und langen Atem: »Wie schnell wir verzagt sind, dass etwas nicht läuft.«34 So aber, sagte sie noch und schloss für einen Moment die Augen, kann man keine Schlacht gewinnen.
Ausblick: Osteuropahistoriker Jan Claas Behrends argumentiert auf russlandverstehen.eu, warum die neue Bundesregierung eine andere Russlandpolitik brauche.
Redaktion und Zusammenstellung: dekoder-Team Bildredaktion: Andy Heller
Fußnoten
zit. nach: Langguth, Gerd (2008): Angela Merkel: Aufstieg zur Macht: Biografie, S. 51
»Das Leben ist erbarmungslos, es deformiert«. Interview mit Angela Merkel, in: Der Stern, 30/2000
Im Stern-Interview sprach sie von 1986. Interview mit Angela Merkel, in: Der Stern, 30/2000
Interview mit Angela Merkel, in: Der Stern, 30/2000
Am 17. Juni und an den folgenden Tagen wurden republikweit mindestens hunderttausend Mann und tausend Panzer in Marsch gesetzt, die meisten in Berlin. Mehrere Dutzend Menschen starben. Und: »Nur eine langfristige und handfeste Absicherung durch die sowjetische Militärmacht, dies war den Regierungen in Moskau und Ost-Berlin mit dem 17. Juni 1953 klar geworden, konnte den deutschen Arbeiter- und Bauernstaat vor einer frühzeitigen Erosion schützen. In der Folge kam es zu einem Arrangement von beiderseitigem Vorteil, das einerseits scheinbar weit reichende Zugeständnisse an die Souveränitätsansprüche des Landes machte, das jedoch andererseits von seinem Ziel, der Festigung des Ostblockes mit der DDR als vorgeschobenem Posten, keinen Zoll abwich.« In diesem Sinne wurde 1957 ein Stationierungsabkommen geschlossen. S.: Silke Satjukow (2008): Besatzer. »Die Russen« in Deutschland 1945–1991, S. 74. S. a.: bpb.de: Die Toten des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953
Besuch der Autorin bei einem der Ausführenden, dem damals in Karlshorst stationierten sowjetischen Oberst Anatolij Mereško, Moskau 2011. S. a.: Katja Gloger: Dicht gemacht, in: Der Stern, 33/2011. Zum Bau der Mauer: Hope M. Harrison (2011): Ulbrichts Mauer. Wie die SED Moskaus Widerstand gegen den Mauerbau brach. Armin Wagner (2003): Ulbricht, Chruschtschow und die Mauer. Eine Dokumentation. Gerhard Wettig (2006): Chruschtschows Berlin-Krise 1958 bis 1963. Drohpolitik und Mauerbau. Gerhard Wettig (Hg) (2015/2016): Chruschtschows Westpolitik 1955 bis 1964. Gespräche, Aufzeichnungen und Stellungnahmen.
Zur Debatte um die Resolution und die Position der SPD: Wolfgang Eichwede: Einmischung tut not! Wider den Selbstbetrug der Putin-Freunde. In: Osteuropa, 4/2013, S. 91–100, sowie Hans-Joachim Spanger: Kooperation tut not! Wider die Blindheit der Putin-Feinde. In: Osteuropa, 7/2013, S. 169–178
s. a. Der Spiegel, 47/2014: Zurück im Kalten Krieg
Zu Chodorkowskijs Geschichte, den Fall Yukos und Details der Freilassung s. a.: Katja Gloger: Der Preis der Freiheit, in: Der Stern, 11. 12. 2014. Ausführlich: Martin Sixsmith (2010): Putin’s Oil: The Yukos Affair and the Struggle for Russia. Richard Sakwa (2014): Putin and the Oligarch. The Khodorkovsky-Yukos Affair. London. Viktor Timtschenko (2012): Chodorkowskij. Legenden, Mythen und andere Wahrheiten. Michail Chodorkowski (Hrsg.) (2011): Briefe aus dem Gefängnis
s. a. Szabo, Stephen F. (2015): Germany, Russia, and the Rise of Geo-Economics
Entscheidend für die harte Linie der Kanzlerin in der Sanktionsfrage war der Abschuss des malaysischen Zivilflugzeugs MH17 am 17. Juli 2014 mit 298 Menschen an Bord. Das Flugzeug war in Amsterdam mit vielen niederländischen Passagieren gestartet – proportional zur Bevölkerungszahl kamen mehr Niederländer ums Leben als US-Bürger am 11. September 2001. Die von Moskau unterstützten Separatisten im Osten der Ukraine werden für den Abschuss durch eine russische Rakete vom Typ Buk M1 verantwortlich gemacht.
Heinemann-Grüder, Andreas (2017): Kalter Krieg oder Neue Ostpolitik: Ansätze deutscher Russlandpolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 21–22/2017, S. 4–10, hier S. 5
Sapper, Manfred (2017): Mehr Expertise wagen: Russland- und Osteuropakompetenz in Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 21–22/2017, S. 33–38