Verlorene Heimat
Krieg, Repressionen, Flucht und Exil:
Rückblick auf ein düsteres Jahr 2023 in Bildern und Texten aus Russland, Belarus und der Ukraine
Das Jahr 2023 endet so, wie es begonnen hat: mit russischen Drohnen- und Raketenangriffen auf die zivile Infrastruktur der Ukraine. Und immer wieder trifft es auch Wohnhäuser und Schulen.
Am 6. Juni 2023 löste die Zerstörung des Kachowka-Staudamms eine gewaltige Flutkatastrophe aus. Wenn es um Bauwerke aus der Sowjetzeit geht, so glauben in Russland offenbar viele an ein Recht auf Zerstörung, schreibt Alexander Baunow: „Frei nach dem Motto: ,Wir haben die für euch gebaut.‘“
Viele fragen sich: Wie lange wird dieser Krieg noch dauern? Wird es, wie Grigori Judin sagt, ein „ewiger Krieg“?
Oder könnte alles doch schlagartig ganz anders kommen? So schien es kurz am 24. Juni, als Söldnerchef Jewegni Prigoshin mit seinen Truppen plötzlich die Millionenstadt Rostow am Don besetzte und dann gen Moskau marschierte .
Am Ende des Jahres wirkt die Situation militärisch jedoch festgefahren. Die lang angekündigte Gegenoffensive der Ukraine blieb hinter den oftmals hohen Erwartungen zurück. Von einem Patt dürfte einer profitieren: Alexander Lukaschenko.
Dass sich an der Front kaum etwas bewegt, hat auch damit zu tun, dass Russland trotz hoher Verluste immer wieder neue Soldaten rekrutieren kann. Wie geht das? Oft durch starke finanzielle Anreize, wie Wladislaw Inosemzew in einer makaberen Rechnung zeigt: Für viele Russen ist Sterben wirtschaftlich attraktiver als Leben.
Auch wirbt Russland gezielt Häftlinge an für den Kampf in der Ukraine und verspricht ihnen Begnadigung. Unter ihnen verurteilte Schwerverbrecher, die nach Freilassung teils erneut straffällig werden. Einen solchen Fall hat Fontanka im April dokumentiert: Wie Nowy Burez lebt und stirbt.
Auf Seiten der Ukraine kämpfen zum Teil auch Belarussen – im Kalinouski-Regiment. Zerkalo hat im Juni mit einem von ihnen über seine Erfahrungen und seine Motivation gesprochen: „Hier sterben Menschen, und ich soll zuhause sitzen?“
Sogar russische Freiwilligenverbände kämpfen auf Seiten der Ukraine. Mit ihren Sabotageakten gerät im Frühjahr die russische Kleinstadt Schebekino in die Schlagzeilen. The Insider war vor Ort und berichtet in einer Reportage über die Lage in der Grenzregion.
Was derweil in den russisch besetzten Gebieten in der Ukraine passiert, darüber gibt es nur wenige Informationen. Immer wieder berichten ukrainische Zivilisten von Folter und Gewalt: „Du krepierst hier und keiner kriegt es mit“.
Für eine spätere juristische Aufarbeitung ist es ein zentrales Anliegen der Ukraine, all solche Kriegsverbrechen genauestens zu dokumentieren. Olexandra Matwiitschuk tut genau das. Sie leitet in Kyjiw das Zentrum für bürgerliche Freiheiten, das 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Im August spricht sie mit Meduza über ihre Arbeit: „Das unbestrafte Böse wächst“.
Der Internationale Strafgerichtshof erlässt im März einen Haftbefehl gegen Wladimir Putin und die russische Beauftragte für Kinderrechte Maria Lwowa-Belowa. Der Vorwurf: Verschleppung ukrainischer Kinder. Lwowa-Belowa sieht das anders: „Ist es nicht Patriotismus, wenn alle Kinder zu uns gehören?“
Lwowa-Belowa sagt ukrainischen Kindern: „Ihr gehört jetzt zu uns.“ Für Putin tun sie das ohnehin schon immer: Im November sprach er erneut davon, dass Ukrainer und Belarussen eigentlich zur „großen russischen Nation“ gehören.
Woher kommt Putins Fixierung auf die Ukraine? Und wie kam er zu der Entscheidung, die Ukraine zu überfallen? Das hat Ilja Sheguljow auf Verstka rekonstruiert – ein Text, der im April große Aufmerksamkeit erhielt: Wie Putin lernte, die Ukraine zu hassen.
Die Staatsmedien in Russland leisten ihren Beitrag, um den russischen Angriff auf die Ukraine zu rechtfertigen. Wie – das zeigt unsere im Dezember erschienene Daten-Recherche: Im Netz der Propaganda .
Propagandistische Narrative verfangen auch dort, wo man es nicht gleich vermutet hätte: Das als liberal geltende Medium Meduza veröffentlicht im Juni mit einigem Erstaunen Kommentare aus der eigenen Leserschaft, in denen viele ihre Angst vor einer russischen Niederlage äußern: „Ich bin nicht für den Krieg, aber …“
Angst ist ein allgegenwärtiges Gefühl auch bei denen, die den Krieg klar verurteilen und weiterhin in Russland leben: Angst vor einem russischen Sieg, vor einem Kontaktverlust mit Ausgereisten und vor immer härteren Repressionen.
Angst vor Repressionen ist für viele Menschen in Belarus spätestens seit der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste von 2020 ein vertrautes Gefühl – die Schreckensmeldungen kommen quasi täglich, immer wieder werden Menschen zu drakonischen Haftstrafen verurteilt. So wie die Musiker der Tor Band, die damals eine Hymne der Proteste geschrieben hatten. Für sie gab es Ende Oktober siebeneinhalb bis neun Jahre Straflager.
Maria Kolesnikowa, die damals im Trio mit Swetlana Tichanowskaja und Veronika Zepkalo den belarussischen Präsidentschaftswahlkampf gehörig mit aufmischte, sitzt seit September 2020 in Haft. Von ihr gibt es seit Monaten kein Lebenszeichen. Zerkalo porträtiert die unerschrockene Ikone des Protestes.
Gegen den seit Februar 2021 inhaftierten Alexej Nawalny werden immer neue Strafverfahren fabriziert. Und doch initiiert er im August aus der Haft heraus eine Debatte über die Verfehlungen der 1990er Jahre in Russland .
Daran beteiligt sich auch der russische Oppositionspolitiker Wladimir Kara-Mursa. Er wurde im April zu 25 Jahren Haft verurteilt – und demonstriert dennoch Optimismus.
In Russland landet 2023 erstmals ein Theaterstück vor Gericht, in Belarus wird allerlei Literatur für „extremistisch“ erklärt und de facto verboten. Darunter sogar ein Kinderbuch von Joseph Brodsky über ein fleißiges Schleppboot – weil dessen Farbgebung in den Illustrationen „verdächtig“ sei.
Aporops „extremistisch“: Im November hat das Oberste Gericht in Russland die „internationale LGBT-Bewegung“ zur „extremistischen Organisation“ erklärt. Kirill Martynow ist überzeugt: Damit wurden Tür und Tor für neue Gewalt und Willkür geöffnet.
Russlands Großangriff auf die Ukraine hat unzählige Menschen in eine neue Realität versetzt. Die Kyjiwer Fotografin Marysia Myanovska beschäftigt sich in ihrem Fotoprojekt damit, was das für junge Menschen in ihrer Heimat bedeutet: eine Generation, die die Freiheit nicht geschenkt bekam, sondern für sie kämpfen muss.
Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer mussten vor russischen Raketen und Artilleriegeschossen fliehen. Ihr Weg führt oft über Lwiw in der Westukraine. Dort lebt auch der aus Minsk geflohene Fotograf Yauhen Attsetski. In einem Fotoprojekt dokumentiert er die Auswirkungen des russischen Angriffskrieges auf das gesellschaftliche Leben.
Die belarussische Autorin Sabina Brilo lebt wie Zehntausende ihrer Landsleute ebenfalls im Exil. Das Lebensgefühl in der Ferne beschreibt sie so: „Wer traurig ist, gehört zu mir.“
Viele Russinnen und Russen haben ihre Heimat wegen des Krieges und wegen der Repressionen Richtung Georgien verlassen. Der Fotograf Maximilian Gödecke und der Journalist Fabian Schäfer haben fünf von ihnen porträtiert: Zufluchtsort Tbilissi.
Die belarussische World Press Photo Preisträgerin Tatsiana Tkachova lebt inzwischen in Hamburg und reflektiert in ihrem Fotoprojekt darüber, was Heimat ausmacht. Sie sagt: „Meine Heimat ist das Haus, in dem meine Mutter wohnt.“
Wir danken euch, unseren Leserinnen und Lesern, gerade in diesen schweren Zeiten für die fortwährende Treue und Unterstützung. Kraft und Hoffnung für das kommende Jahr wünscht euch
eure dekoder-Redaktion