Viele Russinnen und Russen unterstützen den Krieg gegen die Ukraine. Propaganda spielt dabei eine Schlüsselrolle.
Propaganda schafft Fake-News und verzerrt die Realität. Und manchmal scheint es, man müsste den Menschen, die daran glauben, einfach nur die Wahrheit erzählen.
Aber so einfach ist es nicht. Propaganda ist nicht immer nur Lüge. Sie schafft ein Weltbild, durch dessen Brille wir alles wahrnehmen, was passiert. Auch den Krieg.
Wir haben mehr als drei Millionen Artikel der wichtigsten propagandistischen Nachrichtenagentur Russlands RIA Nowosti analysiert und daraus die Muster herausgelesen, nach denen Propaganda funktioniert.
Im Netz der Propaganda
Wie es der staatlichen Propaganda gelang, Millionen Russinnen und Russen davon zu überzeugen, dass ein Krieg der sicherste Weg zum Frieden ist.
Eine Data-Recherche von dekoder, der Novaya Gazeta Europe und der Süddeutschen Zeitung
Gegen 5 Uhr morgens am 24. Februar 2022 beginnen die russischen Truppen einen großflächigen Krieg gegen die Ukraine. Die Invasion rückt rasch über vier Achsen voran: auf Kyjiw und Charkiw, auf den Donbass und auf den Süden der Ukraine aus Richtung der Halbinsel Krim. Gleichzeitig verübt Russland massive Raketenschläge in fast allen Regionen des Landes. Die Nachrichten aus der Ukraine, Bilder und Videos von Zerstörungen und Tod auch unter der Zivilbevölkerung gehen um die Welt.
Obwohl sich bereits im Vorfeld die Anzeichen für eine Invasion gehäuft hatten, löste diese Nachricht nicht nur unter Ukrainern und Europäern einen Schock aus, sondern auch unter den Russen. „Am Anfang hat es sich wie ein Schock angefühlt, ich konnte nicht glauben, dass wir so etwas jemals erleben würden.“ „Ich war wie betäubt, ich konnte nicht nachvollziehen, warum das passierte.“ „Ich war geschockt.“ „Ich hatte keine Angst, ich war nicht froh darüber, ich war unter Schock.“ „Das war irgendwie surreal… so darf es nicht sein… es war ein Schock für mich.“ … Das alles sind Zitate aus Interviews mit Russinnen und Russen über deren Wahrnehmung des Krieges, die von der Forschungsgruppe PS Lab 2022 durchgeführt wurden. Einige der Befragten waren von Beginn an gegen den Krieg. Andere dagegen unterstützten die Invasion oder begannen später, sie zu unterstützen. Aber die erste Reaktion von vielen war dieselbe – Schock und Erschütterung. Und zwar nicht nur bei „einfachen Menschen“, sondern auch bei vielen Staatsmännern .
Die erste Aufgabe der Propaganda war es, die Russinnen und Russen von der Notwendigkeit dieses Krieges zu überzeugen. Oder zumindest von dessen Unvermeidbarkeit.
Für viele Menschen begann der Krieg früh am 24. Februar mit der Ansprache von Wladimir Putin. Um 5.50 Moskauer Zeit verkündete RIA Nowosti den Beginn der sogenannten „militärischen Spezialoperation“ im Donbass und veröffentlichte ein Fragment dieser Rede, beziehungsweise deren zentralen Teil. Darin sagte Putin:
„In Übereinstimmung mit Artikel 51 Absatz 7 der Charta der Vereinten Nationen … habe ich den Beschluss gefasst, eine militärische Spezialoperation durchzuführen. Deren Ziel ist es, die Menschen zu schützen, die seit acht Jahren den Misshandlungen und dem Genozid durch das Kiewer Regime ausgesetzt sind. Um sie zu schützen, streben wir die Demilitarisierung und Denazifizierung der Ukraine an. Diejenigen, die für die unzähligen blutigen Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung – darunter auch Staatsbürger der Russländischen Föderation –, verantwortlich sind, werden wir vor Gericht bringen.“
Von diesem Punkt an veröffentlicht RIA Nowosti jeden Tag Hunderte von Nachrichten über die „militärische Spezialoperation“ und die „Situation im Donbass“ – zwei Euphemismen, mit denen die Propaganda den Krieg bezeichnet.
Viele dieser Nachrichten enthalten in verschiedenen Kombinationen immer wieder die gleichen Sätze.
In verschiedenen Kombinationen.
Tag für Tag.
Monat für Monat.
Unabhängig davon, worüber RIA Nowosti berichtet – über Erfolge der russischen Armee (Misserfolge finden in die Nachrichten keinen Eingang), darüber, wie die Ukraine angeblich selbst eigene Städte und die eigene Zivilbevölkerung beschießt, über Sanktionen oder Waffenlieferungen aus dem Westen…
…jedes Mal sehen die Leserinnen und Leser immer den gleichen Text. Und zwar...
mehr als 10.000 Mal.
Die Tatsache, dass Sätze in Nachrichten eines Mediums wiederholt werden, ist zunächst nichts Außergewöhnliches. Nachrichten existieren nicht im luftleeren Raum, sondern sind miteinander verbunden. Sei es bei einem Terroranschlag, einem Brand, einem Gerichtsverfahren oder was auch immer: Nachrichten bilden in der Regel kurze oder lange Ketten, die über die Entwicklung eines Themas erzählen. In der Überschrift und am Anfang der Nachricht steht üblicherweise die aktuellste Information (Was passierte? Wer hat daran teilgenommen? etc.). Damit der Leser versteht, worum es genau geht, folgen darauf zusätzliche Informationen zum Kontext; etwa darüber, was zuvor geschah und womit diese konkrete Nachricht verbunden ist.
Solche Sätze oder Absätze bezeichnet man im Journalismus Kontextparagrafen und diese können sich durchaus wortwörtlich wiederholen. Kontext kann sich mit neuen Informationen ergänzen und sich verändern. Aber was für Qualitätsjournalismus wichtig ist: Im Kontext sollten ausschließlich neutrale Informationen dargestellt werden, die nackten Fakten. Der Kontext sollte auch unmittelbar mit der Nachricht zusammenhängen und den Leserinnen und Lesern eine Hilfe reichen, sie einzuordnen.
Im Fall der Sätze über „Genozid“ und „blutige Verbrechen des Kiewer Regimes“ ist dies offensichtlich nicht so. Der Absatz hilft nicht, die jeweilige Nachricht zu verstehen, sondern er sorgt dafür, dass sie aus einem bestimmten Blickwinkel wahrgenommen wird und sich in eine (falsche) Erzählung einfügt. Wir kämpfen gegen die Ukraine? Weil Ukrainer Zivilisten töten. Der Westen verhängt Sanktionen? Weil er das verbrecherische Kiewer Regime unterstützt. Die Ukraine beschießt eigene Städte? Klar, sie tut das bereits seit acht Jahren! In Russland findet eine Mobilmachung statt? Tja, wir müssen Zivilisten beschützen.
Zu jedem Ereignis, das direkt oder indirekt mit dem Krieg zusammenhängt, gibt es eine ideologisch aufgeladene Erklärung. Und wenn diese sich tausendfach wiederholt, schafft sie den sogenannten Illusory-Truth-Effekt – eine im Grunde kognitive Verzerrung. Ein Team um den Psychologen Jonas De Keersmaecker von der Universität Gent hat 2020 in einem Aufsatz nachgewiesen, dass selbst intelligente und aufgeklärte Menschen beginnen, eine Lüge zu glauben, wenn sie nur oft genug wiederholt wird.
Und im Falle von RIA Nowosti geht es nicht nur um drei Sätze. Und auch nicht um Hundert.
Damit wir besser verstehen können, wie diese Sätze miteinander verbunden sind, haben wir diese als Punkte gezeichnet. Deren Größe hängt davon ab, wie häuifig sie auf RIA Nowosti auftauchen.
Am 24. Februar hat Russland eine milit ärische Operation gegen die Ukraine begonnen. Präsident Waldimir Putin nannte als Ziel „die Menschen zu schützen, die seit acht Jahren einem Genozid und Misshandlungen durch das Kiewer Regime ausgesetzt sind.“ Zu diesem Zweck plane man die „Demilitarisierung und Denazifizierung der Ukraine”, außerdem sollen alle Kriegsverbrecher, die für die blutigen Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung des Donbass verantwortlich seien, vor Gericht gestellt werden.
Wenn die Sätze in gleichen Texten vorkommen, zeigen wir auch die Verbindungen zwischen den Punkten.
Wir haben hunderttausende weitere Sätze von RIA Nowosti analysiert und mussten feststellen:
Manche von ihnen wiederholen sich tausend- oder sogar zehntausendfach.
Manche haben eine sehr lange Lebensdauer und werden über mehrere Jahre hindurch verwendet.
Die überwiegende Mehrheit dieser Sätze bezieht sich auf die Ukraine.
Und viele von ihnen erklären nicht einfach den Kontext, sondern entwickeln eine ganz bestimmte Wahrnehmung des Geschehens. Eine Wahrnehmung, die die Russinnen und Russen auf den Krieg gegen die Ukraine vorbereiten sollte. Ihren Anfang finden sie an der Jahreswende 2013/14. In dem Moment, als in Kyjiw Massenproteste gegen die prorussische Regierung von Präsident Wiktor Janukowitsch stattfanden, wurde RIA Nowosti neu aufgestellt – als Teil der neugegründeten staatlichen Medien-Holding Rossija segodnja (dt. Russland heute) und Dimitri Kisseljow wurde ihr neuer Chef.
RIA Nowosti ist eine der ältesten Nachrichtenagenturen der Sowjetunion und Russlands. In den 2000er Jahren und Anfang der 2010er galt sie als progressiv, einige bezeichneten sie als „das liberalste Staatsmedium“. Heute ist das kaum mehr vorstellbar, aber 2011/13 berichtete RIA Nowosti sehr ausführlich und nahezu neutral über die Proteste gegen Wahlfälschungen und eine dritte Amtszeit Putins. RIA Nowosti schrieb über den Wahlkampf von Alexej Nawalny bei den Moskauer Gouverneurswahlen (Nawalny wurde 2013 auf RIA häufiger erwähnt als sein Herausforderer Sergej Sobjanin, der Kandidat des Kreml). Auch der Prozess gegen die Mitglieder von Pussy Riot wurde auf der Seite des Mediums fortwährend begleitet.
Vielleicht war RIA Nowosti zu liberal für ein Staatsmedium in Russland. Denn Ende 2013, auf dem Höhepunkt der Maidan-Proteste, wurde auf der höchsten Ebene die Entscheidung getroffen, die Nachrichtenagentur in der bisherigen Form zu liquidieren. Das Medium wurde Teil der neu gegründeten Medien-Holding Rossija segodnja – einer Holding, unter deren Dach mehrere große staatliche Medien zusammengelegt wurden. Neben RIA Nowosti war das vor allem das internationale Nachrichtenportal und der Radiosender Sputnik, der auf mehreren Sprachen vor allem im postsowjetischen Raum sendet. Zum Leiter der Holding berief der Kreml den Moderatoren und Media-Manager Dimitri Kisseljow.
Bereits im Dezember 2013 kündigte Kisseljow auf einer Redaktionsversammlung Veränderungen in der Redaktionspolitik an:
„Unter dem Slogan der Objektivität verzerren wir häufig das Bild und schauen auf unser eigenes Land als sei es ein fremdes. Ich glaube, die Epoche dieses distanzierten, sterilen Journalismus – sie ist vorbei.”
Objektivität sei nach seinen Worten „ein Mythos, der uns angeboten und aufgedrängt wird“. Journalismus müsse nicht einfach neutral über die Ereignisse berichten. Nach Kisseljow muss er vielmehr die Werte erzeugen, die russische Bürger zu einer Gemeinschaft, zu einem Land machen.
Journalismus sei „ein Werkzeug, eine Ressource für das Land, das es möglich macht, zu verstehen, was gut und was schlecht ist”.
Die Jahreswende 2013/14 scheint auch eine Wende im Umgang des russischen Staates mit dem Internet zu sein. Es wird nicht nur Rossija segodnja geschaffen, die zu einer allumfassenden Propaganda-Maschine ausgebaut wird, der Staat geht jetzt auch mehr und mehr gegen unabhängige Internet-Medien wie etwa das zu jener Zeit reichweitenstärkste Portal Lenta.ru vor. Zur gleichen Zeit beginnt RIA Nowosti damit, Kontextparagrafen im Sinne der Propaganda einzusetzen. Diese Absätze sollten den Russinnen und Russen unter anderem erklären – wie Kisseljows es formulierte – „was gut und was schlecht ist“. Parallel wird das Feindbild der Ukraine geschaffen.
Gehen wir zurück in den November 2013, als es noch keinen Krieg in der Ukraine gab, die Krim noch nicht annektiert war und RIA Nowosti noch das Renommee eines zwar staatlichen, aber doch relativ liberalen Mediums genoss.
In der Nacht vom 21. auf den 22. November sammeln sich auf dem Kyjiwer Maidan ca. 2000 Menschen. Sie skandieren „Ukrajina – ze Jewropa“ (dt. die Ukraine ist Europa) und protestieren gegen die Kehrtwende von Wiktor Janukowitsch, das geplante Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union nicht wie angekündigt unterzeichnen zu wollen.
In dieser Nacht beginnt in der Ukraine die größte Protestwelle in der neueren Geschichte des Landes, die in die Geschichte als „Euromaidan“ oder „Revolution der Würde“ eingeht. Für die kommenden Monate werden Ereignisse in Kyjiw zum zentralen Thema für alle russischen Medien. Unter anderem für RIA Nowosti.
Viele dieser Nachrichten haben natürlich Kontextparagrafen: Damit man sich überschlagende Ereignisse einordnen kann, muss der Leser wissen, wann die Proteste angefangen haben und was sie ausgelöst hat. Bereits die ersten Nachrichten weisen einige Besonderheiten auf, aber im Großen und Ganzen wurden die Ereignisse in Kyjiw neutral wiedergegeben und die Sätze, die sich einige Hundert Male immer wieder wiederholen, enthalten ausschließlich Fakten.
Am 21. November begannen in Kiew und anderen Regionen der Ukraine Massendemonstrationen mit Anhängern der europäischen Integration, nachdem die ukrainische Regierung bekanntgegeben hatte, dass sie die Vorbereitung des Assoziierungsabkommens mit der EU ausgesetzt hatte, das auf dem Gipfel der Östlichen Partnerschaft in Vilnius abgeschlossen werden sollte. Am Samstag löste die Spezialeinheit Berkut den „Euromaidan“ im Zentrum Kiews auf. Am Sonntag fand in Kiew eine Demonstration statt, in der bis zu einer halben Million Menschen teilgenommen haben und die mit einer Besetzung der Stadtverwaltung und Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und Silowiki endete.
Nach journalistischer Logik sollte es so auch weitergehen. Aber Mitte Januar 2014 (also nach der Reorganisation von RIA Nowosti) verschwinden die neutralen Kontextparagraphen. An ihrer Stelle erscheinen nun ganz andere.
Wenn RIA Nowosti anfangs von „Anhängern der Eurointegration“ und „Protestierenden“ schrieb, schreibt das Medium seit dem 21. Januar fast ausschließlich über „radikal eingestellte Oppositionelle” und „Radikale“, die Molotowcocktails und Schusswaffen verwenden. Die Proteste selbst werden von da an als Auseinandersetzungen zwischen „bewaffneten Radikalen“ und „Organen der öffentlichen Ordnung“ bezeichnet. Der häufigste Satz darüber kommt 4301 Mal vor und überlebt bis zum Jahr 2019. Alle zusammen wiederholen sie sich mehr als 10.000 Mal.
Was haben wir gerade gesehen? Erstens eine drastische Vereinfachung der komplexen Realität. Zweitens – eine Deformierung des Kontextes. Ein komplexes Ereignis mit einer großen Zahl heterogener Teilnehmer, mit unterschiedlichen Interessen und Hoffnungen, komplexe politische und wirtschaftliche Prozesse in der ukrainischen Gesellschaft werden zu einem schwarz-weißen Bild geformt, auf dem bewaffnete Radikale Massenunruhen mit vielen Opfern veranstalten und gegen die legitime Regierung Janukowitsch vorgehen, die versucht, die Ordnung in der Hauptstadt wiederherzustellen.
Vereinfacht wird nicht nur das Geschehen auf dem Maidan, vereinfacht werden auch alle weiteren Ereignisse in der Ukraine seit 2014. Tag für Tag kreiert Propaganda ein geopolitisches Bild eines Konfliktes, das portionsweise in Hunderttausenden Nachrichten auf RIA Nowosti verbreitet wird. Die Flucht Janukowitschs aus der Ukraine, die Annexion der Krim, der Krieg im Osten des Landes, die Minsker Verhandlungen – das alles wird zu einem sehr einfachen Narrativ entwickelt.
Dieses Narrativ haben wir rekonstruiert.
Ende 2013 flammt eine politische Krise in der Ukraine auf. Im gesamten Land finden Massenproteste, der sogenannte „Euromaidan“, statt, die zu Zusammenstößen zwischen bewaffneten Radikalen und den Organen der öffentlichen Ordnung führen. Die Opposition setzt wiederholt Schusswaffen und Molotowcocktails ein, Dutzende menschliche Opfer sind die Folge.
Am 22. Februar kam es zu einer gewaltsamen Machtergreifung im Land. Die Krim hat die Legitimität der neuen Macht nicht akzeptiert. Die Bewohner der Krim haben sich demokratisch und in voller Übereinstimmung mit dem Völkerrecht und der UN-Charta für die Wiedervereinigung mit Russland ausgesprochen.
Ende Februar 2014 beginnen in den südöstlichen Regionen der Ukraine Massenproteste der örtlichen Bewohner, die mit dem Staatsstreich nicht einverstanden sind. Die ukrainische Regierung beginnt im April 2014 eine Militäroperation gegen Bewohner der Ostukraine. Mehr als 9000 Menschen fallen dem Konflikt zu Opfer.
Moskau ist keine Partei im Konflikt und nur daran interessiert, dass die innerukrainische Krise friedlich überwunden wird. Unter Vermittlung von Russland finden Friedensverhandlungen statt. Aber die Ukraine hält sich nicht an die Vereinbarungen.
Der Westen und die NATO verbreiten ihrerseits Fakes über die Aggression Russlands. Sie nutzen diese als Vorwand für eine Stationierung von militärischem Gerät in der Nähe der Grenzen Russlands.
Kiew beschießt den Donbass jeden Tag mit Waffen, die von NATO-Ländern geliefert wurden. Die Ukraine plant eine gewaltsame Lösung des Konfliktes.
Russland startet eine militärische Spezialoperation. Das Ziel der Operation ist der Schutz der Zivilbevölkerung vor Genoziden und die Demilitarisierung der Ukraine.
Alle diese Sätze werden zwischen 250 und 16.000 Mal wiederholt. Sie sind Elemente von Kontextparagrafen in 56.384 Nachrichten zur Ukraine zwischen 2014 und 2023.
Dieses Narrativ ist nicht einfach eine drastisch vereinfachte Version der Ereignisse. Er soll einen angeblichen Kausalzusammenhang zwischen dem Maidan und der „militärischen Spezialoperation“ Russlands in der Ukraine herstellen. Die Ereignisse in jedem Glied werden jedoch bewusst selektiert und deformiert. Zum Beispiel werden die im Vergleich zu den Maidan-Protesten ziemlich kleinen und kurzlebigen Proteste im Südosten des Landes aufgeblasen und die Fakten des gewaltsamen Sturms der Verwaltungsgebäude in südostukrainischen Städten unter Beteiligung russischer Staatsbürger werden ausgeblendet. Ebenso wird auch die Einnahme der Stadt Slawjansk durch eine bewaffnete Einheit unter Führung von Igor Girkin, einem Oberst des russischen Militärgeheimdienstes, unterschlagen. Mit dieser Aktion beginnt faktisch der Krieg, in dem die ukrainischen Streitkräfte und Freiwilligenbataillone auf der einen Seite sowie separatistische Milizen und russische Soldaten auf der anderen Seite kämpfen.
RIA Nowosti manipuliert auch die Rolle der handelnden Akteure. Im Falle des Maidan berichtet die Propaganda nicht einfach über Massenunruhen und Auseinandersetzungen mit der Polizei, sie reduziert eine bunte Protestbewegung, in der unterschiedliche Gruppen der ukrainischen Gesellschaft vertreten sind, zu einer Gruppe bewaffneter Radikaler, die angeblich einen Staatsstreich vollzieht und gewaltsam die Macht ergreift. Somit entzieht RIA Nowosti der ukrainischen Gesellschaft die Eigenständigkeit und dem Protest wie auch den folgenden Wahlen die Legitimität. Proteste im Südosten des Landes werden dagegen als wahrhaft von der Gesellschaft getragene Massenbewegung dargestellt, dabei haben in Wirklichkeit bewaffnete Separatisten mit Unterstützung des russischen Geheimdienstes die Macht in den Regionen Donezk und Luhansk gewaltsam ergriffen.
Das Gleiche trifft auf den Krieg im Osten zu: Die Propaganda stellt ihn als einen Krieg der Kiewer Junta gegen die Zivilbevölkerung dar, während Russland die Rolle eines Friedensstifters zugeschrieben wird.
In dieser Version braucht man im Grunde nur noch einen Schritt zu machen, um diesen Krieg als Genozid zu bezeichnen, was Putin und der russische Außenminister Sergej Lawrow schließlich immer wieder tun.
Das alles ist eine vereinfachte Version der Geschichte. Eine viel zu einfache. Und es scheint, die komplexe Realität sollte sie an jeder Stelle widerlegen und schließlich auch zu Fall bringen. Aber die Kunst der Propaganda besteht auch darin, dem erfolgreich zu widerstehen. So wie es später auch mit der „militärischen Spezialoperation“ der Fall war, in der nicht alles nach Plan laufen sollte.
Nach dem ersten Schock, den die Russinnen und Russen zu Beginn des großflächigen Krieges gegen die Ukraine erlebten, versuchen viele von ihnen, das Geschehen irgendwie in ihr Weltbild einzufügen beziehungsweise „sich mit der Unvermeidbarkeit abzufinden”, wie es die Autoren der soziologischen Studie aus dem PS Lab formulieren. Dabei muss man einen moralischen Konflikt überwinden und einen rationalen Anhaltspunkt für das Geschehen finden. Damit dies gelingt, suchen viele Antworten in offiziellen Informationsquellen wie RIA Nowosti.
RIA Nowosti ist nicht nur eines der größten Internet-Portale in Russland. Als staatliche und damit offizielle Nachrichtenagentur genießt es im Vergleich zu anderen Medien einen hohen Vertrauenswert . Auch bezüglich der Reichweite hat RIA Nowosti große Vorteile. Diese sind nicht unbedingt marktwirtschaftlicher Natur. So hat etwa der russische Staat im Laufe des letzten Jahrzehnts mehrmals den News-Aggregator Yandex.News [ein Analog von Google News] unter Druck gesetzt. Einer Recherche der Novaya Gazeta Europe zufolge stammten Anfang 2022 mehr als 70 Prozent der Nachrichten auf Yandex.News aus staatlichen Medien. Und mehr als 20 Prozent von RIA Nowosti. Jede fünfte Nachricht also.
Wenn Russinnen und Russen über den Krieg sprechen, reproduzieren sie sehr oft die Narrative der Propaganda, die nicht unbedingt zusammenpassen müssen. Zu den zentralen gehören dabei der Schutz der Zivilbevölkerung vor der Kiewer Junta, ein präventiver Angriff und die Konfrontation mit der NATO. Außerdem, dass der Krieg gar kein Krieg sei, sondern eine „Spezialoperation”. Und RIA Nowosti liefert massive Unterstützung für diese Erzählung.
Kontextabsätze darüber, dass Russland im Februar 2022 eine Spezialoperation begonnen hat, wiederholen sich auf RIA Nowosti seit dem Beginn des Krieges mindestens 18.031 Mal.
Am 24. Februar hat Russland eine militärische Operation gegen die Ukraine begonnen.
Wie sich ein Krieg von einer militärischen Spezialoperation unterscheidet, ist nicht ganz klar. Aber die Propaganda betont immer wieder, dass Russland ausschließlich militärische Infrastruktur angreift und es keine Gefahr für die Zivilbevölkerung gebe. Diese Sätze werden mehr als 11.600 Mal wiederholt.
Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums beschießen die Streitkräfte nur militärische Infrastruktur und ukrainische Truppen, während die Zivilbevölkerung nicht bedroht ist.
Eine Spezialoperation zeichnet sich wahrscheinlich auch dadurch aus, dass sie im Vergleich zu einem Krieg schnell verläuft. Zu Beginn des Krieges wiederholt RIA Nowosti in mehreren Hundert Texten, dass ukrainische Grenzwächter keinen Widerstand leisteten und ukrainische Soldaten die Waffen niederlegten, dass die Luftabwehr überwunden sei und die militärische Infrastruktur der ukrainischen Luftstreitkräfte bezwungen.
Ungefähr zwei Stunden später fügt das Verteidigungsministerium hinzu, dass unkrainische Grenzer „niemandem Widerstand leisten“, die ukrainische Flugabwehr sei niedergeschlagen, die militärische Infrastruktur der Militärflughäfen ausgeschaltet.
Das alles sollte Leserinnen und Leser überzeugen, in der Ukraine finde eine Operation nach dem Muster der Krim-Annexion statt – schnell, erfolgreich und ohne Opfer unter der Zivilbevölkerung. In den ersten Tagen des Krieges schaffte es die russische Armee tatsächlich, tief in das Territorium der Ukraine vorzudringen – die Einheiten tauchten innerhalb weniger Tage in den Vororten von Kyjiw und Charkiw auf.
Offenbar haben die Propagandisten selbst daran geglaubt, dass es kein Krieg ist, sondern eine blitzschnelle Spezialoperation. Am Abend des 24. Februar veröffentlichte RIA Nowosti eine Infografik mit dem Titel „Ergebnisse der Spezialoperation der Streitkräfte Russlands in der Ukraine“. Die Kolumnistin Irina Alksnis fasste zusammen, dass diese Spezialoperation „ohne Zweifel zu einem Klassiker in der Planung militärischer Operationen wird … – einem Klassiker, dem man nacheifern muss, den zu wiederholen aber schwierig wird”.
Tatsächlich aber erleidet die russische Armee große Verluste bei Technik und Soldaten. Bereits Ende März 2022 wird klar, dass die Spezialoperation, „der man nacheifern muss“, gescheitert ist. Daraufhin musste die Propaganda sich der Realität an der Front anpassen.
In erster Linie ging es danach um die politischen Ziele der Invasion und die Qualität des Krieges.
Am Anfang des Krieges formulierte Putin das Ziel ziemlich nebulös: Die Ukraine solle „denazifiziert“ und „demilitarisiert“ werden. Dieses Ziel wurde in zehntausenden Kontextabsätzen wiedergegeben.
Ende März ist ein Umschwenken in der Darstellung des Krieges zu beobachten. Im Zerrspiegel der Propaganda verschwindet der siegreiche Blitzkrieg.
An seine Stelle tritt der angeblich erfolgreiche Abschluss der „ersten Phase“ der Operation. Erfolg wird daran gemessen, dass „das Kampfpotential der ukrainischen Streitkräfte signifikant reduziert” worden sei.
Gleichzeitig wird der Krieg schleichend zu einem Verteidigungskrieg umgedeutet und zwar nicht mehr gegen die Ukraine, sondern gegen die NATO .
Kontextabsätze über die NATO, die die Ukraine mit Waffen aufpumpt, nutzt RIA Nowosti bereits unmittelbar vor dem Krieg sehr oft – im Schnitt zwölf Mal pro Tag. Aber direkt nach dem 24. Februar verschwinden sie fast völlig. Man darf vermuten, dass der Kreml vermeiden wollte, dass sich unter den Leserinnen und Leser Panik breit macht, wenn der Krieg auf eine militärische Auseinandersetzung mit der NATO hinausläuft.
Aber ab Ende März können die militärischen Niederlagen in der Propagandalogik nur durch eine Auseinandersetzung mit der NATO erklärt werden.
Die Rolle der NATO wächst dementsprechend: Ab Ende März veröffentlicht RIA Nowosti hunderte von Kontextabsätzen zu verschiedenen Städten im Donbass – Horliwka, Jassynuwata, Sajzewe, Awdijiwka etc. – mit den Einwohnerzahlen vor 2014. Diese Absätze sollen tägliche Nachrichten kontextualisieren, in denen es um den Beschuss der Zivilbevölkerung durch die ukrainische Armee geht, mit Geschossen, die einen Durchmesser von 155 mm haben – ein NATO-Standard. Diese Sätze kommen 1903 Mal vor, öfter als fünf Mal pro Tag.
Danach rückt die Information, dass der Westen und die NATO Teilnehmer des Krieges seien, in den Hintergrund. Eine zentrale Rolle spielen hier Waffenlieferungen. Sie werden von einer Drohung begleitet: Mit Waffenlieferungen spielen die „NATO-Länder mit dem Feuer“, doch damit werden sie nichts ändern und den Konflikt nur in die Länge ziehen.
In Hunderten Texten tauchen auch die Sanktionen auf, die als ein „nie dagewesener Wirtschaftskrieg“ und als „Politik der Eindämmung Russlands“ bezeichnet werden.
Gleichzeitig werden die negativen Folgen der Sanktionen auf die russische Wirtschaft negiert. Russland habe sich darauf frühzeitig vorbereitet, heißt es. Unter den Sanktionen leide nicht Russland, sondern vor allem die USA und Europa, weil Lieferketten unterbrochen würden.
Auch später kommt es immer wieder vor, dass die Propaganda sich der sich verändernden Realität anpassen muss. RIA Nowosti publiziert zum Beispiel zwischen Februar und Juli 2022 Tausende Sätze darüber, dass von einer Okkupation der Ukraine keine Rede sein könne. Im September annektiert Russland aber vier Gebiete der Ukraine und die Propaganda muss zurückrudern. Man bekommt den Eindruck, dass die Propaganda die Leserinnen und Leser nicht auf bestimmte Ereignisse vorbereitet, sondern oft im Nachhinein Erklärungen für die Ereignisse finden muss, um die laufenden Ereignisse und politische Entscheidungen zu rationalisieren. Dabei müssen die Erklärungen nicht unbedingt logisch sein und können sich widersprechen.
Man könnte meinen, dass Russinnen und Russen nicht gegen den Krieg protestieren, weil sie nicht wissen, was in der Ukraine passiert. Schließlich gibt es in Russland keine unabhängige Presse, die die Wahrheit sagt. Aber es gibt unabhängigen Journalismus und die Fakten zu den Kriegsverbrechen in der Ukraine sind so zahlreich, dass man sie nicht vertuschen kann. Warum glauben Russinnen und Russen der Propaganda, obwohl sie sich oft selbst widerspricht?
Wieder zurück ins Jahr 2013: Dimitri Kisseljow hat gerade seine neue Position an der Spitze der Nachrichtenagentur Rossija segodnja angetreten. Im Gespräch mit der Redaktion erläutert er seine Vorstellung der künftigen Arbeit mit einem Bild: „Stellen Sie sich Folgendes vor: Sie sind ein junger Mann, Sie legen Ihrer Freundin den Arm um die Schulter und sagen: ‘Weißt du, ich will dir schon seit Langem sagen, dass ich dir gegenüber Objektivität empfinde.‘ Ist es das, was sie erwartet? Wahrscheinlich nicht! Genau wie unser Land, Russland, baucht Liebe.“
An die Stelle von Objektivität soll also die Liebe zum Vaterland treten. Nach diesem Prinzip verfährt RIA Nowosti von da an: Zuzugeben, dass das eigene Land Oppositionelle vergiftet, aggressive Kriege führt, Territorien annektiert und an der Ermordung von Hunderten und Tausenden Zivilisten beteiligt ist, ist sehr schwer und sehr schmerzhaft. Viel einfacher ist es, an das Gegenteil zu glauben: Dass andere Länder Verbrechen begehen und wir auf der Seite der Guten stehen. Genau dieses Bild schafft die Propaganda.
Damals 2013 sagte Kisseljow noch eins: Die Mission der neuen Media-Holding sei die „Wiederherstellung einer gerechten Beziehung zu Russland, als einem wichtigen Land in der Welt mit guten Absichten“. Scheinbar war es nur eine tönende Phrase. Aber alle drei Teile – das Verlieren der gerechten Beziehung zu Russland, die wiederhergestellt werden muss, Russland als eine Großmacht und sein friedliches Handeln – sind die Basis für das Haupt-Narrativ von RIA Nowosti, das die Agentur kontinuierlich in Kontextparagrafen wiederholt – unabhängig davon, um welche Ereignisse es geht.
Dieses Weltbild ist einfach und verständlich. Es ist auch sehr verlockend. Denn dann führt Russland tatsächlich keinen aggressiven Krieg gegen die Nachbarn, sondern führt einen globalen Kampf gegen den Westen für sein Recht, eine Großmacht zu sein, für seine Identität, zur Verteidigung von Zivilisten gegen Terroristen in Syrien, gegen Radikale in Belarus oder Nazis in Georgien und in der Ukraine.
Russland ist ein wichtiges Land der Welt mit guten Absichten.
Veröffentlicht am 19. Dezember 2023
Text: Leonid A. Klimov und Katja Lakowa unter Mitarbeit von Sonja Richter
Datenvisualisierung: Artyom Schtschennikow
Datenaufbereitung: Artyom Schtschennikow, Leonid A. Klimov, Katja Lakowa, Natalie Sablowski und Daria Talanowa
Redaktion: Arnold Chatschaturow und Julian Hans
Programmierung und Design: Daniel Marcus, Artyom Schtschennikow
Unter Beteiligung des Data-Ressorts der Süddeutschen Zeitung