Viele Russinnen und Russen unterstützen den Krieg gegen die Ukraine. Propaganda spielt dabei eine Schlüsselrolle.

Propaganda schafft Fake-News und verzerrt die Realität. Und manchmal scheint es, man müsste den Menschen, die daran glauben, einfach nur die Wahrheit erzählen.

Aber so einfach ist es nicht. Propaganda ist nicht immer nur Lüge. Sie schafft ein Weltbild, durch dessen Brille wir alles wahrnehmen, was passiert. Auch den Krieg.

Wir haben mehr als drei Millionen Artikel der wichtigsten propagandistischen Nachrichtenagentur Russlands RIA Nowosti analysiert und daraus die Muster herausgelesen, nach denen Propaganda funktioniert.

Im Netz der Propaganda

Was denken Russinnen und Russen über den Krieg gegen die Ukraine? Vieles weist darauf hin, dass die Russen diesen Krieg nicht wollten. Aber Umfragen zeigen auch, dass nach dem Beginn der Invasion mindestens die Hälfte der Bevölkerung sowohl Putin als auch die Handlungen der russischen Armee unterstützt.

Warum das so ist, darauf gibt es keine abschließende Antwort. Aber ein Grund ist definitiv die russische Propaganda. Um besser zu verstehen, wie sie funktioniert, haben wir mehr als drei Millionen Artikel aus der Zeit zwischen 2002 und 2023 von der Website von RIA Nowosti, dem wichtigsten propagandistischen Internet-Medium Russlands, analysiert. Was wir gefunden haben, hat uns erschüttert.

Aber der Reihe nach.

    Für viele Menschen begann der Krieg früh am 24. Februar mit der Ansprache von Wladimir Putin. Um 5.50 Moskauer Zeit verkündete RIA Nowosti den Beginn der sogenannten „militärischen Spezialoperation“ im Donbass und veröffentlichte ein Fragment dieser Rede, beziehungsweise deren zentralen Teil. Darin sagte Putin:

    „In Übereinstimmung mit Artikel 51 Absatz 7 der Charta der Vereinten Nationen … habe ich den Beschluss gefasst, eine militärische Spezialoperation durchzuführen. Deren Ziel ist es, die Menschen zu schützen, die seit acht Jahren den Misshandlungen und dem Genozid durch das Kiewer Regime ausgesetzt sind. Um sie zu schützen, streben wir die Demilitarisierung und Denazifizierung der Ukraine an. Diejenigen, die für die unzähligen blutigen Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung – darunter auch Staatsbürger der Russländischen Föderation –, verantwortlich sind, werden wir vor Gericht bringen.“

    Von diesem Punkt an veröffentlicht RIA Nowosti jeden Tag Hunderte von Nachrichten über die „militärische Spezialoperation“ und die „Situation im Donbass“ – zwei Euphemismen, mit denen die Propaganda den Krieg bezeichnet.

    Viele dieser Nachrichten enthalten in verschiedenen Kombinationen immer wieder die gleichen Sätze.

    In verschiedenen Kombinationen.

    Tag für Tag.

    Monat für Monat.

    Unabhängig davon, worüber RIA Nowosti berichtet – über Erfolge der russischen Armee (Misserfolge finden in die Nachrichten keinen Eingang), darüber, wie die Ukraine angeblich selbst eigene Städte und die eigene Zivilbevölkerung beschießt, über Sanktionen oder Waffenlieferungen aus dem Westen…

    …jedes Mal sehen die Leserinnen und Leser immer den gleichen Text. Und zwar... 

    mehr als 10.000 Mal.

    Damit wir besser verstehen können, wie diese Sätze miteinander verbunden sind, haben wir diese als Punkte gezeichnet. Deren Größe hängt davon ab, wie häuifig sie auf RIA Nowosti auftauchen.

    Am 24. Februar hat Russland eine militärische Operation gegen die Ukraine begonnen. Präsident Waldimir Putin nannte als Ziel „die Menschen zu schützen, die seit acht Jahren einem Genozid und Misshandlungen durch das Kiewer Regime ausgesetzt sind.“ Zu diesem Zweck plane man die „Demilitarisierung und Denazifizierung der Ukraine”, außerdem sollen alle Kriegsverbrecher, die für die blutigen Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung des Donbass verantwortlich seien, vor Gericht gestellt werden.

    Wenn die Sätze in gleichen Texten vorkommen, zeigen wir auch die Verbindungen zwischen den Punkten.

    Wir haben hunderttausende weitere Sätze von RIA Nowosti analysiert und mussten feststellen:

    Manche von ihnen wiederholen sich tausend- oder sogar zehntausendfach.

    Manche haben eine sehr lange Lebensdauer und werden über mehrere Jahre hindurch verwendet.

    Die überwiegende Mehrheit dieser Sätze bezieht sich auf die Ukraine.

    Und viele von ihnen erklären nicht einfach den Kontext, sondern entwickeln eine ganz bestimmte Wahrnehmung des Geschehens. Eine Wahrnehmung, die die Russinnen und Russen auf den Krieg gegen die Ukraine vorbereiten sollte. Ihren Anfang finden sie an der Jahreswende 2013/14. In dem Moment, als in Kyjiw Massenproteste gegen die prorussische Regierung von Präsident Wiktor Janukowitsch stattfanden, wurde RIA Nowosti neu aufgestellt – als Teil der neugegründeten staatlichen Medien-Holding Rossija segodnja (dt. Russland heute) und Dimitri Kisseljow wurde ihr neuer Chef.

    In der Nacht vom 21. auf den 22. November sammeln sich auf dem Kyjiwer Maidan ca. 2000 Menschen. Sie skandieren „Ukrajina – ze Jewropa“ (dt. die Ukraine ist Europa) und protestieren gegen die Kehrtwende von Wiktor Janukowitsch, das geplante Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union nicht wie angekündigt unterzeichnen zu wollen.

    In dieser Nacht beginnt in der Ukraine die größte Protestwelle in der neueren Geschichte des Landes, die in die Geschichte als „Euromaidan“ oder „Revolution der Würde“ eingeht. Für die kommenden Monate werden Ereignisse in Kyjiw zum zentralen Thema für alle russischen Medien. Unter anderem für RIA Nowosti.

    Viele dieser Nachrichten haben natürlich Kontextparagrafen: Damit man sich überschlagende Ereignisse einordnen kann, muss der Leser wissen, wann die Proteste angefangen haben und was sie ausgelöst hat. Bereits die ersten Nachrichten weisen einige Besonderheiten  auf, aber im Großen und Ganzen wurden die Ereignisse in Kyjiw neutral wiedergegeben und die Sätze, die sich einige Hundert Male immer wieder wiederholen, enthalten ausschließlich Fakten.

    Am 21. November begannen in Kiew und anderen Regionen der Ukraine Massendemonstrationen mit Anhängern der europäischen Integration, nachdem die ukrainische Regierung bekanntgegeben hatte, dass sie die Vorbereitung des Assoziierungsabkommens mit der EU ausgesetzt hatte, das auf dem Gipfel der Östlichen Partnerschaft in Vilnius abgeschlossen werden sollte. Am Samstag löste die Spezialeinheit Berkut den „Euromaidan“ im Zentrum Kiews auf. Am Sonntag fand in Kiew eine Demonstration statt, in der bis zu einer halben Million Menschen teilgenommen haben und die mit einer Besetzung der Stadtverwaltung und Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und Silowiki endete.

    Nach journalistischer Logik sollte es so auch weitergehen. Aber Mitte Januar 2014 (also nach der Reorganisation von RIA Nowosti) verschwinden die neutralen Kontextparagraphen. An ihrer Stelle erscheinen nun ganz andere.

    Wenn RIA Nowosti anfangs von „Anhängern der Eurointegration“ und „Protestierenden“ schrieb, schreibt das Medium seit dem 21. Januar fast ausschließlich über „radikal eingestellte Oppositionelle” und „Radikale“, die Molotowcocktails und Schusswaffen verwenden. Die Proteste selbst werden von da an als Auseinandersetzungen zwischen „bewaffneten Radikalen“ und „Organen der öffentlichen Ordnung“ bezeichnet. Der häufigste Satz darüber kommt 4301 Mal vor und überlebt bis zum Jahr 2019. Alle zusammen wiederholen sie sich mehr als 10.000 Mal.

    Ende 2013 flammt eine politische Krise in der Ukraine auf. Im gesamten Land finden Massenproteste, der sogenannte „Euromaidan“, statt, die zu Zusammenstößen zwischen bewaffneten Radikalen und den Organen der öffentlichen Ordnung führen. Die Opposition setzt wiederholt Schusswaffen und Molotowcocktails ein, Dutzende menschliche Opfer sind die Folge.

    Am 22. Februar kam es zu einer gewaltsamen Machtergreifung im Land. Die Krim hat die Legitimität der neuen Macht nicht akzeptiert. Die Bewohner der Krim haben sich demokratisch und in voller Übereinstimmung mit dem Völkerrecht und der UN-Charta für die Wiedervereinigung mit Russland ausgesprochen.

    Ende Februar 2014 beginnen in den südöstlichen Regionen der Ukraine Massenproteste der örtlichen Bewohner, die mit dem Staatsstreich nicht einverstanden sind. Die ukrainische Regierung beginnt im April 2014 eine Militäroperation gegen Bewohner der Ostukraine. Mehr als 9000 Menschen fallen dem Konflikt zu Opfer.

    Moskau ist keine Partei im Konflikt und nur daran interessiert, dass die innerukrainische Krise friedlich überwunden wird. Unter Vermittlung von Russland finden Friedensverhandlungen statt. Aber die Ukraine hält sich nicht an die Vereinbarungen.

    Der Westen und die NATO verbreiten ihrerseits Fakes über die Aggression Russlands. Sie nutzen diese als Vorwand für eine Stationierung von militärischem Gerät in der Nähe der Grenzen Russlands.

    Kiew beschießt den Donbass jeden Tag mit Waffen, die von NATO-Ländern geliefert wurden. Die Ukraine plant eine gewaltsame Lösung des Konfliktes.

    Russland startet eine militärische Spezialoperation. Das Ziel der Operation ist der Schutz der Zivilbevölkerung vor Genoziden und die Demilitarisierung der Ukraine.

    Alle diese Sätze werden zwischen 250 und 16.000 Mal wiederholt. Sie sind Elemente von Kontextparagrafen in 56.384 Nachrichten zur Ukraine zwischen 2014 und 2023.

    Kontextabsätze darüber, dass Russland im Februar 2022 eine Spezialoperation begonnen hat, wiederholen sich auf RIA Nowosti seit dem Beginn des Krieges mindestens 18.031 Mal.

    Am 24. Februar hat Russland eine militärische Operation gegen die Ukraine begonnen.

    Wie sich ein Krieg von einer militärischen Spezialoperation unterscheidet, ist nicht ganz klar. Aber die Propaganda betont immer wieder, dass Russland ausschließlich militärische Infrastruktur angreift und es keine Gefahr für die Zivilbevölkerung gebe. Diese Sätze werden mehr als 11.600 Mal wiederholt. 

    Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums beschießen die Streitkräfte nur militärische Infrastruktur und ukrainische Truppen, während die Zivilbevölkerung nicht bedroht ist.

    Eine Spezialoperation zeichnet sich wahrscheinlich auch dadurch aus, dass sie im Vergleich zu einem Krieg schnell verläuft. Zu Beginn des Krieges wiederholt RIA Nowosti in mehreren Hundert Texten, dass ukrainische Grenzwächter keinen Widerstand leisteten und ukrainische Soldaten die Waffen niederlegten, dass die Luftabwehr überwunden sei und die militärische Infrastruktur der ukrainischen Luftstreitkräfte bezwungen.  

    Ungefähr zwei Stunden später fügt das Verteidigungsministerium hinzu, dass unkrainische Grenzer „niemandem Widerstand leisten“, die ukrainische Flugabwehr sei niedergeschlagen, die militärische Infrastruktur der Militärflughäfen ausgeschaltet.

    Am Anfang des Krieges formulierte Putin das Ziel ziemlich nebulös: Die Ukraine solle „denazifiziert“ und „demilitarisiert“ werden. Dieses Ziel wurde in zehntausenden Kontextabsätzen wiedergegeben.

    Ende März ist ein Umschwenken in der Darstellung des Krieges zu beobachten. Im Zerrspiegel der Propaganda verschwindet der siegreiche Blitzkrieg.

    An seine Stelle tritt der angeblich erfolgreiche Abschluss der „ersten Phase“ der Operation. Erfolg wird daran gemessen, dass „das Kampfpotential der ukrainischen Streitkräfte signifikant reduziert” worden sei.

    Gleichzeitig wird der Krieg schleichend zu einem Verteidigungskrieg umgedeutet und zwar nicht mehr gegen die Ukraine, sondern gegen die NATO .

    Kontextabsätze über die NATO, die die Ukraine mit Waffen aufpumpt, nutzt RIA Nowosti bereits unmittelbar vor dem Krieg sehr oft – im Schnitt zwölf Mal pro Tag. Aber direkt nach dem 24. Februar verschwinden sie fast völlig. Man darf vermuten, dass der Kreml vermeiden wollte, dass sich unter den Leserinnen und Leser Panik breit macht, wenn der Krieg auf eine militärische Auseinandersetzung mit der NATO hinausläuft.

    Aber ab Ende März können die militärischen Niederlagen in der Propagandalogik nur durch eine Auseinandersetzung mit der NATO erklärt werden.

    Die Rolle der NATO wächst dementsprechend: Ab Ende März veröffentlicht RIA Nowosti hunderte von Kontextabsätzen zu verschiedenen Städten im Donbass – Horliwka, Jassynuwata, Sajzewe, Awdijiwka etc. – mit den Einwohnerzahlen vor 2014. Diese Absätze sollen tägliche Nachrichten kontextualisieren, in denen es um den Beschuss der Zivilbevölkerung durch die ukrainische Armee geht, mit Geschossen, die einen Durchmesser von 155 mm haben – ein NATO-Standard. Diese Sätze kommen 1903 Mal vor, öfter als fünf Mal pro Tag.

    Danach rückt die Information, dass der Westen und die NATO Teilnehmer des Krieges seien, in den Hintergrund. Eine zentrale Rolle spielen hier Waffenlieferungen. Sie werden von einer Drohung begleitet: Mit Waffenlieferungen spielen die „NATO-Länder mit dem Feuer“, doch damit werden sie nichts ändern und den Konflikt nur in die Länge ziehen.

    In Hunderten Texten tauchen auch die Sanktionen auf, die als ein „nie dagewesener Wirtschaftskrieg“ und als „Politik der Eindämmung Russlands“ bezeichnet werden. 

    Gleichzeitig werden die negativen Folgen der Sanktionen auf die russische Wirtschaft negiert. Russland habe sich darauf frühzeitig vorbereitet, heißt es. Unter den Sanktionen leide nicht Russland, sondern vor allem die USA und Europa, weil Lieferketten unterbrochen würden.

    Russland ist ein wichtiges Land der Welt mit guten Absichten.

    Veröffentlicht am 19. Dezember 2023
    Text: Leonid A. Klimov und Katja Lakowa unter Mitarbeit von Sonja Richter
    Datenvisualisierung: Artyom Schtschennikow
    Datenaufbereitung: Roman Beketow, Artyom Schtschennikow, Leonid A. Klimov, Katja Lakowa, Natalie Sablowski und Daria Talanowa
    Redaktion: Arnold Chatschaturow und Julian Hans
    Programmierung und Design: Daniel Marcus, Artyom Schtschennikow
    Unter Beteiligung des Data-Ressorts der Süddeutschen Zeitung