Fanailova
Im Auge der Gewalt
Engagement und Lyrik schließen sich für Elena Fanailova nicht aus, ganz im Gegenteil: Als Vertreterin einer neuen Form von Littérature engagée gehört sie zu den bedeutendsten poetischen Stimmen Russlands. Die ausgebildete Ärztin und studierte Linguistin, die für ihr Werk mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde, fordert Normen und Grenzen des Machbaren gerne heraus. Zudem hat sie sich als Radio-Reporterin einen Namen gemacht. Seit 1995 arbeitet sie für den russischsprachigen Dienst von Radio Free Europe/Radio Liberty. Was macht die eskalierende Gewalt mit Belarus, aber auch mit ihrer Heimat Russland? Darauf versucht sie in diesem Text eine Antwort zu finden.
Was mich an den Ereignissen in Belarus am meisten beunruhigt, sind die Foltermethoden, die gegen friedliche Demonstranten angewandt werden, von Schlägen bei Verhaftungen bis hin zu Prügeln und Vergewaltigungen in Gefängniszellen. Beweise für die Schläge sind hinlänglich dokumentiert und werden von den Opfern nicht verheimlicht, die sozialen Netzwerke sind voll von diesen Bildern. Beweise für die Vergewaltigung von Frauen und Männern findet man im öffentlichen Raum seltener (sie wurden vor allem durch die Menschenrechtsorganisation Wjasna dokumentiert), weil die Opfer durch diese Verbrechen stigmatisiert werden, sie schockieren aber allein schon durch ihre offensichtliche Existenz und ihre paradoxe Natur.
Seit dem Zweiten Weltkrieg zählen Vergewaltigungen durch Militärangehörige zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit; seit den Prozessen in Jugoslawien und Ruanda werden sie von internationalen Tribunalen juristisch geahndet. Anthropologen beschreiben sie als eine der militärischen Methoden, um die Moral und den Widerstand des Feindes zu brechen. Männer sind demoralisiert, wenn ihre Mütter, Ehefrauen und Töchter vergewaltigt werden, und wenn Männer vergewaltigt werden, ist das eine uralte, archaische Praxis der moralischen Unterdrückung. Diese Praktiken begegnen uns in Beschreibungen von internationalen Konflikten auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR in Zentralasien, zum Beispiel bei den Unruhen in Osch , mit denen ich zu tun hatte.
Heute erscheint diese Praxis, angewandt gegen das eigene Volk, als ein himmelschreiendes Beispiel für das archaische Vorgehen der Silowiki in Belarus. Diese Foltermethode wird von niemandem kontrolliert, noch ist sie in den Strafverfolgungsstrukturen selbst verboten. Kein Vergewaltiger wurde je zur Rechenschaft gezogen. Das schreckliche Wissen darum verdanken wir einer Handvoll mutiger Männer und Frauen, die in Interviews berichtet haben, wie man sie sexuell gefoltert hat, einfach, weil sie Sadisten in Uniform ausgeliefert waren.
Putin und Lukaschenko lernen voneinander
Es gibt Berichte von russischen Silowiki, die 2020 nach Belarus kamen und in belarussischer Uniform Jagd auf Demonstranten machten. Wenn das stimmen sollte, ist es nicht schwer zu verstehen, warum die brutalen Methoden des Umgangs mit Demonstranten schnell nach Russland überschwappten. Das geschah über die Horizontale, durch den „Erfahrungsaustausch“ unter den Silowiki.
Der Einfluss der belarussischen Ereignisse auf das Vorgehen der Machthaber gegen die Protestierenden im Winter 2021 (nach der Verhaftung von Alexej Nawalny) ist offensichtlich: In Moskau sahen wir eine ungeahnte Brutalität seitens des OMON, die Gewalt bei den Festnahmen erreichte eine neue, sadistische Stufe. Die Festnahmen im Winter 2021 in Moskau folgten offenbar dem Vorbild des belarussischen OMON. Zwar wurden keine Fälle von sexueller Gewalt fixiert, aber es gibt sie in russischen Gefängnissen. Nicht speziell gegenüber politischen Opponenten des Regimes, aber gegenüber Angeklagten nach dem Strafgesetz durchaus. Von grausamen Folterpraktiken, einschließlich der sexuellen, hört man auch aus den Gefängnissen in DNR und LNR (ich beziehe mich auf die Berichte des ukrainischen Autors und Journalisten Stanislaw Assejew, der in einem dieser Lager saß). Das sind Territorien, zu denen weder regionale noch internationale Menschenrechtler Zugang haben, es sind Räume der Straffreiheit und des menschlichen Leids.
Dass der „Club der politischen Tyrannen“ funktioniert, ist im Fall von Putin und Lukaschenko offensichtlich. Sie lernen voneinander, wie man mit seinem jeweiligen Volk umgeht, wie man es einschüchtert und ausnutzt, ohne sich die Liebe seines Volkes aufzubürden. Wie man die ganze Welt in Schrecken versetzt. 2014 hat Putin gezeigt, dass es möglich ist, die Krim zu annektieren. Dass man die Nachkriegsordnung mit Füßen treten und ein Stück eines anderen Staates mit militärischer Gewalt wegnehmen kann. 2020/21 zeigt Lukaschenko, dass man ungestraft seine Bürger foltern kann, die zu einer friedlichen Kundgebung auf die Straße gehen, und jetzt bedient sich auch Putins Regime dieser Praxis. Demonstrative Geständnisvideos wie das von Roman Protassewitsch (es kann keine Zweifel daran geben, dass er gefoltert wurde) gehören zwar noch nicht zum Repertoire des heutigen Russland, aber hier und da fühlt man sich bereits an die Schauprozesse der 1930er Jahre unter Stalin erinnert.
Und nicht zuletzt beunruhigt mich und dies scheint mir das Wichtigste in der Geschichte der Proteste in Belarus und Russland zu sein: Die Demokratie allein mit dem Körper zu verteidigen, wird nicht funktionieren. Hinter dem physischen Opfer muss eine politische Wirkung stehen. Andernfalls wird das Opfer bedeutungslos, oder aber seine Bedeutung rückt in weite Ferne. Im Moment aber scheint mir die Bedeutung der friedlichen Straßenproteste in Russland wie in Belarus auf Jahre aufgeschoben zu sein.