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Akudowitsch

Der Protest ist in unsere Herzen umgezogen

Text: Valentin AkudowitschÜbersetzung: Thomas WeilerTitelbild: Andrei Liankevich09.08.2021

„Wir waren den meisten Teil unserer Geschichte unsichtbar“, sagt Valentin Akudowitsch über die Belarussen und seine Theorie des Abwesenheitscodes. „Deswegen nimmt man uns heute von außen so schlecht wahr, und deswegen haben wir Probleme, uns selbst wahrzunehmen. Wir sind unsichtbar oder noch drastischer gesagt: Wir existieren nicht.“ Im vergangenen Sommer haben sich Hunderttausende Belarussen gezeigt, haben ihre Apathie und Angst überwunden. Was hat das mit der Gesellschaft gemacht? Was ist davon übrig geblieben? Darüber schreibt der belarussische Philosoph, Literaturkritiker und geistige Vater der avangardistischen Poesiebewegung Bum-Bam-Lit  in seinem Text.

Im Jahr 2013 erschien im Suhrkamp Verlag mein Essay Der Abwesenheitscode. Versuch, Weißrussland zu verstehen. Im Vorwort der belarussischen Ausgabe heißt es: „Mit dem 20. Jahrhundert endete die große Sturm-und-Drang-Epoche, aus der das unabhängige Belarus hervorging. Danach begann etwas gänzlich anderes, das aber so gar nicht passen wollte zu dem, was wir uns Anfang der 90er Jahre erträumt hatten. Wir waren nicht dort gelandet, wo wir hingewollt hatten, wir waren absolut nicht da, wo wir sein wollten.“ Wie hatte es so weit kommen können? Der Abwesenheitscode war mein Versuch, diese Frage zu beantworten. 

Die Jahre gingen ins Land. Was ich damals geschrieben habe, ist unverändert aktuell, jedenfalls wird mein Buch viel gelesen, nicht nur in Belarus. Deshalb glaubte ich schon, die düstere Abwesenheit in der Anwesenheit würde niemals enden und schließlich als unser „urewiger Weg“  erkannt werden, um mit Abdsiralowitsch  zu sprechen. 

Doch dann geschah das Wunder! Einen Tag nach der x-ten Wahl ohne Wahl strömten insgesamt mindestens eine halbe Million aufgebrachter Belarussinnen und Belarussen auf die Straßen und Plätze der Städte und Kleinstädte. Der Sieg des Dauersiegers (80 Prozent) war diesmal derart schamlos manipuliert worden, dass selbst eingefleischte Regimefreunde bei einem „Er ist wieder vorn!“ peinlich berührt zu Boden sahen. Zusätzlich angefacht wurde die unerwartet große Empörung durch den Umstand, dass Lukaschenka seine wichtigsten Konkurrenten bereits lange vor der Wahl hinter Gitter gebracht hatte. 

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Wahre Wunder sind immer auch schön. In meinem doch schon recht langen Leben habe ich nichts Schöneres gesehen, als die von einem himmelhohen Meer weiß-rot-weißer Fahnen überwehten Straßen und Alleen von Minsk. Diese Hunderttausenden und ihre zahllosen Fahnen lieferten den besten Beweis dafür, wer die Wahl tatsächlich gewonnen hatte. Gleichzeitig wurde Swjatlana Zichanouskaja zur schönsten Legende in der belarussischen politischen Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts. 

Lukaschenka hatte seit den ersten Tagen seiner Amtszeit die weiß-rot-weiße Fahne erbarmungslos bekämpft. Wer wurde in diesen Jahrzehnten nicht alles der Hochschulen und Universitäten verwiesen, entlassen oder ins Gefängnis gesteckt, weil er sich zu dieser Fahne bekannte … 

Doch woher rührt Lukaschenkas panische Angst vor der Flagge, unter der er selbst seinerzeit vereidigt wurde? Ich erlaube mir diesen Twist ins Fantasy-Reich und unterstelle, er weiß wie der Koschtschei  aus dem russischen Märchen, wo sein Tod verborgen liegt. Bei der Betrachtung des weiß-rot-weißen Himmels über den Köpfen der Kundgebungsteilnehmer im August fragte ich mich unwillkürlich: Wie hatten sie innerhalb weniger Tage so viele Fahnen nähen können? Später musste ich schmunzeln angesichts meiner Begriffsstutzigkeit. Von wegen nähen – sie hatten all die Jahre (und Jahrzehnte) an Wänden, in Zwischenböden und Truhen heimlich auf ihre große Stunde gewartet. Nichts zu machen, Genosse Koschtschei! Du verlässt die Bühne, die weiß-rot-weiße Fahne wird bleiben. Ein für alle Mal! 

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Ich weiß nicht mehr, wann und wo ich Eugène Delacroix‘ Gemälde Die Freiheit führt das Volk  zum ersten Mal gesehen habe. Wann immer mir das Bild später begegnete, musste ich unwillkürlich innehalten. Die barbusige Frau mit der Flagge Frankreichs, wie sie aufragt über Toten und Lebenden und zum Siegeszug ruft … Während des belarussischen Aufstands kam mir Delacroix bereits in den Sinn, als ich bei Kundgebungen unter Tausenden Zuhörern den Aufrufen von Swjatlana Zichanauskaja, Maryja Kalesnikawa und Veranika Zapkala lauschte. 

Noch ein weiteres Wunder hatte sich im Zusammenhang mit unserem Aufstand ereignet: Während die Männer hinter Gittern saßen, betraten die Frauen die Bühne der großen Politik. Ich denke hier freilich vorrangig an Swjatlana Zichanouskaja, die erste Präsidentin von Belarus. Dabei hat mich persönlich Maryja Kalesnikawa noch mehr beeindruckt, als sie ihren belarussischen Pass zerriss, um nicht gewaltsam außer Landes gedrängt zu werden. Ein frappierendes Beispiel für Mut, Heuristik und Patriotismus. 

Im Zeichen des Herzens: Maryja Kalesnikawa bei einer Demonstration im Sommer 2020 / Foto © Andrei Liankevich

Das Regime musste reagieren, es verlegte sich auf die totale Repression. Belarussischen Menschenrechtsorganisationen zufolge wurden Anfang Juli 2021 mehr als 550 politische Häftlinge in Gefängnissen festgehalten. Insgesamt waren seit den Wahlen etwa 36.000 Personen festgenommen worden. Von den Entlassenen, Exmatrikulierten und ins Ausland Gedrängten gar nicht zu reden. Deshalb ist es lächerlich, wenn Propagandisten und Politologen behaupten, der Protest habe sich in Luft aufgelöst. Er ist vielmehr von den Straßen in unsere Herzen umgezogen, in denen der Hass auf dieses menschenfeindliche Regime wächst und wächst. 

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Und zu guter Letzt noch das Wichtigste: Das Regime mag sich noch so abscheulich gebärden mit seinen Repressionsmaßnahmen – es hat keine Zukunft. Seine Zeit ist endgültig abgelaufen. Lukaschenka und seine Mannen sind lebend in einer toten Zeit gelandet. Mit allen ihren Politkonstrukten. Das Regime ist mindestens eine Epoche hinterher. Deshalb bekommt es auch nicht mit, dass sein gesamtes politisches Konstrukt nur eine monströse Kulisse im absurden Theater ist. Voller Angst warten sie nur noch darauf, dass ihnen die morschen Bühnenaufbauten ins Kreuz fallen. Hals über Kopf fliehen müssten sie von ihr, aber wer würde sie schon ziehen lassen? Wir aber haben 2020 der ganzen Welt gezeigt, dass die Belarussen eine Nation sind. Voller Anmut. Mut. Weisheit. Mit klaren Augen, die in der Zukunft eine menschliche Perspektive erkennen können.
Dorthin sind wir unterwegs.