Belarussisch als Sprache der Unangepassten

15.11.2022

Die belaruskaja mowa, die belarussische Sprache, wurde in der Sowjetunion spätestens mit dem Ende der Korenisazija-Politik und der Bekämpfung der nationalen Kultureliten als bäuerlich und hinterwäldlerisch stigmatisiert und de facto marginalisiert. Diese Sprachenpolitik gegen das Belarussische verfolgt auch der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko bis heute. Von Beginn seiner ersten Präsidentschaft im Jahr 1994 setzte er auf die Förderung des Russischen. Das Belarussische, das mit dem Beginn der Unabhängigkeit 1991 als Staatssprache gefördert worden war, drängte er zurück in die Nischen, es wurde wieder weitgehend aus dem Fernsehen, Radio und Universitäten verbannt und als „Sprache der Opposition” dämonisiert. 

In der Kultur der Rock- und Alternativmusik allerdings nimmt das Belarussische seit den 1980er Jahren eine umso bedeutendere Stellung ein. Nicht alle, aber viele Bands und Musiker schrieben und schreiben ihre Texte auf Belarussisch, um sich abzusetzen von der russischsprachigen Umgebung, um das Eigene zu betonen und die belarussische Kultur weiterzuentwickeln. Damit erfuhr das Belarussische als Kulturcode der Unangepassten eine neue Bedeutung und der Gebrauch des Belarussischen wurde vor allem mit der Präsidentschaft Lukaschenkos zum ausgesprochenen „Akt der Rebellion”, wie die US-amerikanische Musikethnologin Paula Maria Survilla in ihrer Studie zur belarussischen Rockmusik urteilte. 

Wir haben einige belarussische Kulturpersönlichkeiten befragt, wie sie zum Belarussischen gekommen sind und warum sie die Sprache für ihre Musik oder ihre Arbeit zu verwenden begannen.

Veranika Kruhlova, Sängerin und Mitgründerin des Folk-Ensembles KRIWI

Bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr habe ich Jazz gesungen, arbeitete an der Staatlichen Philharmonie als Bühnensängerin und sang im Jazz-Rock-Ensemble Linda. Nie hätte ich damals gedacht, dass ich einmal Volkslieder, Chansons und Rock auf Belarussisch singen würde. 1993 lernte ich Paulina [eigtl. Maria Paula] Survilla kennen, eine damals in den USA lebende Belarussin, die nach Belarus gekommen war, um über belarussische Folklore  und die neue Rockmusik zu promovieren. Damals versammelte sie in ihrer Wohnung die gesamte belarussische Bohème, alle unterhielten sich ausschließlich auf Belarussisch. So lernte ich belarussische Künstler und Rockmusiker kennen. Ich war begeistert! Das war die intelligente, denkende, freie, talentierte, wunderbar humorvolle und schöne Jugend der Stadt Minsk . Ich wollte Teil von ihnen sein.

Gemeinsam mit Paulina und den Bandmitgliedern von Palaz unternahm ich damals meine erste Folklore-Expedition, nach der mein Herz auf Belarussisch zu schlagen begann. Mein Leben, mein Umfeld und meine Musik änderten sich schlagartig. 1994 sang ich als Backgroundsängerin für Palaz, Krama oder Novae Neba. Ab 1996 hatte ich dann meine eigene Band – Kriwi. In diesem Jahr erschien auch unser legendäres Narodny Albom, dessen Mitwirkende zu meinen besten Freunden wurden. Es war die Zeit der nationalen Wiedergeburt, die wir eben mit Hilfe der Musik vorantrieben. Wir hatten Fernsehauftritte, Gastspiele, Konzerte im ganzen Land. Wir legten den Grundstein dafür, dass Belarussisch in unserem Land wieder in Mode kam.

Sjarhei Sacharau, Mitgründer der Belarussischen Musikalternative

Warum wollten wir belarussische Bands unterstützen und wie haben wir das gemacht? Jetzt, 25 Jahre nach der Gründung der Belarussischen Musikalternative  (BMA), ist mir eine Sache klar geworden: Im Prinzip haben wir selbst nach Selbstidentifikation gesucht, und haben damit auch anderen Menschen dabei geholfen. Denn der wichtigste Gedanke hinter BMA – für mich war er das – war die belarussische Sprache. Damals war sie marginalisiert. Damals, das war 1996, 1997, unterdrückte Lukaschenka die belarussische Kultur mit harter Hand. Zudem genoss sie nicht gerade große Popularität, weil viele in sowjetischen Stereotypen steckengeblieben waren. Für die war das Belarussische minderwertig, zu dörflich. Für uns aber war die Sprache immer wichtig gewesen. Rockmusik, oder auch alternative Musik, waren Ausdrucksformen, mit denen man viele Menschen erreichen und gleichzeitig ehrlich vor sich selbst bleiben konnte. So gingen wir also zu den Leuten und zeigten: Wir haben unsere Kultur, wir haben unsere Sprache, wir haben unsere Geschichte und das ist sehr wichtig und dadurch unterscheiden wir uns. 

Wir haben unsere Kultur, wir haben unsere Sprache, wir haben unsere Geschichte

Man konnte die Konzerte belarussischer Bands damals an zwei Händen abzählen, die Leute hörten halt eher russischen Rock und russischsprachige Bands. Und deshalb trägt in „Belarussische Musikalternative“ (BMA) jedes Wort eine tiefere Bedeutung, denn es geht um die belarussische Sprache, es geht um Belarus und es steckt Belarus drin. Und „Musikalternative“ – weil wir eine Alternative zu diesem drittklassigen, furchtbaren Popkram suchten, der in den 1990ern alles dominierte. Wir hatten sogar diesen Traum: Wenn es sowas wie ein Showbusiness gäbe, wenn das nicht alles unter der russischen Fuchtel stünde, könnte der belarussische Rock sogar erfolgreicher sein als der ukrainische.

Sjarhej Sacharau eröffnet das Festival Wolnyja Tancy (Freie Tänze), Stadtpark Maladsetschna, 1999. Foto: Ingo Petz

„Belarussische Musikalternative“ bedeutete für uns also, dass wir eine eigene kulturelle Szene schaffen, eine Alternative zur Massenkultur von der Straße – oder besser aus dem Fernseher. Und heute zeigen sich die Früchte. Die Menschen, mit denen wir damals gearbeitet haben, mit denen wir Konzerte gemacht haben, sind heute unter anderem bekannte Ökonomen, Politiker, soziale Aktivisten usw. Und dazu, dass sie sich für Belarus einsetzen, haben auch wir beigetragen.

Lavon Volski, belarussische Musiklegende

Unsere Rockband entstand während der Studienzeit an der Minsker Kunsthochschule. Wir waren drei Leute aus einem Studienjahr, dazu kam noch unser Schulfreund Ulads Dawydouski, der Gitarre spielte. Zunächst versuchten wir, Texte auf Russisch zu schreiben, stellten aber schnell fest, dass nur zweitklassiges, fades Zeug rauskam. Dann hatten wir die geniale Idee, Songs in belarussischer Sprache zu schreiben, auch, um uns damit von anderen Bands abzuheben. 

Schrittweise begannen wir, Belarussisch auch im Alltag zu verwenden, und das als Protest und Herausforderung in der grauen Sowjetrealität einzusetzen.

Nach Minsk, die Hauptstadt der BSSR, und auch in die anderen Städte, strömte in den 1960er und 70er Jahren ein steter Bevölkerungsfluss aus den belarussischen Dörfern. Auf dem Dorf gab es Kolchosen und Sowchosen – perspektivlose sowjetische Gebilde, Armut, Toiletten im Hof, Gummistiefel, Sauferei und Dreck. Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt hatten die Dorfbewohner nicht einmal Pässe, sie zählten zur „niedrigsten Kaste“. Daher versuchten sie, mit aller Kraft in die Städte zu gelangen und sich dort niederzulassen. Eine Wohnung zu bekommen, irgendeine Arbeit und die Kinder zum Studium zu schicken.

Um in der Stadt durchzukommen, musste man vom dörflichen Belarussisch auf städtisches Russisch umschulen

Um in der Stadt durchzukommen, musste man vom dörflichen Belarussisch auf städtisches Russisch umschulen. Um die eigene kolchosale Vergangenheit möglichst schnell zu vergessen. Das gelang mit durchwachsenem Erfolg, die Generation der Kinder sprach aber schon besser Russisch. Und diese Kinder waren es dann, die Belarussischsprachige als Kolchosbauern abstempelten. Was für ein Paradox. Daher war es zu dieser Zeit in den Städten eine Herausforderung und sogar nicht ganz ungefährlich, Belarussisch zu sprechen. Für uns kam es dem Widerstand gegen das System gleich.

Anatol Dods, Produzent des Narodny Albom

Ich wurde in eine sowjetische Familie hineingeboren, war Pionier, ging freiwillig zum Komsomol und dachte, all das sei richtig. Denn die Schule sagte: Es gibt keinen anderen Weg. Die Belarussischlehrerin war immer bemüht, ihren Unterricht so schnell wie möglich abzuarbeiten. Danach kam ich in die Fabrik, wo allen alles schnuppe war – außer schnelles Geld, billiger Alk und: eine Frau zu finden.

Von dem anderen Universum – mit belarussischer Sprache, Musik und Kultur – erfuhr ich, als ich auf eine Zeitungsannonce hin 1992 zum staatlichen Radio kam. Sie suchten einen Toningenieur. Vielleicht war ich einfach der einzige Bewerber mit musikalischer Ausbildung, deshalb nahmen sie mich.

Das Cover des 1997 erschienenen Narodny Albom

Schon vor der Arbeit beim Radio habe ich viel ausländische Musik gehört. Als ich dann die damals neue belarussische Musik kennenlernte, begriff ich, dass das genau der westliche Stil ist, den die ganze Welt hört, und nicht dieser seltsame Sound aus dem Russki Mir. Dort wurde häufig zuerst ein Text geschrieben und dann überlegt, wie man ihn vertonen kann; das war dieser Liedermacher-Stil, der mit der Zeit auch zu Rock weiterentwickelt wurde. Die Belarussen arbeiteten ganz anders, allen voran die Bands Bonda oder Ulis. Zuerst stand die musikalische Idee für den Song – wie in der britischen Musik. Und alles basierte auf Emotionen, es war klar, dass so ein Song „rollen“ muss …

Volha Babak, ehemalige Mitarbeiterin bei FM 101,2

Es stellte für mich keine besondere Herausforderung dar, auf Belarussisch zu arbeiten. Das Belarussische war für mich damals schon ganz normal. In meiner Kindheit hatte ich jeden Sommer bei meiner Großmutter im Dorf bei Mjadsel verbracht, wo alle Belarussisch sprachen. Mein Vater interessierte sich für belarussische Geschichte und Archäologie, wir hatten eine Menge belarussischsprachiger Bücher zuhause. Ich war eine der Freaks in meiner Klasse, die den Belarussischunterricht überhaupt nicht doof fanden. Als ich also 1992, damals noch Studentin an der Journalistischen Fakultät, zum Sender Belaruskaja maladsjoshnaja (dt. „Das jugendliche Belarus”) kam, war das einfach ein glückliches Zusammentreffen mit Gleichgesinnten.

Es war auch der Wunsch, sich von der miefigen sowjetischen Welt abzugrenzen

Mehr als die Hälfte der Mitarbeiter von BM verwendeten, auch live auf Sendung, die Taraschkewiza-Variante des Belarussischen. Da dieselben Leute dann Radio 101.2 gründeten, blieb diese Tradition erhalten. Wer es wollte und konnte, verwendete die Taraschkewiza, alle anderen nutzten den offiziellen Standard Narkamauka. Ganz am Anfang hatten wir gemeinsam im Kollegium beschlossen, dass wir alle unsere Stadt – der Sender war in der Hauptstadt zu empfangen – „Mensk“ nennen, also den belarussischen Namen der Stadt benutzen, was sicher auch eine Art des Protests war und der Wunsch, sich von der miefigen sowjetischen Welt abzugrenzen.