dekoder-Russland-Jahresrückblick 2020
Ein Jahr, in dem Corona fast alles dominierte. Ein Jahr der peremeny – des Wandels, im Guten wie im Schlechten. Ein spezifischer Rückblick mit Russland-Fokus, viel Kultur – und mit Lieblingstexten unserer RedakteurInnen
Jelzin, Putin – ein ungleiches Doppel
Ganz ehrlich: Oft sind Neujahrsansprachen irrsinnig langweilig. Das Gegenteil gilt für das Neujahrsansprachen-Doppel aus dem Jahr 2000, mit dem dekoder das Jahr 2020 einleitet.
Es bildet den Anfang in unserem Rückblick auf 20 Jahre Putin:
Nach der Neujahrsansprache hatte Putin die Amtsgeschäfte von seinem Vorgänger übernommen. Jelzin war krank und am Ende seiner Kräfte, die er über viele Jahre in Russland investiert hatte. Dem Abschied Jelzins folgte ein energetischer Anfang Putins.
Bro, was geht?!
Was für ein Land hatte Putin übernommen? Inwiefern war das, was er tat, den harten 1990er Jahren geschuldet? In Putin – Geisel der 1990er Jahre? sagt Juri Saprykin:
„Die rasant wachsende Zustimmung für Putin Ende 1999 war die Hoffnung auf einen Leader, der zwischen Gut und Böse unterscheiden und das Böse abwehren kann. Wer die Wahrheit hat, hat die Kraft.“
Und für alle, die russisches Kino mögen: In dem Text geht es auch oder vor allem um den Film Brat, denn Brat handelt von Russland und RussInnen leben mit ihrer Kultur, auch der Filmkultur.
Verfassungs-Knaller
Ausgerechnet in der müden Phase nach den ausgedehnten Neujahrs-Orthodoxe-Weihnachts-Altes-neues-Jahr-Feierlichkeiten explodiert noch ein Knaller: Mitte Januar kündigt Putin eine Verfassungsänderung an.
Großer Menschenfreund
Am 29. Januar vor 160 Jahren ist Anton Tschechow geboren. Einer der ganz großen Russland- und Menschenversteher.
Das gute Leben
2020 ist das Erinnerungsjahr an 75 Jahre Kriegsende.
Es gibt Leben, die durch den Zweiten Weltkrieg geprägt waren und die danach selbst die kommende Zeit kraftvoll mitprägten: Am 4. Februar stirbt Teodor Shanin. dekoder übersetzt einen Nachruf auf den Don Quichote der russischen Wissenschaft.
Die Wörterzählmaschine
Am 26. März ist Putin genau 20 Jahre im Amt. Wir denken uns: Wenn schon Putin, dann richtig und nehmen das zum Anlass für ein Putin-Special mit allem Drum und Dran … auch einer Wörterzählmaschine! Legt Putin die Worte in den Mund, die ihr wollt (ins Suchfeld), und seht euch an, wie oft er sie wann gesagt hat. Spielerei oder Erkenntnis? Beides!
Vom Himmel gefallen
Für viele völlig aus dem Blauen: Am 10. März schlägt die einst erste Frau im Weltall Valentina Tereschkowa in der Duma vor, qua Verfassungsänderung die Amtszeiten Putins auf Null zu setzen.
Leidenschaften während Corona
Die für April angesetzte Abstimmung über die Verfassungsänderung (siehe Januar) findet nicht statt – wegen Corona. Auch in Russland beschäftigt das weltweite Thema Nummer eins die Menschen, aber auch nicht zu vernachlässigende Leidenschaften wie Picknick und Schaschlik in den für Ende März ausgerufenen arbeitsfreien Wochen. Nachzulesen im Corona-Wörterbuch.
Der russische Söder
Vor allem Moskaus Oberbürgermeister Sergej Sobjanin rückt als „russischer Söder“ ins Rampenlicht, der Corona beim Namen nennt und strengere Maßnahmen fordert – Kritiker fürchten, dass er manches Kontrollsystem, wie die Gesichtserkennung, auch nach der Pandemie beibehalten wird. So erkennt Russland nach langer Unentschlossenheit die Notlage immerhin irgendwie an – während der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko erklärt: „Hier gibt es keine Viren.“
Der Monat zu 75 Jahre Kriegsende
Wir kennen die üblichen Bilder, die Paraden, die Panzer, die Formationen. Doch nun steht ein leises Gedenken bevor, auch in den Texten von dekoder.
Erinnern
Vor einiger Zeit brachte unser russischsprachiges Partnermedium Meduza mit „Weißt du, da war Krieg“ Erinnerungen der Großeltern von LeserInnen und Redaktionsmitgliedern.
Gemeinsames Erinnern
Nun antwortet dekoder mit einem Erinnerungseditorial. Trotz allen Zweifels, ob diese Art des gemeinsamen Erinnerns, des Brückenschlags, des Händereichens, das wir bei dekoder jeden Tag üben, gelingt – ein Versuch.
Klitzekleine Schnipsel
Lange geschwiegen wurde über das Schicksal der OstarbeiterInnen. Leise ist es immer noch um sie, doch es gibt sie, zum Beispiel in Geschichten darüber, wie ein Mädchen ihre Dokumente immer wieder zerreißt in Klitzekleine Schnipsel, weil sie nirgends existieren darf. Und das hört mit Kriegsende nicht auf.
Unbetreutes Gedenken
„Entspricht die derzeitige Stille nicht auf merkwürdige Art dem Wichtigsten an diesem Tag des Sieges, der Erinnerungsarbeit? Was hörst du, wenn du den Kriegserinnerungen allein gegenüberstehst, wenn dir niemand vorsagt, was du zu tun hast?“
Andrej Archangelski, Unbetreutes Gedenken
Die Essenz des Krieges
„‚Wie soll der Kleine denn wissen, was ein Hund ist? Die wurden doch alle gefressen.‘ Für mich war das einer der verstörenden Momente im Film Dylda.
Im Herbst 1945 ist Leningrad ein Ort, der von Hunger, Lähmung und Verzweiflung durchdrungen ist. Eine Stadt voller gebrochener Menschen, die sich gegenseitig Grausamkeiten zufügen. Der Regisseur Kantemir Balagow zeichnet mit dem Film Dylda ein monumentales Gemälde des Schrecklichen und spricht im Interview darüber: ‚Jeder Kriegsfilm muss ein Antikriegsfilm sein‘.“
Anton Himmelspach, dekoder-Politikredakteur
Verfassungsänderung
Jetzt im Juni laufen die Vorbereitungen für die Abstimmung über die Verfassungsänderung unter besonderen Corona-Umständen. Die Ergebnisse vom 1. Juli kurzgefasst: 78 Prozent der WählerInnen sind für die Änderung der Verfassung, etwa für die Festschreibung der Ehe nur zwischen Mann und Frau und für die Nullsetzung der Amtszeiten Putins, was zu andauernder Herrlichkeit unter dem Präsidenten führen kann, wenn er frisch bleibt.
Wem kurzgefasst zu kurz gefasst ist, der hat auf dekoder die Möglichkeit, sich genau zu orientieren in der Infografik.
Erschütterte Worte zur Verfassungsänderung
Wer lieber einen Text liest als Zahlen, der lese:
„Die radikale Umschreibung der Verfassung durch den Kreml im Jahr 2020, die es Putin erlaubt, noch länger im Amt zu bleiben, droht als eines der schlimmsten Ereignisse für die Zivilgesellschaft in die Geschichte einzugehen.“
Projekt-Redaktion, Warum gehen wir nicht auf die Straße?
Sommer, Reisen, Krim
Der Juli ist Reisezeit für die Touri-Toura-Touristen. Was früher jugendliches Abenteurerleben ohne Funktionsausrüstung war, ist heute recht bequemes Backpacking geworden. Raum zum Träumen vom eigenen Reisen von einem, der es früher und heute tat, in Kleine Geschichte des Reisens durch Russland
Apropos Reisen und der Sehnsuchtsort Krim
Eine Fotostrecke ins Gestern und im Heute.
Oleg Senzow, geboren am 13. Juli 1976 auf der Krim
„Der ukrainische Regisseur Oleg Senzow von der Krim, der nach der Angliederung der Halbinsel an Russland verhaftet wurde, schreibt nach seiner Entlassung aus fünfjähriger Haft, wie es in Russlands Gefängnissen heute zugeht: Nichts ist besser geworden als gestern oder vorgestern – das stand mir nach dem Lesen des Textes Operation Entmenschlichung plastisch vor Augen. Das Fazit dieses Textes ließ mich das Jahr 2020 hindurch nicht los: ‚Jedes Gefängnis ist lediglich ein Abbild der Gesellschaft, die es erschafft. Ein Land, das zwei Schritte von einem totalitären Staat entfernt ist, kann keine anderen Gefängnisse haben.‘“
Alena Schwarz, Content Management und Controlling
To be or not to be
In diesem stillgelegten Jahr und Sommer gibt es vielleicht Zeit, der Menschen zu gedenken, die die eigene Zeit oder die Welt geprägt haben. Wladimir Wyssozki mit Stimme und Gitarre († 25. Juli 1980) ist vor 40 Jahren gestorben. Viele Drogen, viel Alkohol, aber vor allem Musik, an der es kein Vorbei gibt.
Zoi und das Lagerfeuer
„Apropos Musiker, an denen es kein Vorbei gibt: Ob in der Karaokebar am Kiewer Kreschtschatik oder am Lagerfeuer in den Wäldern vor Wladimir – Viktor Zoi war und ist für mich immer mit dabei. Am 15. August 1990 – vor 30 Jahren – ist er bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Der Musikkritiker Juri Saprykin sagte einst, Zoi habe seine Hörer „für die zahlreichen Konflikte mit der Realität gewappnet“. Und genau das scheint mir heute aktueller denn je. Mit anderen Worten: ZOI LEBT!“
Daniel Marcus, dekoder-Redakteur und -IT-шник
Wir sind kein Völkchen
In einen solchen Konflikt mit der Realität gerieten auch viele Belarussen, als sie bei der Präsidentschaftswahl im August mit massiven Fälschungen und beispielloser Polizeigewalt konfrontiert wurden. Kein Wunder, dass mit Peremen ein alter Zoi-Klassiker zur Hymne des Protests wurde. Doch davon gibt es noch sehr viel mehr, wie diese Playlist von Meduza zeigt: Sound des belarussischen Protests mit My ne narodez – Wir sind kein Völkchen der belarussischen Tor Band.
Vor der Hauswand
In Was war da los? #2 zeigt dekoder ein aktuelles Foto aus Belarus, das nicht nur viele Überschriften der letzten Monate zusammenfasst …
Wir brauchen keine starken Anführer, wir brauchen eine starke Gesellschaft
„Es kommt einem wie ein Traum vor: Die einst als politisch apathisch geltenden Belarussen laufen Sturm gegen ihr autoritäres System und entdecken, ja, erfinden sich neu. In diesem Interview umkreist die Philosophin Olga Shparaga mit klugen Gedanken viele der Beweggründe der Belarussen: Solidarität, Offenheit, Toleranz, der Glaube an die eigene Stärke. Sie tut das mit einem unbedingten Hang zum Optimismus, den ich ihr als überzeugter Skeptiker und antrainierter Realist gerne als überzogen ankreiden würde. Aber es ist Shparagas überwältigender Optimismus, der zeigt: Die Belarussen sehnen sich nach einer Zukunft, die ihnen selbst gehört. Nirgendwo sonst in diesem gegenwartsgeprägten Jahr klang Zukunft für mich schöner.“
Ingo Petz, Belarus-Redakteur
Das literarische Wort als geltender Wert
Wenn diese zwei Autorinnen sich in einem Briefwechsel zu Wort melden, stehen wichtige Fragen im Raum, zum Beispiel: Warum schweigt ihr?
Die belarussische Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch schreibt aus Belarus nach Russland.
Die russische Meisterin der Prosa Ljudmilla Ulitzkaja antwortet aus Russland nach Belarus.
Nur ein Wort – Gift
Zum Glück ist niemand ums Leben gekommen! Nach dem Giftanschlag auf Alexej Nawalny am 20. August ist schnell klar, dass so schnell nichts klar sein wird: Was der Kreml nicht sagt. Gleichzeitig landet das Verhältnis zwischen Deutschland und Russland auf einem diplomatischen Tiefpunkt: Wie Merkel lernte mit dem Gopnik zu reden.
Merab Mamardaschwili: Chaos und Anstrengung als Grundlage des Seins