Das Graben nach Erkenntnis

Igor Kusnezow
Text: Igor KusnezowÜbersetzung: Ruth Altenhofer27.10.2023

Der Historiker Igor Kusnezow gilt als einer der besten Kenner des Kurapaty-Komplexes. Seit Jahrzehnten beschäftigt er sich mit der Erforschung der sowjetischen Repressionen in Belarus. Für unser Special erklärt er, welche Fakten zu den Erschießungen in Kurapaty als gesichert gelten können und wie schwierig die historische Wahrheitsfindung in einem politischen System ist, das sich genau dieser verweigert.

„Er kam und nahm einen mit. Ein Schuss. Dann wurde der Nächste geholt.“

Am 3. Juni 1988 erschien in der Zeitung Litaratura i Mastaztwa (dt. Literatur und Kunst) ein Artikel von Sjanon Pasnjak und Jauhen Schmyhaljou: Kurapaty – Weg des Todes . Darin erzählten die Autoren, wie sie Anfang der 1970er Jahre von alteingesessenen Bewohnern des Dorfes Sjaljony Luh (russ. Seljony Lug) von der Erschießung von Menschen in einem nahe gelegenen Wald gehört hatten.

Von 1937 bis 1941 seien Tag und Nacht Menschen herangekarrt und erschossen worden. Auf einer alten Heide, die sie Brod nannten, umgeben von ausgedehnten Wäldern und kleinen Äckern. Zehn bis fünfzehn Hektar der Heide nahm ein malerischer Hang ein, der Kurapaty (dt. Rebhühner) hieß, obwohl es kaum Vögel dort gab, dafür blühten im Frühling die Buschwindröschen und der Hahnenfuß. Ein gut drei Meter hoher, am oberen Rand mit Stacheldraht versehener Bretterzaun sperrte ein Grundstück ab. Hinter dem Zaun wachten Männer mit Hunden. Auf dem Schotterweg, der von der Straße Lahoiski trakt in Minsk nach Saslauje (russ. Saslawl) führte, wurden Menschen herangefahren. Die Einheimischen nannten diese Strecke Weg des Todes

Gedenkmarsch zu den Massengräbern von Kurapaty / Foto © Andrei Liankevich / Anzenberger (2007)

Die Autoren hatten für ihren Artikel zahlreiche Bewohner von Sjaljony Luh und den umliegenden Dörfern befragt. Die Publikation wurde schnell im ganzen Land bekannt. Wenige Tage später erschienen auch in den Zeitungen Moskowskije nowosti, Izvestia und Ogonjok Beiträge zu diesem Thema, das Zentralfernsehen berichtete ebenfalls. 

Bereits eine Woche später erhob der Staatsanwalt der BSSR, Georgi Tarnawski, Anklage – in Belarus war es die erste zu den blutigen Verbrechen, die das NKWD fünfzig Jahre zuvor begangen hatte. Die Presse berichtete von der Aufnahme der Ermittlungen und der Gründung einer Regierungskommission. Zu den Mitgliedern gehörten [die Schriftsteller] Wassil Bykau und Iwan Tschigrinow, der Volkskünstler der UdSSR Michail Sawizki, die ehemalige Illegale und nunmehr Heldin der Sowjetunion Maria Ossipowa, hochrangige Beamte des Justiz- und des Innenministeriums der BSSR, des Obersten Gerichts, des KGB sowie Wissenschaftler und Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen. 

Im Juli 1988 fuhren die Teilnehmer zum ersten Mal gemeinsam nach Kurapaty. Sie stiegen aus den Autos und liefen den von Osten nach Westen verlaufenden Hang hoch. Schon nach wenigen Schritten fielen ihnen Gruben auf – unterschiedlich groß und tief, manche kahl, manche mit Gras oder Gebüsch überwachsen und manche mit Glasscherben und Konservendosen vermüllt. Man notierte die ersten Zahlen: „510 Gruben in einer Größe von 2×3, 3×3, 4×4 und 6×8 Metern. Sechs Gräber wurden geöffnet, darin wurden die Überreste von insgesamt mindestens 356 Menschen gefunden. Genauere Angaben sind nicht möglich, da die Knochen zum Teil schwer beschädigt und zersplittert sind …“ Führen wir eine einfache Rechnung durch: 356:6=59. In jeder geöffneten Grube wurden somit die Überreste von durchschnittlich 59 Menschen entdeckt. Wenn man diese Zahl mit der anzunehmenden Menge der Gräber multipliziert, dann lässt sich abschätzen, dass in Kurapaty mindestens 30.000 Menschen begraben liegen. Pasnjak und Schmyhaljou veranschlagten die Zahl der Opfer wesentlich höher: Bis zu 250.000 Menschen seien in Kurapaty umgebracht worden.

Gleichzeitig gingen Mitglieder der Dorfräte und Polizeibeamte in den umliegenden Dörfern von Haus zu Haus und erstellten Listen mit Bewohnern, die hier in den 1930er und 1940er Jahren gelebt hatten. Bald lagen dem Ermittlungskomitee die Namen und Adressen von fast 200 Personen vor. Sämtliche Befragten waren im betreffenden Zeitraum im bewussten Erwachsenenalter gewesen. Im Zuge der Ermittlungen wurden rund 200 Augenzeugen befragt. 55 von ihnen gaben an, dass NKWD-Mitarbeiter in den Jahren 1937 bis 1941 Menschen in geschlossenen Kraftfahrzeugen herbeigeschafft und erschossen hätten. Die Leichen hätten sie in Gruben verscharrt. Die Erschießungen hätten 1937 begonnen und bis 1941 angedauert. 

Um zu klären, wo in den Jahren 1937–1941 und 1944–1953 die Urteile der Gerichte und außergerichtlichen Behörden vollstreckt wurden, stellten die Ermittler Anfragen ans belarussische KGB. Die Antwort lautete, dass der KGB über keinerlei Aufzeichnungen zu den Vollstreckungsorten verfüge. Auch die Anzahl der Erschossenen war nicht zu ermitteln. So schnell hatten sie es geschafft, Opfer wie Henker spurlos aus dem Gedächtnis zu löschen … 


Der größte Einsatz gegen „antisowjetische Elemente“ erfolgte auf Beschluss des Politbüros des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, das am 31. Juli 1937 den NKWD-Befehl Nr. 0047 „Über die Operation zur Repression ehemaliger Kulaken, Krimineller und anderer antisowjetischer Elemente“ in Kraft setzte. Zum ersten Mal wurden für jede Oblast und jede Republik quantitative Vorgaben gemacht, wie viele Menschen zu erschießen oder in Lagerhaft zu nehmen seien. 

Noch vor der Unterzeichnung des Befehls unterschrieb Stalin am 2. Juli 1937 ein Telegramm, welches anordnete, innerhalb von fünf Tagen Listen mit den Troikas und der Anzahl der zu erschießenden Personen nach Moskau zu übermitteln. Am schnellsten traf die Antwort aus Krasnojarsk ein, gefolgt von Kasan und Minsk.

Die Massenerschießungen fanden 1937/38 unter anderem im Wald von Kurapaty statt, bei Loschyza, Drashnja, Stepjanka, Massjukouschtschina … Ein Teil der Leichen wurde in bereits vorhandenen Gräbern auf dem Kalvarienfriedhof vergraben. Eine weitere Grabstätte, die nur wenigen bekannt ist, wurde beim Bau der Metrostation Puschkinskaja entdeckt. Dort waren auf einem Schindanger über 250 Eisenbahner verscharrt worden, die man 1937 auf Befehl von Kaganowitsch, Volkskommissar für Verkehrswesen der UdSSR, erschossen hatte. Wie viele solcher Orte wohl noch auf ihre Entdeckung warten? 

Auf Grundlage des Befehls Nr. 0047 wurden offiziellen Daten zufolge zwischen August 1937 und November 1938 auf dem Gebiet der Sowjetunion 390.000 Menschen erschossen und 380.000 in den Gulag geschickt. Verschiedene Quellen legen nahe, dass in den Jahren 1937 und 1938 allein auf dem Gebiet der BSSR mindestens 250.000 Menschen erschossen wurden und nicht 28.000, wie offizielle Historiker behaupten. Die im Befehl Nr. 0047 enthaltene Vorschrift, „Zeit und Ort der Urteilsvollstreckung geheimzuhalten“, wurde lange befolgt – das belarussische KGB hält sich bis heute daran. 


Im Staatsarchiv wurden Listen von Mitarbeitern aus Betrieb und Verwaltung des belarussischen NKWD gefunden, die sich zu verschiedenen Zeiten medizinischen Untersuchungen unterziehen mussten. Darunter waren Namen von Chauffeuren, die auch die Strecke vom Gefängnis nach Kurapaty bedient haben mussten. Folgende Stimmen stammen aus den Befragungen, die im Rahmen der ersten Untersuchungskommission durchgeführt wurden:

Als wir in den Wald kamen, war da eine große, viereckige Grube …

Aus der Aussage von Michail Davidson, einem ehemaligen NKWD-Chauffeur: „Als Chauffeur war ich nie an solchen Einsätzen beteiligt … Mit einer Ausnahme. Ich hatte damals Nachtdienst. Ein Diensthabender des NKWD, seinen Namen weiß ich nicht mehr, ließ mich holen und sagte, ich soll meinen Wagen in der Garage stehen lassen, mich in das Auto setzen, das im Hof steht, und den Befehlen folgen. Ich setzte mich ans Steuer, neben mir saß einer aus der Kommandantur, seinen Namen kenne ich nicht. Er befahl mir, Richtung Moskauer Chaussee zu fahren … 

Als wir in den Wald kamen, war da eine große, viereckige Grube … Ich schaltete das Licht ein und sah, dass hinten aus dem Laderaum Menschen geholt wurden. Andere saßen bereits am Grubenrand, ihre Beine hingen hinunter, die Arme waren am Rücken gefesselt. Als der ganze Grubenrand voller Menschen war, begann die Erschießung.

Sie wurde von einem einzigen Mitarbeiter der Kommandantur durchgeführt, der den Leuten mit einer Pistole in den Hinterkopf schoss, sodass sie in die Grube fielen. Als alle tot waren, sprang er selbst in die Grube hinab und trampelte auf den Leichen herum, ich hörte das Knacken der Knochen. Dieser Mann hieß Ostreiko … Insgesamt wurden da über 20 Menschen getötet, mehr als in meinen Wagen passten. Alle wurden an Ort und Stelle erschossen. Im Scheinwerferlicht sah ich diese Menschen, aber ihre Gesichter habe ich mir nicht gemerkt. Lauter Männer mittleren Alters. Alle leicht bekleidet – in Anzügen und Sakkos, keine Mäntel, keine Kopfbedeckungen, zivile Kleidung. Sachen hatten sie keine dabei. 

[…] Nach der Erschießung sollte ich zurückfahren, daher weiß ich nicht, wer die Grube zugeschüttet hat … Das muss Ende 1934 oder Anfang 1935 gewesen sein, jedenfalls nach der Ermordung von Kirow … […] Mir ist auch bekannt, dass nach solchen ‚Operationen‘ alle Beteiligten zum Nachtmahl in die Kantine des NKWD eingeladen wurden. Ich war damals auch eingeladen, ging aber nicht hin.“

Später erklärten mir die Erwachsenen, dass man da ‚Volksfeinde‘ hinrichtete

[Dorfbewohner] Jewgeni Staschkewitsch erzählt: „Ich war damals ein junger Hirte, da sah ich um fünf Uhr morgens, wie verschlossene Kastenwägen in den Wald fuhren. Gleich darauf waren Schüsse zu hören. Ich war noch jung und wusste nicht, was das für Autos waren und warum geschossen wurde. Später erklärten mir die Erwachsenen, dass man da ‚Volksfeinde‘ hinrichtete.“ 

Aus der Aussage von Sergej Charitonowitsch, 1937/38 Mitarbeiter des NKWD-Gefängnisses auf der Urizki-Straße: „1937 und 1938 wurden regelmäßig Häftlinge aus der Amerikanka zur Hinrichtung geschickt. Ich persönlich habe keine Gefangenen zur Erschießung gefahren, ich musste sie nur von ihren Zellen zum Wagen bringen … 15 bis 20 Personen wurden in einen Wagen geladen und sofort weggebracht – wohin, das wusste ich nicht. Nur einmal musste ich zu einem Erschießungsplatz fahren, um ein frisches Grab zuzuschaufeln … Wir fuhren über den Lahoiski trakt und bogen etwa vier Kilometer außerhalb der Stadt links ab … Wir kamen in einen Wald und sahen ein Massengrab – einen ziemlich langen, nicht sehr breiten Graben. Die Leichen waren bereits mit Sand bestreut, wir mussten die Grube nur noch zuschaufeln und glätten … Bei einem solchen Einsatz war ich nur ein einziges Mal dabei, bei Erschießungen musste ich persönlich nie dabei sein … Aber während meiner Dienstzeit wurden das ganze Jahr 1937 hindurch ständig Menschen zur Erschießung gebracht. Wenn ich Dienst hatte, musste ich jede Nacht Häftlinge aus den Zellen führen, 1938 waren es schon weniger … Da begannen sie damit, die NKWD-Mitarbeiter selbst zu verhaften …

Abramtschik erzählte, wie manche vor dem Schuss noch schrien: ‚Hoch lebe die Sowjetmacht!‘, ‚Hoch lebe Stalin!‘

[…] Viele Mitarbeiter der Kommandantur waren an den Erschießungen beteiligt – Nikitin, Koba, Jermakow, Jakowlew … Wenn sie spätnachts zum NKWD zurückkehrten, gingen sie in die Kantine und tranken Alkohol, der ihnen auf Befehl ausgeschenkt wurde … Wofür, weiß ich nicht. Vielleicht wegen der widerlichen Arbeit … Einer, der aktiv an den Erschießungen beteiligt war, war der Lagerverwalter Abramtschik Foma, den Vatersnamen weiß ich nicht mehr. Ich fragte ihn öfters, wie sie das machten, und er erzählte, dass sie die Leute an die Grube stellten und aus Pistolen schossen. Und ich erinnere mich, dass Abramtschik erzählte, wie manche vor dem Schuss noch schrien: ‚Hoch lebe die Sowjetmacht!‘, ‚Hoch lebe Stalin!‘“

Aus der Aussage von Iwan Stelmach, der seine Karriere beim NKWD als Praktikant in der Ermittlungsabteilung begann und sich bis zum stellvertretenden Minister für Staatssicherheit der BSSR hocharbeitete: „Als ich nach dem Krieg stellvertretender Minister für Staatssicherheit war, hatte ich mit den Briefen der Verwandten von Menschen zu tun, die in den 1930er Jahren zu zehn Jahren Haft ohne Recht auf Korrespondenz verurteilt worden waren. Ich beschloss, Koba zu Rate zu ziehen, der bereits Leiter der Kommandantur war, und fragte ihn nach dem Schicksal dieser Menschen. Er grinste hämisch und teilte mir genüsslich mit, dass solche Urteile Erschießung bedeuteten … Koba erzählte mir im Geheimen, dass diese Unterfangen in einem Wald bei Minsk durchgeführt wurden, aber wo genau und wie dieser Ort hieß, behielt er für sich … Völlig zwanglos berichtete Koba, dass er selbst gemeinsam mit anderen Angestellten der Kommandantur diese Erschießungen durchführte, unter anderem mit Nikitin und Jermakow. Sie schossen in den Kopf, mit Pistolen, weil die laut Koba die zuverlässigsten Waffen seien. Pro Nacht richteten sie mindestens zehn Menschen hin. Nach diesen ‚Operationen‘ wurden die Beteiligten immer mit Alkohol versorgt. Vielleicht war es gerade dieses Ritual, das viele in den Alkoholismus führte und manche in den Selbstmord trieb.“


Allerdings konnte kein einziges Opfer aus jener Zeit mit Sicherheit identifiziert werden. Selbst wenn man sehr viele der archivierten Strafakten studiert und weiß, dass diese Urteile in Minsk vollstreckt wurden, lässt sich nie mit Sicherheit sagen, ob jemand unter den Fichten von Kurapaty begraben liegt und oder doch im Tschaljuskinzau-Park, in Loschyza, Drasdy oder an einem anderen Ort, an dem Massenerschießungen stattgefunden haben. Die meisten Täter sind nicht mehr am Leben. Viele NKWD-Mitarbeiter ereilte dasselbe Schicksal wie kurz zuvor ihre Opfer. Andere fielen im Zweiten Weltkrieg an der Front oder im Partisanenkampf. Gleiches gilt teilweise auch für die Angehörigen und Freunde der Opfer. Vor 1956 gab es nur sehr vereinzelte Fälle, in denen man sich an den NKWD wandte, um über das Ableben der Nächsten Informationen zu erhalten. Die meisten hatten ganz einfach Angst, das Thema wurde buchstäblich totgeschwiegen, weil man auch später noch Repressionen durch den sowjetischen Staat fürchtete.

Das eingeleitete Strafverfahren wird eingestellt

1989 schloss die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen ab und gab die Einstellung des Strafverfahrens zu Kurapaty bekannt: „… Es wurde glaubhaft dargelegt, dass die Erschießungen der Verurteilten von Mitarbeitern der Kommandantur des NKWD der BSSR durchgeführt wurden … Angesichts dessen, dass die Täter – leitende Beamte des NKWD der BSSR und andere Personen – zum Tod verurteilt wurden oder in der Zwischenzeit verstorben sind, wird gemäß Art. 208, Pkt. 1 und Art. 5, Pkt. 8 des UPK BSSR das aufgrund der Entdeckung von Massengräbern im Waldgebiet bei Kurapaty eingeleitete Strafverfahren eingestellt. Die bei der Exhumierung zutage geförderten Kleidungsstücke, Schuhe etc. sind als wertlos zu vernichten.“ 

Im Juni 1991 schickten die Mitglieder einer sogenannten zivilen Kommission zur Aufklärung der Verbrechen in Kurapaty unter dem Vorsitz [des leitenden wissenschaftlichen Mitarbeiters der belarussischen Akademie der Wissenschaften Valentin] Korsuns eine Materialsammlung an die Staatsanwaltschaft der UdSSR, die angeblich Beweise lieferte, dass die Toten von Kurapaty nicht Opfer des NKWD, sondern der nationalsozialistischen Besatzer gewesen seien. Maria Ossipowa, die bereits Mitglied der ersten staatlichen Ermittlungskommission gewesen war, fiel nach vier Jahren urplötzlich ein, dass es doch die Deutschen gewesen seien, die im Krieg die friedliche Bevölkerung in Richtung Sjaljony Luh getrieben und erschossen hätten. Die Ermittler waren also mit mehreren Versionen konfrontiert, wobei die letzte immer im Widerspruch zu den vorigen stand.

Im Herbst 1991 reiste ein Vertreter der sowjetischen Staatsanwaltschaft nach Minsk; die Behauptungen der zivilen Kommission konnten jedoch nicht bestätigt werden. 

Um die Version auszuschließen, dass es sich um Juden gehandelt habe, die von den deutschen Besatzern erschossen wurden, stellte [der leitende Ermittler] Valentin Komarowski eine Anfrage an das Holocaust-Zentrum Yad Vashem in Jerusalem, in dem die meisten Daten zu Repressionen gegen Juden vorliegen. Weder Minsk noch Drasdy, Massjukouschtschina, Kurapaty, Zna-Jodkawa oder Sjaljony Luh tauchten dort als Orte auf, an denen Juden ermordet wurden. Auch in den deutschen Archiven fand man keine Angaben zu Erschießungen in Kurapaty. Deutsche Experten bestätigten, dass die Erschießungsmethoden in Kurapaty nicht denen der Deutschen entsprachen: Hitlers Truppen hoben größere Gräber aus – 50 bis 60 Meter lang, ihre Opfer mussten sich entkleiden, Habseligkeiten wurden eingesammelt und Goldkronen abgenommen. Zudem kann man die Patronen, die bei den Ausgrabungen gefunden wurden, zu einem großen Teil eindeutig der Nagan-Pistole zuordnen, die in jener Zeit bevorzugt vom NKWD benutzt wurde.

Dafür wurde eine „polnische Spur“ entdeckt. In einem russischen Archiv wurde ein von Berija unterschriebener Befehl gefunden, der den Transport von 3000 polnischen Offizieren aus den NKWD-Gefängnissen im Westen der BSSR nach Minsk und deren Verurteilung in Abwesenheit zum Tod durch Erschießen anordnete. Im März/April 1940 wurden sie nach Minsk gebracht, dort verliert sich ihre Spur. Es gibt Vermutungen, dass sie in Kurapaty umgebracht wurden, was aber bis heute nicht nachgewiesen ist. 

Nach Sichtung aller Dokumente kam man zu dem Schluss, dass es keinen Anlass gebe, die Ermittlungen zu Kurapaty wieder aufzunehmen. Eine Analyse der im Strafverfahren bereits gesammelten Materialien hatte neuerlich zu dem Ergebnis geführt, dass im Waldgebiet Kurapaty in den Jahren 1937 bis 1941 das NKWD der BSSR massenhaft Zivilisten erschossen hat. 

Die Ankündigung eines abermaligen, nunmehr vierten Ermittlungsverfahrens im Jahr 1998 schlug ein wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Die in den vorangegangenen Verfahren gesammelten Beweise wurden einer Überprüfung unterzogen, noch einmal wurden alle erdenklichen Versionen hinterfragt. Die zivile Kommission zog einen „Zeugen“ hinzu, der angeblich mit eigenen Augen gesehen hatte, wie die Erschießungen in Kurapaty von Deutschen und nicht vom NKWD vorgenommen wurden. Im Laufe der Untersuchung zeigte sich, dass der „Zeuge“ nicht einmal mit der Gegend vertraut war. 

Bei den jüngsten Ermittlungen und den bis heute letzten Ausgrabungen im Jahr 1998 wurde in Kurapaty ein Massengrab gefunden, das größer als alle bisherigen war und die Überreste von mehr als 300 Menschen barg. Und noch eine Sensation brachten die Forschungen zutage: Erstmals seit Beginn der Ausgrabungen in Kurapaty wurden Gegenstände mit konkreten Daten und Namen gefunden, die beweisen, dass die Erschießungen vor dem Krieg stattgefunden haben. So wurden im Grab N30 Belege entdeckt, die am 10. Juni 1940 im Gefängnis auf die Namen Mowsche Kramer und Mordychaj Schuleskes ausgestellt waren und die während der Verhaftung erfolgte Abnahme von Wertgegenständen quittierten.

Mittlerweile umfasst der Fall Kurapaty über fünfzehn Bände. Lauter Material, das ausschließlich die Version untermauert, dass die Erschießungen vom NKWD durchgeführt wurden. Selbst wenn man in Betracht zieht, dass auch die Deutschen hier während des Krieges einige hundert friedliche Einwohner erschossen haben, sind da immer noch die Spuren des NKWD. Dort, wo sich jetzt der Tschaljuskinzau-Park befindet, wurden vor dem Krieg Menschen vom NKWD erschossen und im Krieg von den Deutschen. 

In Minsk wurden bis heute neunzehn Orte verzeichnet, an denen zwischen 1920 und 1940 Menschen getötet und vergraben wurden, insgesamt sind es in Belarus mindestens 100. Wie viele solcher Orte liegen wohl noch im Verborgenen? 

„Ohne die Wahrheit über die Vergangenheit zu wissen, kann man weder in der Gegenwart frei atmen noch auf eine würdige Zukunft hoffen“ / Foto © Andrei Liankevich / Anzenberger (2007)

Heute kann man nur mehr weitere Ermittlungen durchführen, nach Berichten von Augenzeugen suchen und andere Fakten erforschen und vergleichen. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht, denn das KGB der Republik Belarus behauptet steif und fest, es lägen keine Dokumente zu den Orten der Erschießungen und Massengräber vor und es sei somit unmöglich, die Opfer zu identifizieren. 

Allerdings lässt sich schon heute mit Sicherheit sagen, dass der Ausgang des Falls Kurapaty jene, die hartnäckig die Augen vor der Wahrheit über die tragische belarussische Vergangenheit verschließen, nicht erfreuen wird. Ohne die Wahrheit über die Vergangenheit zu wissen, kann man jedoch weder in der Gegenwart frei atmen noch auf eine würdige Zukunft hoffen.