Wenn ein Übersetzer sich selbst über die Schulter und auf die Finger schaut, was sieht er da? Welche Fragen stellt er sich? Und mit wem diskutiert er? Hartmut Schröder hat während einer Übersetzung zu einer alten Kulturtechnik gegriffen, nämlich Tagebuch geschrieben – und es uns überlassen.
Donnerstag, mittags
Friederike von dekoder hat sich gemeldet: Ob ich einen Text übersetzen könnte, bis Montag. Ich überlege kurz. Ich habe noch die Übersetzung für einen anderen Auftraggeber auf dem Tisch, die muss ich aber nur noch polieren. Sollte also gehen. Ich sage zu.
Donnerstag, abends
Es kann losgehen. Die letzte Übersetzung ist poliert und weggeschickt. Ich schau mir den Text von Friederike an: Waleri Karbalewitsch, also Belarus, Belarus bin ich! Über die Militarisierung des Staates. Belarus und Militarisierung ist keine Überraschung. Jetzt bloß nicht zu viel an Hulak und Labkowitsch denken, für die ich so oft in Berlin und anderswo gedolmetscht habe, sonst reg ich mich auf und bin abgelenkt!
Der Text geht sofort in die Vollen: „Da sich staatliche Politik jetzt vor allem mit politischen Repressionen beschäftigt, wächst natürlich das relative Gewicht der Sicherheitsbehörden, der Silowiki.“ Zuerst kommt mir das für einen Eröffnungssatz ungewöhnlich abrupt vor, aber: Wenn man bedenkt, was alles in Belarus geschehen ist, könnte man es durchaus auch moderat nennen.
Und gleich der erste Stolperstein: silowyje struktury. Ich schaue nach: Zu den Silowiki müsste dekoder bestimmt eine Gnose haben – stimmt. Aber was mache ich mit den Strukturen? Silowiki ist ein personifizierender Begriff, inzwischen auch für das Gesamtphänomen, silowyje wedomstwa sind Institutionen, der silowoi blok ist eine politische Entität. Bei Strukturen wird’s schwieriger, die kommen immer etwas unscharf daher, leicht verschwörungsmäßig. Was sind etwa bisnes-struktury? Wirtschaftskreise? Ich entscheide mich für Sicherheitsbehörden, ergänzend zu den Silowiki, obwohl Sicherheit und Repression hier wirklich schlecht zusammengehen …
Und dann im nächsten Satz das wojenno-polizeiski reshim: Die berüchtigten russischen Bindestriche! Ich muss das Militärregime um den Polizeistaat ergänzen (Polizeiregime würde komisch klingen): „Die staatlichen Institutionen entwickeln sich in Richtung Militarisierung, Militärregime und Polizeistaat.“ Sollte kein Problem sein.
Und am Ende des nächsten Absatzes ein schöner sarkastisch barocker Abschluss: net neobchodimosti obremenjatsja skrupuljosnym wypolnenijem juriditscheskich prozedur. Ich übersetze es relativ wörtlich, hoffentlich kommt die Erleichterung für die Silowiki rüber: „Vom Justizministerium wird Tempo und Entschlossenheit bei repressiven Maßnahmen gefordert, also entfällt die Notwendigkeit, sich mit einer peniblen Befolgung juristischer Procedere zu belasten .“
Und dann: immer diese Floskel otmetim („Lassen Sie mich anmerken“), mal akzentuiert es etwas, mal kann man es einfach weglassen. Hier ist es für die Übersetzung überflüssig: „In letzter Zeit ist es vor allem das Innenministerium, das als Initiator für Gesetzesänderungen auftritt.“
Freitag, abends
Es gibt Probleme mit dem Spiel der Jungs morgen in Tegel. Der Vater von Jakob kann ihn anschließend nicht abholen. Ich sag ihm, dass ich Jakob mitnehmen kann. Das ist ihm peinlich, und nach mehreren Verhandlungsrunden aktiviert er seine Schwester. Immerhin ist endlich alles geregelt …!
Aber jetzt weiter.
Es geht mit dieser Feststellung los: „In einem normalen Land liegt das Recht der Gesetzesinitiative vor allem beim Parlament.“ Ich habe zwar einige Ausgaben der Tagesschau verpasst, aber es scheint die eine oder andere Gesetzesinitiative der Bundesregierung gegeben zu haben … Ich lass es so stehen, erstens steht es so da, zweitens ist es wohl schlichtweg eine Folge seiner gegenteiligen Erfahrungen in seinem Land.
Bemerkenswert die nächste Zwischenüberschrift: Kowid-dissidentswo. Was passt hier? Dissidenz? Querdenkerei? Ich versuche hier, eng am Text zu bleiben. Covid-Dissidenz . Zudem könnte die Dissidenz eine spiegelnde Anspielung auf den Umstand sein, dass Luka ganz drastisch keine Dissidenten oder auch nur Dissens duldet …
Dann ist die Rede vom pafos von Luschenkas Auftritt bei der Sitzung. „Pathos“ geht hier gar nicht, ist hier ein falscher Freund! Ton? Richtung? Duktus? Schwerpunkt? Ich nehme den Schwerpunkt. Und dann eine ominöse Äußerung von Lukaschenka zum Thema Coronaimpfung: „… ihr solltet aber die Menschen auch nicht überfordern.“ So müsste es aus der Logik heraus ungefähr stimmen, ich bin mir aber überhaupt nicht sicher. Es ist einfach eine sehr komische Wortstellung. Könnte der verquarzte, burschikose, rustikale Stil von Lukaschenka sein. Gut, dass es die Redaktion als Backup gibt. Bei der Recherche im Netz habe ich eine Videoaufzeichnung der Sitzung gefunden – grotesk und ganz finster: Der psychotische Regisseur spricht zynisch und irgendwie hilflos zu seinen Marionetten. Eine dieser Amtsmarionetten des Gesundheitswesens ist in Uniform, und ich erinnere mich, wie ich dabei war, als der stellvertretende Leiter des Referats Pharmazie des Gesundheitsministeriums der Belarussischen SSR (falls er das denn war) 1990 auf dem Minsker Flughafen eine Ladung westlicher, für NGOs bestimmter Babynahrung für seine Behörde (oder für sich) in Beschlag nehmen wollte, und zwar in voller Montur …
Aber zurück zum Text. „Das wichtigste Argument an die Adresse der höheren Beamtenschaft: ,Wem spielt ihr in die Hände?‘“ Wieder die tschinowniki … Jedes Mal die Frage, ob „Beamte“ oder „Bürokraten“. Einfach, weil es Beamte nach deutschem Verständnis in Belarus und Russland so nicht gibt und tschinowniki auf andere Art pejorativ ist. „Hochrangige Vertreter der Bürokratie“ wäre zu gestelzt, ich wähle also doch lieber „höhere Beamtenschaft“: „Und das wichtigste Argument , an die Adresse der höheren Beamtenschaft: ,Wem spielt ihr in die Hände?‘“
Samstag, nachmittags
Der Spieltag ist vorbei. Die Jungs haben sich in Tegel ’ne 1:8-Packung abgeholt. Völlig unnötig, fast alles Konter durch die Mitte. Ians Laune ist aber mittlerweile wieder im Gleichgewicht …
Weiter. Wieder über Lukaschenka: Narodny woshd ne moshet oschibatsja. Woshd , Führer? Da zucken Deutsche bestimmter Generationen immer zusammen, wenn es um andere Länder geht. Ich auch. Aber bei woshd (Führer, und eben nicht lider – Anführer) schaut Genosse Stalin um die Ecke, der war sogar woshd narodow, „Führer der Völker“, und gar nicht soo weit weg von unserem Führer … Luka hat zwar nur ein Volk, aber den „Führer“ hat er sich nicht nur subjektiv verdient! Er bleibt.
Und dann fangen die strukturellen Probleme an: Prowedenije sowmestnoi kollegii ministerstw oborony. Keine Ahnung, wie solche Ad-hoc-Gremien auf Deutsch heißen. Ich habe keine Zeit, durch das Labyrinth der entsprechenden Websites der Behörden zu surfen. Ich wähle lieber eine Variante, die dem Russischen möglichst nahekommt: „Die Sitzung eines gemeinsamen Kollegiums der Verteidigungsministerien von Belarus und Russland am 20. Oktober wurde von großen Verlautbarungen begleitet.“
Gleich danach geht es um die russischen Militärbasen in Belarus. „Es handelt sich um die Radarstation des Raketenfrühwarnsystems bei Baranowitschi und das Fernmeldezentrum der Kriegsmarine in Wilejka.“ Soweit ich das feststellen konnte. Militär ist nicht so mein Ding. Ich habe auf Deutsch auch nur ungefähre Beschreibungen gefunden und darf nicht zu viel Zeit mit der Recherche verlieren, sonst wird das nichts bis Montag früh …
Sonntag, abends
So, der Text hat geruht, habe noch einmal alles durchgelesen und schicke es ab. dekoder will es morgen um 9.00 Uhr auf dem Tisch haben.
Trialog
Tage später …
Ich habe von dekoder ausnahmsweise die Korrekturen bekommen. Normalerweise ist dafür keine Zeit, doch das Projekt eines Tagebuchs macht es nötig und möglich. Bin gespannt!
Gleich im ersten Satz: Staatliche Politik „beschäftigt sich“ nicht mit Repressionen, sie „besteht“ daraus. „Da staatliche Politik mittlerweile vor allem aus politischen Repressionen besteht, wächst natürlich das relative Gewicht der Sicherheitsbehörden, der Silowiki.“ OK. Konsequent. Wenn schon ein drastischer Einstieg, dann auch richtig! Die Sicherheitsbehörden und Silowiki haben sie so gelassen, nach Diskussion, wie ich an den Kommentaren sehe.
Was dann? Der sarkastische Barock: „… also entfällt die Notwendigkeit, sich mit einer peniblen Befolgung juristischer Procedere zu belasten.“ Den haben sie geopfert, verkürzt, es ist ja ein journalistischer Text. Jetzt heißt es: „also besteht keine Notwendigkeit eines peniblen juristischen Prozedere.“ Eigentlich schade. Das „sich damit belasten“ hätte den prinzipiellen Unwillen der Silowiki verdeutlicht, rechtsstaatliche Verfahrensweisen zu befolgen. Und diese Art journalistischer Text kann doch auch mal ’ne Schleife vertragen.
Bei den Gesetzesinitiativen hat die Redaktion umgestellt. Ich hatte geschrieben: „In letzter Zeit ist es vor allem das Innenministerium, das als Initiator für Gesetzesänderungen auftritt. Mal will das Ministerium Abonnenten ,extremistischer‘ Telegram-Kanäle zu Mitgliedern extremistischer Organisationen erklären.“ Daraus wurde jetzt: „Als Initiator für Gesetzesänderungen tritt in letzter Zeit vor allem das Innenministerium auf. Mal will das Ministerium Abonnenten ,extremistischer‘ Telegram-Kanäle zu Mitgliedern extremistischer Organisationen erklären.“ Jetzt steht also der Initiator und nicht das Innenministerium am Anfang des Satzes, wohl, um mit dem Ministerium am Ende den Anschluss an den Folgesatz zu verbessern. Lesbarkeit.
Als nächstes die Covid-Dissidenz. Aus ihr wurde: Dissidententum in Sachen Corona … Mein Fehler, dass ich Covid statt Corona verwende. Da bin ich schlichtweg kontaminiert durch englische und russische Texte. „Dissidententum in Sachen Corona“ ist aber auch nicht ganz glatt: „in Sachen“…? Und: Kann man dem Leser „Dissidenz“ nicht zumuten? Dissidenz meint doch die Haltung, das Handeln, während Dissidententum auch nach „die Dissidenten“ klingt und zu konkret mit den sowjetischen Dissidenten assoziiert würde, oder? Ich weiß nicht … Vielleicht waren sie auch unter Zeitdruck dort.
Dann das Rätsel um Lukaschenkas Impforientierung. Die Redaktion schreibt: „aber Sie werden bitteschön keinen Druck auf die Menschen ausüben“. „Druck“ ist besser als „überfordern“ (merk ich mir!), die Sache wird trotzdem nicht klarer, liegt aber wohl vor allem am Führer des Volkes. Trotzdem: Sagt ein solcher Führer „bitteschön“?
„Die Sitzung eines gemeinsamen Kollegiums der Verteidigungsministerien von Belarus und Russland am 20. Oktober wurde von großen Verlautbarungen begleitet.“ Dieser Absatz mit dem Kollegium wurde ordentlich umgearbeitet:
„Im Rahmen der Sitzung von Vertretern der Verteidigungsministerien von Belarus und Russland am 20. Oktober gab es hochtrabende Erklärungen.“ Ich schaue nochmal nach: Kollegium ist (unter anderem!) kein Gremium, sondern eine Ansammlung bestimmter Funktionäre. Deswegen sind die Vertreter vollkommen ok – ich hatte mich aufs Glatteis führen lassen. Die „hochtrabenden Erklärungen“ ersetzen die „großen Verlautbarungen“. Das „hochtrabend“ schießt vielleicht etwas übers Ziel hinaus. Allerdings waren die „großen“ zugegebenermaßen recht fade, obwohl ich das über die Verlautbarungen kompensieren wollte … Rätselhaft ist ein bisschen, wie jetzt aus soprowoshdalos, „im Rahmen“ wird; oder war der große Ereignisrahmen gemeint?
Das Militärische haben sie so gelassen. Ansonsten nur kleinere und mittlere Kleinigkeiten. Den perfekten Text ohne notwendige Korrekturen werde ich wohl nie liefern. Wäre sonst aber auch langweilig und würde keinen Spaß machen …
Postskriptum nach Kriegsbeginn
24. Februar
Das Unfassbare ist geschehen.
Putin macht Krieg.
Was für ein Verbrechen. Was für eine Katastrophe. Ich tigere durch die Wohnung, versuche meinen Verstand zu sortieren. Der Verstand hat’s schwer …
nachmittags
Ich bin auf dem Weg zur Demo. Elisabeth ruft an, eine alte Freundin. Sie hat meine Übersetzungen in den Russland-Analysen gesehen und wollte schnacken, wie schon so viele Male. Sie hat sich seit Jahrzehnten für eine Verständigung zwischen Ost und West eingesetzt und vor allem für ein Verstehen. Sie ist jetzt alt und schwer von einer Krankheit gezeichnet. Wir quatschen wie immer, alles mehr oder weniger harmlos, aber irgendwann bekomme ich den schrecklichen Eindruck: Sie weiß es noch gar nicht!
Ich versuche ihr klarzumachen, was passiert ist. Sie soll die Nachrichten lesen, schauen. Und ich fahre weiter zur Demo …
Anfang März
Ich tigere immer noch in der Wohnung, in meinem Home Office. Es kommen keine Aufträge; dekoder ist im Ausnahmezustand, andere kommen nicht aus den Puschen. Ich muss was tun und fahre zum Hauptbahnhof.
Da sieht’s ganz anders aus. Die Freiwilligen haben eine ganze Station aufgebaut. Im Untergrund. Gleichsam als ein halbwegs gutes Ende der U-Bahnen in Kyjiw und Charkiw.
Nach dem obligatorischen Briefing der erste Einsatz: ein Zug aus Warschau. Die Leute strömen heraus, und während ich noch überlege, ob ich „Hallo“ oder „Guten Tag“ sagen soll, höre ich von einer ukrainischen Familienchefin nur bestimmt: „Nach Mannheim!“ Alles klar. Vier Personen mit sechs Koffern, Taschen, Tüten. Ab zu den Fahrkartenschaltern, alles gut. Dann die nächsten übernehmen, die sich auch ganz schnell finden …
Das ist echte Therapie! Ich kann etwas tun. Die Menschen freuen sich wenigstens für einen Augenblick, sind manchmal gerührt, und ich bin es dann auch. Nur einmal brach jemand vor meinen Augen zusammen, löste sich, vollkommen desorientiert, in hoffnungslosen Tränen auf. Das war hart.
Anfang April
Ich erfahre, dass Elisabeth gestorben ist. Sie war zwar gesundheitlich angeschlagen. Aber der Krieg, Putin, hat ihr den Rest gegeben …
Mai
Ich treffe auf der Straße den Kita-Freund meines Sohnes, aus einer russischen Familie. Ich ahne, dass die Positionen innerhalb seiner Familie vielleicht widersprüchlich sind, und spreche den Krieg nur ganz vorsichtig an. Und ärgere mich über mich selbst: Ich könnte vermitteln und will mich doch nicht zu sehr einmischen. Eine tückische Mauer …
Freunde von mir, die Zivildienst gemacht haben oder alles andere als militant sind, treten jetzt für Waffenlieferungen ein … Und meine Position? Immer noch die eines Übersetzers, eines Vermittlers?
Ich frage mich, ob Übersetzen in Zukunft nur noch bei absurder Diplomatie (ich will nicht wissen, wie sich die Dolmetscher von Scholz und Macron in Moskau gefühlt haben!), bei der Flüchtlingshilfe und Behördengängen oder bei einem Medienprojekt wie dekoder gebraucht wird.
Vielleicht sollte ich auf meine alten Tage noch das Ukrainische erlernen …
Schon vor dem Krieg habe ich mich gefragt, ob es angemessen ist, vorwiegend den kritischen Teil des Diskurses in Russland abzubilden und nicht auch den Mainstream (oder gar das richtig Unappetitliche aus dem Staatsfernsehen). Ich habe für dekoder Teile von Putins Krimrede von 2014 übersetzt. Das war wirklich heftig und etwas ganz anderes als die zwar guten kritischen Kommentare, die aber irgendwie alle ins gleiche, vielleicht marginale Horn blasen.
Vielleicht wäre es sinnvoll, auch Materialien aus diesem „Giftschrank“ zu übersetzen; natürlich mit erklärenden Kommentaren, die es bei dekoder ja in aller Ausführlichkeit gibt. Wie bei der Dokumentation des viel beachteten Artikels „Was Russland mit der Ukraine tun sollte“ von Sergejzew und RIA in den Blättern für deutsche und internationale Politik und in Ausschnitten bei dekoder. Damit auch die Abgründe bekannt werden. Ich stochere in meiner Ratlosigkeit und in meiner Verzweiflung. Und in einem trotzigen Optimismus!
Ich glaube, ich muss wieder zum Bahnhof …