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Revolution der Würde

Susann Worschech
Text: Susann WorschechTitelbild: © Maxim DondyukBildredaktion: Andy Heller16.06.2023

Viele Wege führen zum Maidan, viele Wege führen vom Maidan in die verschiedensten Teile der Stadt. Der im Zentrum Kyjiws gelegene Unabhängigkeitsplatz – auf ukrainisch Maidan Nesaleshnosti – ist nicht nur ein Knotenpunkt auf den alltäglichen Wegen der Bewohner:innen und Besucher:innen der ukrainischen Hauptstadt, sondern auch in der Geschichte der Ukraine selbst. Als Ort für Versammlungen, Proteste, Revolutionen; für Wandel und Austausch der Gesellschaft hat der Platz eine besondere Bedeutung. Drei große und unzählige kleinere Proteste haben sich hier in den letzten Jahrzehnten zugetragen, und so ist der Platz nicht nur durch den Namen, sondern durch seine unmittelbare Geschichte als Ort der Proteste mit der Unabhängigkeit der Ukraine verbunden.

Im Oktober 1990 folgten 100.000 Menschen dem Aufruf protestierender Studentinnen und Studenten, die den Rücktritt des damaligen Ministerratsvorsitzenden der Ukrainischen Sowjetrepublik, Neuwahlen des Parlaments und letztlich eine unabhängige Ukraine verlangten. Die sogenannte Granitrevolution war der erste Massenprotest auf dem Maidan und endete nach gut 2 Wochen mit dem geforderten Rücktritt. Die Granitrevolution ebnete aber vor allem den Weg zur Unabhängigkeit und auch zur Demokratisierung der Ukraine, womit sie zugleich eine Grundlage für künftige Demonstrationen auf dem Maidan legte. Hier wurden erstmals jene charakteristischen Protestmittel angewandt, die später für die Orangene Revolution im November 2004 und insbesondere für die Revolution der Würde (oder Euromaidan) im Winter 2013/14 charakteristisch wurden: Das Errichten einer Zeltstadt, die gemeinschaftliche Versorgung der Protestierenden mit Nahrung und medizinischer Behandlung, der Aufbau einer oder mehrerer Bühnen für Kunst-, Kultur- und Bildungsveranstaltungen waren erstmals im Oktober 1990 zentrale Elemente des Protests. 

Kyjiw, 18. Februar 2014 / Foto © Maxim Dondyuk

Insofern basierte der Euromaidan als dritter und größter Massenprotest in der ukrainischen Geschichte auf einer langen Protesthistorie, was sich an den Stilmitteln, aber auch ganz konkret an Netzwerken, Akteuren, Forderungen und Slogans des Protests nachvollziehen lässt. Kern dieser Kontinuität ist das Ziel der Unabhängigkeit der Ukraine; im Laufe der Zeit sind weitere Motive und Narrative – allen voran Demokratisierung, Europäisierung und bürgerschaftliche Verantwortlichkeit hinzugekommen. 

Welche Rolle hat der Maidan 2013/14 als Ereignis gespielt? Welche Wege aus der Gesellschaft haben zum Maidan geführt? Welche Wege haben sich aus dem Maidan 2014 für die ukrainische Gesellschaft ergeben?

Die Revolution der Würde, wie der Euromaidan in der Ukraine genannt wird, bestand aus zwei Mobilisierungswellen. Die erste Mobilisierung begann am 21. November 2013. Bereits morgens hatte die Regierung von Ministerpräsident Mykola Asarow und Präsident Viktor Janukowitsch offiziell bekanntgegeben, worüber seit Wochen und Monaten in der Ukraine spekuliert wurde: Die Ukraine würde das fertig ausgehandelte Assoziierungsabkommen mit der EU auf dem EU-Gipfel in Vilnius Ende November 2013 nicht unterzeichnen. 

Das Abkommen war eines der wichtigsten und sichtbarsten Ergebnisse der Orangenen Revolution, die der Ukraine zwar weder einen Systemwechsel noch eine nachhaltige Demokratisierung, aber immerhin einen deutlichen Fortschritt in den Bereichen Europäisierung und demokratische Freiheiten gebracht hat. Seit 2005 wurde das Abkommen von der damaligen „orangenen“ Regierung geplant und Stück für Stück ausgehandelt; 2011 lag es im Grunde unterschriftsreif vor, wurde aber von der ukrainischen Seite mehrfach hinausgezögert. Die finale Ablehnung am 21. November haben vor allem junge Ukrainer:innen als ein Begräbnis der wenigen Hoffnungen und Chancen für sich in der Ukraine gesehen. Den Aufrufen einiger bekannter Aktivist:innen oder Journalist:innen wie Ihor Lutsenko oder Mustafa Najjiem, sich spät abends auf dem Maidan zum Protest zu versammeln, folgten anfangs etwa 2000 zumeist jüngere Menschen: Studierende, Schüler:innen, Journalist:innen und Künstler:innen, die in der bereits unabhängigen Ukraine aufgewachsen und mit dem Blick nach Europa sozialisiert worden sind.1 Die spontane, aber zugleich auf jahrelanger Arbeit vieler Teilnehmender in zivilgesellschaftlichen Organisationen für Presse- und Medienfreiheit, gegen staatliche Zensur und Korruption, für freie und faire Wahlen sowie Transparenz basierende Protestaktion erhielt schnell weiteren Zulauf und wurde innerhalb weniger Tage zu einer Bewegung mit bis zu 200.000 Teilnehmenden – die größte Demonstration auf dem Maidan seit der Orangenen Revolution. Als der EU-Gipfel in Vilnius am 29. November 2013 wie befürchtet damit endete, dass der ukrainische Präsident das Assoziierungsabkommen nicht unterzeichnete, schlossen sich auch Vertreter:innen politischer Parteien sowie weitere Künstler:innen dem Protest an, der sich bereits auf andere Städte der Ukraine ausweitete. Angesichts des deutlichen Zulaufes, den die Proteste erhielten, stürmten die Spezialkräfte der Polizei die bis dato friedlichen Proteste in der Nacht vom 29. zum 30. November in dem Versuch, die Demonstrationen gewaltsam zu beenden. Die völlig unverhältnismäßige Brutalität der Polizei und die Entschlossenheit des Präsidenten, die Proteste gewaltsam niederschlagen zu lassen, bewirkten jedoch genau das Gegenteil: Die zweite, erheblich größere Mobilisierungswelle begann und führte zu landesweiten Protesten mit bis zu vier Millionen Teilnehmenden, die letztlich fast drei Monate andauern und Politik und Gesellschaft in der Ukraine nachhaltig verändern sollten.

Dass der Maidan zunächst eine Revolution der Jugend und der Studierenden war, aber bereits nach wenigen Tagen zu einer gesamtgesellschaftlichen Protestbewegung wurde, ist auch vor dem demografischen Hintergrund der Ukraine interessant. Noch in den 1970er Jahren lag der Anteil junger Menschen bis 25 Jahre bei knapp 19 Prozent; der Zerfall der Sowjetunion und der Neubeginn als unabhängiger Staat hatten wie in allen anderen postsozialistischen Ländern einen rapiden Rückgang der Geburtenzahlen zur Folge, sodass der Anteil der unter 25-jährigen an der Gesamtbevölkerung zum Zeitpunkt des Maidan nur noch bei etwa 13 Prozent lag.2 Gerade diese Kohorte allerdings war es auch, die die Freiheiten der neuen Zeit zu nutzen wusste und insbesondere nach der Orangenen Revolution sich durch Reisen, Austauschprojekte oder ein Studium im (europäischen, oftmals polnischen) Ausland eine transnational geprägte Lebenswelt aufbaute. Da der Euromaidan auch als eines der ersten Protestereignisse galt, dessen Mobilisierung vorwiegend über die sozialen Medien – damals noch Facebook – stattfand, waren es überwiegend Menschen dieser Altersgruppe bis 25 Jahre, die dem Aufruf folgten. Die zweite Mobilisierungswelle hingegen wurde viel stärker von jenen getragen, die die ‚Jugend vor der Polizeigewalt schützen‘ wollten. Der brutale Versuch, den Protest der Schüler:innen und Studierenden auf dem Maidan mit Gewalt zu zerschlagen, führte dazu, dass bisher unbeteiligte Bürger:innen der Generation 26+ aktiv wurden und sich dem Protest anschlossen – häufig begleitet von dem Slogan, man lasse es nicht zu, dass Janukowitsch die eigenen Kinder oder Enkel gewaltsam an ihrem Recht zu demonstrieren hindere. De facto zeigt das Durchschnittsalter der Protestierenden der zweiten Mobilisierungswelle von knapp 36 Jahren, dass hier insbesondere eine Generation mittleren Alters und Schicht sich den Protesten anschloss – häufig auf der Basis bestehender Netzwerke und/oder relativer Betroffenheit durch die Polizeigewalt.3

Kyjiw, 18. Februar 2014 / Foto © Maxim Dondyuk

Zugleich fanden Proteste auch in zahlreichen anderen Städten des Landes statt. Damit wurde der Euromaidan erst ab der zweiten Mobilisierungswelle zu einem sehr großen und dauerhaften Protestereignis. Dazu passt, dass die Protestierenden in dieser zweiten Phase (1. Dezember 2013 bis Ende Februar 2014) mehrheitlich keine typischen Aktivist:innen oder zivilgesellschaftlich Engagierte waren, sondern sich ganz im Gegenteil bis dato eher als ‚unpolitisch‘ verstanden haben. Olga Onuch beschreibt den durchschnittlichen Maidan-Protestierenden wie folgt:

„Our survey data show that the Median protester was a male between 34 and 45 with a full-time job (56 percent were thus employed). He was well-educated, voted regularly, had experienced very little contact with civic or social-movement groups, wanted a better political future for Ukraine, and was more worried about violent state repression (and infringements on basic rights) than about forming closer EU ties, working in an EU country, or being able to travel around Europe without a visa.”4 

Damit wird deutlich, dass die Proteste ab Anfang Dezember gerade durch den brutalen Zerschlagungsversuch eine deutliche inhaltliche wie strukturelle Wende durchlaufen haben und die Ablehnung des Assoziierungsabkommens eher der Auslöser als der Grund für die Demonstrationen war. Die Ursachen liegen in einem grundsätzlichen Zerwürfnis von Regierung und Gesellschaft, das Präsident Janukowitsch durch die zunehmende Repression, Re-Autokratisierung und die offensichtliche Korruption auf allen Ebenen regelrecht befördert hat. Insofern ist es auch verständlich, warum die Proteste in der Ukraine als „Revolution der Würde“ und nicht als „Euromaidan“ bezeichnet werden – die eigentliche Protestursache war vielmehr der Wunsch nach gesellschaftlicher Mitbestimmung, Transparenz und Rechenschaftspflicht der Regierung.

Die Geschichte der Ukraine ist auch eine Geschichte der Zivilgesellschaft zwischen Repression und Dissidententum, zwischen externer Förderung, interner Mobilisation und Revolution. Dabei lagen Erfolge und Misserfolge von Zivilgesellschaft und Protestbewegungen häufig sehr dicht beieinander. Nachdem zwischen 1917 und 1919 gleich mehrere ukrainische Staaten existierten, die aber weder das Versprechen der nationalen Unabhängigkeit einlösen noch in den Wirren des zu Ende gehenden ersten Weltkrieges Bestand haben konnten, wurde die Ukraine in den 1920er und vor allem 1930er Jahren russifiziert und sowjetisiert. Der frühe ukrainische Widerstand formierte sich als Bezug auf die ukrainische Sprache und Kultur, die von Moskauer Seite als „bäuerlich“ und rückständig abgewertet wurden. Zugleich war dieser Bezug eine wichtige Basis für die politische Kritik der ukrainischen Dissident:innen in den 1960er bis 1980er Jahren. Unter allen politischen Häftlingen in der Sowjetunion waren Ukrainer:innen überproportional vertreten. Die Atomkatastrophe von Tschernobyl wurde ebenso wie Menschenrechtsbewegungen im Helsinki-Prozess zu einer Geburtsstunde zahlreicher Menschenrechts- und Umweltorganisationen, die zusammen mit den Dissident:innen eine wichtige Basis für die Unabhängigkeitsbestrebungen der Jahre 1989–91 bildeten.

Die Gründung der Bewegung ‚Ruch‘ ( dt. Bewegung) nach dem Vorbild der polnischen Solidarność beförderte Debatten um eine unabhängige und demokratische Entwicklung der Ukraine. Während die Unabhängigkeit letztlich durch den Protest engagierter Bürger:innen erreicht werden konnte, blieben Demokratisierung und europäische Integration wie in Polen oder den baltischen Staaten jedoch aus.

Kyjiw, 18. Februar 2014 / Foto © Maxim Dondyuk

Was sich allerdings auf der Basis dieser langen Protesthistorie aus der Sowjetunion und aus den 1990er Jahren herausbildete, waren enge Netzwerke kritischer Journalist:innen, Künstler:innen und Oppositioneller, die durch die nicht stattfindende politische und gesellschaftliche Transformation nach der Unabhängigkeit geprägt und in der Orangenen Revolution sozialisiert wurden – und die Phase der Liberalisierung ab 2005 für eine Ausweitung ihres Engagements und ihrer Netzwerke nutzten. Studentische Gruppen wie die beiden Organisationen namens PORA, die die Proteste gegen die Wahlfälschung 2004 vorbereitet hatten, blieben als Wahlrechts- oder Transparenz-NGOs aktiv; Journalist:innen der ersten unabhängigen Internetzeitung Ukrainska Prawda professionalisierten ihre Arbeit und gründeten weitere unabhängige Medien wie hromadske.tv. Zugleich war die „Orangene Phase“ zwischen 2005 und 2010 Geburtsstunde zahlreicher Künstlerkollektive und progressiver Gruppen im Bereich der alternativen Kultur. Diese Gruppen haben die Diskussionen zur Unabhängigkeit, zu Demokratie und Europa kritisch vorangetrieben, vernetzten sich transnational und beförderten auf teils radikale Weise die Idee einer „offenen Gesellschaft“.

Die „Orangene Phase“ war zugleich eine erste, aber sehr spezielle Blütezeit der ukrainischen Zivilgesellschaft. Eine erheblich größere Presse,- Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie die gesellschaftlich errungenen freien und fairen Wahlen waren die Grundlage für größere Spielräume und die Entwicklung der Zivilgesellschaft. In den Jahren 2005 bis 2010 wuchs die Zivilgesellschaft auf über 70.000 registrierte Organisationen an, von denen allerdings nicht alle wirklich aktiv und funktionsfähig waren. 

Parallel dazu stieg auch die Aufmerksamkeit der internationalen Demokratieförderung für die ukrainische Zivilgesellschaft, die sich schnell professionalisierte. Stiftungen, Botschaften westlicher Länder und Agenturen für Demokratieförderung trafen auf zunehmend gut organisierte und engagierte NGOs, deren Arbeit sich vor allem auf die Bereiche Kinder & Jugendliche, politische Bildung, Menschrechtsschutz, Soziale Arbeit & Wohlfahrt sowie Entwicklung der Zivilgesellschaft fokussierte. In diesen Themenfeldern erbrachten NGOs vor allem (Weiter-)Bildungsmöglichkeiten, Beratung, Informationsverbreitung, Advocacy- und Lobbyarbeit, sowie themenspezifische Trainings.5

In der Folge der Proteste von 2004 entwickelten sich umso stärker auch jene Organisationen weiter, die in politischen Bereichen wie Korruptionsbekämpfung, Wahlbeobachtung, Pressefreiheit, Menschenrechtsschutz, Umweltschutz und Partizipation aktiv waren. Die Förderung solcher teils recht professionell agierender NGOs wurde ein zentrales Mittel der Demokratisierungshilfe, zumal die Zivilgesellschaft gegenüber den zunehmend zerstrittenen und nach wie vor korrupten politischen Akteuren der wechselnden „orangenen“ Regierungen als erfolgversprechenderer Kooperationspartner erschien, Projekte zuverlässig und zielorientiert umsetzte und in transnationale Netzwerke eingebunden war.

Allerdings war die Förderung der Demokratisierung via Zivilgesellschaft nicht unproblematisch: Nach der Orangenen Revolution verbesserten sich zwar politische und individuelle Freiheiten, das politische System und auch die Art der politischen Elitenrekrutierung blieb jedoch wie zuvor. In der Folge entfremdete sich die pro-demokratische und pro-europäische Zivilgesellschaft zunehmend vom politischen System und politischen Akteuren, statt auf zunehmende Interaktion und Kooperation zu setzen. Zivilgesellschaftliche Akteure und Organisationen blieben daher mit ihren guten Ideen und offenen Kritiken eher in ihrer eigenen Blase, statt politische Prozesse zu beeinflussen. Zugleich war eine Entfremdung der NGOs von der „normalen Gesellschaft“ zu beobachten, sodass NGOs und Initiativen zwar viele (extern finanzierte) Projekte umsetzen konnten, deren Auswirkungen aber letztlich sehr beschränkt blieben.6 Kritische Beobachter:innen sprachen sogar von einer ‚künstlichen‘ Zivilgesellschaft.7 Trotz einer insgesamt positiven Entwicklung, zunehmender Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit, kritischen Debatten und guter Vernetzung nach innen konnte die Zivilgesellschaft ihrer Rolle als Vermittlerin im demokratischen System auf diese Weise kaum gerecht werden.

Paradoxerweise stellte gerade die zunehmend repressive Phase unter Präsident Janukowitsch ab 2010 einen Katalysator für die Zivilgesellschaft dar, und zwar vor allem in qualitativer Hinsicht. Drastisch eingeschränkte Pressefreiheit, schnell deutlich werdende Repressionen und Druck auf bekannte Aktivist:innen der Zivilgesellschaft durch Geheimdienste und den Sicherheitsapparat waren begleitet von einem umfangreichen Systemumbau, den der neue Präsident zügig vornahm und der die ohnehin schwachen Checks & Balances staatlicher Macht mehr oder weniger außer Kraft setzte. Janukowitsch weitete seine Kontrolle über die Legislative, die Exekutive und auch die Gerichtsbarkeit inklusive des Verfassungsgerichts aus, was eine nahezu vollständige Umkehr der zwischen 2005 und 2010 erreichten politischen Freiheiten und demokratischen Fortschritte war.

Kyjiw, 18. Februar 2014 / Foto © Maxim Dondyuk

Als Reaktion auf diese Einschränkungen wurde die Zivilgesellschaft diffuser, spontaner, dezentraler und zugleich oppositioneller: In zahlreichen Initiativen und zivilgesellschaftlichen Netzwerken ging es nicht mehr um geförderte Projekte, die umgesetzt werden sollten, sondern um die Verteidigung lokaler Freiräume und gesellschaftlicher Interessen gegen staatliche oder privatwirtschaftliche Akteure, die sich über das Gemeinwohl und kritische Debatten hinwegsetzten. Initiativen wie Save Old Kyiv (gegen die illegale Vergabe von Bauland im historischen Zentrum der Stadt), Seleni Front (für Umweltschutz und Stadtnatur in Charkiw), aber auch zahlreiche kritische Kunst- und Kulturgruppen machten politische Probleme vor Ort zum Thema und brachten zugleich erfahrene Aktivist:innen und engagierte Bürger:innen zusammen. Künstlergruppen und Kuratoren-Kollektive wie Hudrada, die Gruppe R.E.P. (Revolutionary Experimental Space), das Kyjiwer Visual Culture Research Center oder die feministische Gruppe Ofenzywa loteten in Performances, Ausstellungen und Protestaktionen neue Formen der Kritik und des Dialoges aus.8 Rückblickend wird deutlich, dass gerade der Rückbau demokratischer Errungenschaften und Institutionen unter Janukowitsch eine (zivil-)gesellschaftliche Welle der Demokratisierung, Partizipation und des gesellschaftlichen Selbstbewusstseins angestoßen hat, die letztlich in die Euromaidan-Proteste mündete.

Der Euromaidan brachte damit politische Forderungen, Erfahrungen und Ideale aus mehreren Jahrzehnten ukrainischer Protestgeschichte zusammen. Das seit dem frühen 20. Jahrhundert in der Ukraine existierende Narrativ der nationalen Unabhängigkeit und damit einhergehend der gesellschaftlichen Selbstbestimmung war zentral – so wie dies auch in der Granitrevolution und der Orangenen Revolution der Fall war. Mit der Orangenen Revolution trat die Forderung nach demokratischen Verfahren und Institutionen stärker in den Vordergrund, was sich jedoch nur bedingt und vorrangig bezogen auf freie und faire Wahlen umsetzen ließ. Aus (zivil-)gesellschaftlicher Perspektive wurde die Kluft zwischen Forderungen und Erwartungen an den politischen Wandel und den tatsächlichen Beharrungskräften postsowjetischer Strukturen und politischer Kultur während der Regierungszeit nach der Orangenen Revolution bereits deutlich, trat aber mit dem Re-Autokratisierungskurs Janukowitschs deutlicher denn je zu Tage. Ebenfalls stieg der Anteil der Zustimmung zu einer politischen Annäherung an die Europäische Union kontinuierlich an, auch nach einem kurzen Einbruch in den Jahren 2010 und 2011, und lag kurz vor dem Beginn des Euromaidan bei knapp 60 Prozent der Gesellschaft. Europäisierung war damit das zweite große Thema und Narrativ der ukrainischen Gesellschaft und ihrer Protestgeschichte.

Der Maidan selbst basierte ähnlich wie die beiden vorangegangenen Protestwellen auf starker Selbstorganisation der Protestierenden und war – basierend auf den umfangreichen Erfahrungen im ‚Management‘ einer Protest-Zeltstadt – in verschiedene Aufgabenbereiche und Sektoren eingeteilt. Neben den bereits bekannten Aufgaben wie Unterkunfts-, Essens- und medizinische Versorgung gab es einen Sektor für Öffentlichkeitsarbeit und Pressekontakte, den sogenannten ‚zivilgesellschaftlichen‘ Sektor für das Kultur-, Bildungs- und Redeprogramm auf der Bühne, sowie die Sektoren und Aufgaben der Selbstverteidigung des Maidan, die angesichts des massiven und gewaltbereiten Polizeiaufgebots stärker ausgebaut werden mussten.

Aus dieser Selbstorganisation heraus diversifizierte sich die Zivilgesellschaft – und nahm stärker als zuvor Einfluss auf Staat und Gesellschaft. Nach der erfolgreichen, wenngleich am Ende blutigen Revolution, wurde im Februar und März schnell klar, dass sich Fehler der Orangenen Revolution – die Nicht-Reform der staatlichen Institutionen – nicht wiederholen dürften. Zugleich stellte der beginnende Krieg Russlands in der Ostukraine und der Überfall auf die Krim das Land mitsamt seiner dysfunktionalen Armee vor existenzielle Probleme, die der brach liegende Staat nicht zu bewältigen in der Lage war. Aus den verschiedenen Aufgabenbereichen und Sektoren des Maidan, zuvor langjährig existierenden NGOs und spontanen Zusammenschlüssen von Bürger:innen gingen zahlreiche Initiativen hervor, die für eine stärkere gesellschaftliche Verantwortungsübernahme stehen und in den Bereichen Flüchtlingshilfe, Verteidigung und politische Selbstorganisation aktiv wurden. So gingen einige der bisherigen Aktivist:innen, Journalist:innen und NGO-Vertreter:innen in die Parlamente oder Verwaltungen, um die Ideale des Maidan in das politische System zu transferieren. Aus den Maidan-Initiativen entwickelten sich neue Gruppen – von der lokalen oder kommunalpolitischen Zusammenarbeit bis hin zur Unterstützung jener Kampfeinheiten, die sich in der Ostukraine der beginnenden russischen Eroberung und Besatzung entgegenstellten. Einige Kampfeinheiten waren aus den Selbstverteidigungsgruppen der Maidan-Proteste entstanden und ersetzten insbesondere in den Jahren 2014 und 2015 zum Teil die vielfach überforderte, seit der Unabhängigkeit völlig abgewirtschaftete reguläre Armee, bevor sie 2016 in die neuen militärischen Strukturen der Ukraine integriert wurden. Und angesichts der knapp zwei Millionen Binnenflüchtlinge, die durch den russischen Angriff auf die Krim sowie die Oblaste Donezk und Luhansk fliehen mussten, formierten sich aus Menschenrechts-NGOs, Künstlergruppen und Nachbarschaften Organisationen zur Unterstützung der Geflüchteten. Zugleich entwickelten sich an vielen Orten der Ukraine, insbesondere in der Ostukraine, Kulturzentren und künstlerische Initiativen, die die Schrecken des 2014 begonnenen Krieges und die russische Aggression, aber auch den wiederaufgenommenen und intensivierten Prozess der Demokratisierung und Europäisierung der Ukraine kritisch begleiteten.9 Die Wege vom Maidan in die gesellschaftliche Verantwortungsübernahme und Selbstorganisation – das dritte zentrale Narrativ, das sich in der ukrainischen Protesthistorie entwickelt hat – waren damit mindestens ebenso vielfältig wie die Wege, die zum Maidan führten.

Kyjiw, 21. Dezember 2013 / Foto © Maxim Dondyuk

Der russische Angriffskrieg auf die gesamte Ukraine traf damit im Februar 2022 auf eine Gesellschaft, die in drei großen (und unzähligen kleinen) Protestwellen und -ereignissen gegen Fremdbestimmung, Autokratie, gefälschte Wahlen und De-Europäisierung und zugleich für Unabhängigkeit, Demokratie, Europäisierung und gesellschaftliche Selbstbestimmung gekämpft hat. Dieses Engagement traf auf dem Maidan dreimal zu großen Revolutionen zusammen, fand aber zwischen den Revolutionen in Think Tanks und Anwohner:innen-Initiativen, Umweltgruppen und Künstlerkollektiven, in Hochschulen und Theatern statt. Die Revolution der Würde war ein Wendepunkt, weil gesellschaftliche Akteure auch das politische System, Institutionen und Politiker:innen stärker denn je auf die Narrative der Protestgeschichte verpflichteten. Aus dieser Kontinuität der Narrative heraus ist auch die Resilienz der ukrainischen Gesellschaft gegenüber dem russischen Vernichtungskrieg zu erklären.

    Fußnoten

    Onuch, Olga; Sasse, Gwendolyn (2016): The Maidan in Movement. Diversity and the Cycles of Protest, In: Europe-Asia Studies 68 (4), S. 556–587.

    United Nations Department of Economic and Social Affairs (2022): Population Division, World Population Prospects 2022. https://population.un.org/wpp/Graphs/DemographicProfiles/Line/804

    Onuch, Olga (2014): Who Were the Protesters? In: Journal of Democracy 25 (3), S. 44–51. DOI: 10.1353/jod.2014.0045.

    ebd., S. 47.

    Palyvoda, Lyubov; Golota, Sophia (2010): Civil Society Organizations in Ukraine: The State and Dynamics 2002-2009.

    Hahn-Fuhr, Irene; Worschech, Susann (2014): External Democracy Promotion and Divided Civil Society – the Missing Link, in: Timm Beichelt, Irene Hahn-Fuhr, Frank Schimmelfennig und Susann Worschech (Hg.): Civil Society and Democracy Promotion, S. 11–41.

    Ishkanian, Armine (2007): Democracy Promotion and Civil Society, in: Anheier,Helmut; Glasius, Marlies; Kaldor, Mary (Hg.): Global civil society: communicative power and democracy, 2007/8. London: Sage Publications, S. 58–85.

    Zychowicz, Jessica (2020): Superfluous Women. Art, Feminism, and Revolution in Twenty-First-Century Ukraine. Toronto, Buffalo, London: University of Toronto Press. Worschech, Susann (2020): Deutsch-ukrainische Kulturbeziehungen. Veränderungen nach dem Euromaidan. https://publikationen.ifa.de/out/wysiwyg/uploads/70edition/deutsch-ukrainische-kulturbez_worschech.pdf

    Worschech (2020) a.a.O.