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Blutiger Januar

Diana Kudaibergenowa
Text: Diana KudaibergenowaÜbersetzung: Anselm BĂŒhlingTitelbild: Brandruine der Stadtverwaltung von Almaty / Foto © Emin Özmen / Magnum PhotosBildredaktion: Andy Heller28.02.2024

Seit den ersten Tagen des Januars 2022 ist die kasachische Geschichte in ein „Vorher“ und „Nachher“ geteilt. Die Trennlinie wurde mit Blut gezogen. Als die PlĂ€tze gereinigt, die zerstörten GebĂ€ude wiederhergestellt und die OVKS-Truppen nach Hause zurĂŒckgekehrt waren, blieb die kasachische Gesellschaft von widerstreitenden GefĂŒhlen gezeichnet: Angst und Patriotismus, Hoffnung auf VerĂ€nderung und anhaltende Traumatisierung. Die Proteste des „Blutigen Januar“ – auf Kasachisch „Qandy Qantar“, inzwischen einfach kurz „Qantar“ – haben die Geschichte, Gesellschaft und Politik des heutigen Kasachstan grundlegend verĂ€ndert. Viele Menschen wurden dabei erstmals politisiert und fassten den Entschluss, die Ungerechtigkeiten des diktatorischen Regimes zu bekĂ€mpfen. Zugleich konnte dieses Regime im Zuge der Tragödie seine Macht festigen. Was ist das politische und zivilgesellschaftliche VermĂ€chtnis des „Blutigen Januar“? Und was erzĂ€hlt die anhaltende Traumatisierung danach ĂŒber die Gesellschaft Kasachstans und ihre politischen Bewegungen? 

Die Protestwelle hat das Selbstbewusstsein der Zivilgesellschaft gestĂ€rkt und zu einem stĂ€rkeren politischen Engagement der BĂŒrger gefĂŒhrt. Die zahlreichen organisierten und spontanen Demonstrationen, auf denen Demokratisierung gefordert wurde, haben viele Kasachstanis zu der Überzeugung gebracht, dass sie sich aktiv an der Tagespolitik beteiligen und vom diktatorischen Regime Änderungen verlangen können. Das spricht dafĂŒr, dass es den oppositionellen Gruppierungen gelungen ist, die kasachische Gesellschaft „aufzuwecken“ und dazu zu bringen, mehr öffentliche Forderungen an die Regimeeliten zu stellen. Diese Forderungen wurden von Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft getragen und haben den Weg zu einer neuen zivilgesellschaftlichen Kultur des politischen Engagements von unten gebahnt.

Almaty, Januar 2022 / Foto © Emin Özmen, Magnum Photos

Die Protestbewegung begann am 2. Januar 2022 mit friedlichen Demonstrationen von Ölarbeitern in den westkasachischen StĂ€dten Schangaösen und Aqtau. Den meisten Teilnehmenden – gewöhnlichen BĂŒrgern – ging es darum, verschiedene politische und wirtschaftliche Probleme anzuprangern. Unmittelbarer Anlass war jedoch die abrupte Preiserhöhung fĂŒr Autogas.1 Obwohl die Demonstrierenden in öl- und gasreichen Regionen lebten, konnten sie sich das in Kasachstan sehr gĂ€ngige Autogas offenbar nicht leisten. Als das Energieministerium den Preis dafĂŒr Anfang 2022 drastisch erhöhte, weigerten sie sich, den Aufschlag zu zahlen. Die Kommentare von Olshas Baidildinow, dem ehemaligen Berater des entlassenen Energieministers, heizten den Konflikt nur noch weiter an. Am 3. Januar 2022 sagte er auf einer Pressekonferenz in Astana, wer mit den Preiserhöhungen unzufrieden sei, solle doch öffentliche Verkehrsmittel nutzen. FĂŒr viele auf den Straßen und öffentlichen PlĂ€tzen war das der Beweis dafĂŒr, dass die Regimeeliten völlig entkoppelt von der AlltagsrealitĂ€t der gewöhnlichen Menschen waren.  

Als sich die Massen auf den zentralen PlĂ€tzen versammelten, war klar, dass der Preis fĂŒr Autogas nur die erste von mehreren Forderungen war, die an den PrĂ€sidentenpalast Ak Orda in Astana und den PrĂ€sidenten selbst gerichtet wurden. Zwar war Westkasachstan die reichste Region des Landes, die mehr als jede andere Region zum Staatshaushalt beitrug, doch war allgemein bekannt, dass ein immer grĂ¶ĂŸerer Teil der Bevölkerung unterhalb der Armutsschwelle lebte. 

Am nĂ€chsten Tag wurden die sozialen Medien Kasachstans von UnterstĂŒtzungsbotschaften fĂŒr die westkasachischen Arbeiter ĂŒberflutet. Zahlreiche Demokratisierungsinitiativen wie Oyan, Qazaqstan (dt. Wach auf, Kasachstan) forderten ihre AnhĂ€ngerschaft in allen kasachischen StĂ€dten dazu auf, friedlich ihre UnterstĂŒtzung fĂŒr die Protestierenden in Schangaösen und Aqtau zu bekunden. Am 4. Januar begannen sich die Menschen auf den HauptplĂ€tzen ihrer StĂ€dte zu versammeln. In Almaty gruppierten sich die friedlich Demonstrierenden in verschiedenen Stadtteilen, um auf dem zentralen Platz zusammenzukommen. Laut Berichten zogen hunderte unbewaffneter Menschen durch die Stadt in Richtung des Platzes, sangen die Nationalhymne, waren fröhlich und lachten. Die Augenzeugen und Beteiligten dieser MĂ€rsche in Almaty behielten die Erinnerung an das GefĂŒhl der Einigkeit und des Zusammenfindens in diesem bis dahin unvorstellbaren Szenario – dass sich Menschen vereint gegen das unterdrĂŒckerische, autoritĂ€re Regime Nasarbajews und Toqajews stellen.

Angehörige von Verhafteten warten vor dem GefĂ€ngnis, Almaty, Januar 2022 / Foto © Emin Özmen, Magnum Photos

Als die Protestierenden den zentralen Treffpunkt auf dem Platz erreichten, wartete dort schon die Polizei auf sie, bereit, den Krieg gegen ihre eigenen Landsleute und MitbĂŒrger zu eröffnen. Die Nacht des 4. Januar markiert den Beginn nie dagewesener Gewaltexzesse und kriegsĂ€hnlicher Szenen und GerĂ€usche. Der UnterdrĂŒckungsapparat zeigte sein Gesicht: Gummigeschosse, Schwaden von TrĂ€nengas, sodass die Menschen nicht weiter sehen konnten als bis zu ihren Armen, endlose Kolonnen von MilitĂ€rausrĂŒstung und -fahrzeugen. Der Hauptplatz in Almaty hat solche Szenen nur zu oft erlebt – vor allem 1986, als die sowjetische Regierung in Moskau die friedlichen Jugendproteste, die in Kasachstan als Scheltoqsan-86 (dt. Dezember 1986) bekannt sind, gewaltsam unterdrĂŒcken ließ. In den Nebeln des 4. Januar 2022 zeigte sich, dass die sowjetischen UnterdrĂŒckungsmethoden sich vielleicht modernerer Waffen bedienten, aber die Taktik dieselbe geblieben war: die Menschen um jeden Preis aus dem öffentlichen Raum zu verdrĂ€ngen. Diesmal jedoch provozierte die Gewalt wĂ€hrend der Nacht so viel Widerstand, dass der Platz am Morgen des nĂ€chsten Tages voll von Menschen war, die gekommen waren, um sich Gehör zu verschaffen. Nun marschierten noch viel mehr Menschen durch das Stadtzentrum von Almaty.  

Am 5. Januar war die Revolution in vollem Gang, doch die Gewalt war es ebenfalls. Als die ersten SchĂŒsse ertönten, dachten viele, es seien Gummigeschosse, die vom Einsatz am Vorabend ĂŒbriggeblieben seien. Aber dann gingen Menschen zu Boden, und es wurde klar, dass dieses machthungrige Regime nicht durch Moral oder Verfassungstexte aufzuhalten sein wĂŒrde. Es hatte den eigenen BĂŒrgern den Krieg erklĂ€rt. Die Menge reagierte mit Gegengewalt – das ZentralgebĂ€ude der Stadtverwaltung (akimat) wurde unter lautem Beifall in Brand gesetzt. Bald zogen die Menschen zur PrĂ€sidentenresidenz, die Nasarbajew an dem Ort hatte errichten lassen, der vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 fĂŒr das Lenin-Museum vorgesehen war. 

Links: Dauren Dostiyarow, politischer Aktivist, wurde am Abend des 4. Januar festgenommen und von der Polizei gefoltert. Daurens Bruder zeigt Aufnahmen der Wunden. / Foto © Emin Özmen / Magnum Photos / Rechts: Der Bildungsberater Didar Mardanow wurde von der Polizei festgenommen, nachdem er sich geweigert hatte, den Inhalt seines Mobiltelefons zu zeigen. Nach zwei Stunden Festnahme wurde er freigelassen und postete auf Instagram, was er erlebt hatte. Der Beitrag erhielt ĂŒber 33.000 Reaktionen. / Foto © Emin Özmen / Magnum Photos

Die Protestierenden – hauptsĂ€chlich MĂ€nner aller Altersgruppen und desillusioniert, was das Versprechen der FĂŒhrung auf Wohlstand und Wohlergehen fĂŒr alle anging – wĂŒteten gegen jedes sichtbare Zeichen dieses Regimes und seiner Politik der UnterdrĂŒckung. Sie rissen Straßenschilder mit Nasarbajews Namen ab (die Furmanow-Straße war im FrĂŒhling 2019 in Nasarbajew-Straße umbenannt worden) und setzten die BĂŒros der herrschenden Partei Nur Otan in Brand, die damals gleichfalls nach Nasarbajew benannt war (inzwischen ist sie in Amanat umbenannt worden). In der Stadt Taldyqorgan in der Region Almaty stĂŒrzten die Demonstrierenden Nasarbajews Denkmal.2 Das Bild der am Boden liegenden hohlen Stahlfigur des Diktators wurde zum Symbol der Proteste. Die Menschen skandierten den populĂ€ren Slogan „Shal, ket!“ – „Hau ab, alter Mann!“, der sowohl auf Nasarbajew als auch auf Toqajew gemĂŒnzt war. Doch der Slogan und die Wut gegen alles, wofĂŒr das Regime stand, richteten sich nicht nur gegen die Personen des ersten PrĂ€sidenten und seines Nachfolgers, sondern gegen die korrupte, ungerechte Ordnung, die beide errichtet und ausgebaut hatten – eine Ordnung, unter der ein gewöhnlicher BĂŒrger ohne Beziehungen nach oben oder ein großes Vermögen keine Aussicht auf ein besseres Leben hatte. Die soziale MobilitĂ€t in Kasachstan wurde unter diesem autokratischen System nicht durch eine Glasdecke gehemmt, sondern durch eine Betondecke.

Viele Beobachter und Kommentatoren befassen sich in Bezug auf die Januarproteste 2022 vor allem mit den Ereignissen in Almaty und dem sĂŒdlichen Teil Kasachstans. Dort war der Schwerpunkt der Gewalt, und dort wurden die meisten der 238 Opfer getötet, obwohl ĂŒberall im Land protestiert wurde. Was dabei leicht aus dem Blick gerĂ€t, ist, dass die Stadt und die Region Almaty das Machtzentrum von Nasarbajews Familie waren, das vor allem von seinem jĂŒngeren Bruder Bolat und seinen zahlreichen Kindern und Neffen wie ein privates Großunternehmen kontrolliert wurde. Hinter der Fassade der „Wirtschaftsmetropole“ des Landes verbarg sich eine Gruppe mĂ€chtiger Leute, die die Region nach Art einer Mafia beherrschten und sich nicht an Gesetze hielten. Almaty ist eine der reichsten Regionen Kasachstans. Trotzdem war es von allgegenwĂ€rtiger Korruption und Ungleichheit geprĂ€gt, die sich oft in den Unterschieden zwischen verschiedenen Stadtteilen und Regionalbezirken widerspiegelt, etwa dem Goldenen Platz (dem historischen Stadtzentrum) und den Ă€rmeren Vierteln. Viele, die sich in den Schicksalstagen von Anfang Januar 2022 auf den PlĂ€tzen der Stadt und der Region Almaty versammelten, hofften darauf, mit dieser alten Ordnung endlich brechen zu können. Sie schrien aus voller Kehle „Hau ab, alter Mann!“, was so viel bedeutete wie „Wir haben die alten Methoden satt!“ Mehrere Aktivistengruppen stellten Forderungen auf: Sofortige Abberufung der Regierung und freie Parlaments- und PrĂ€sidentschaftswahlen, um ordnungsgemĂ€ĂŸe FĂŒhrung und Demokratisierung zu gewĂ€hrleisten.

Sairagul Attokurkyzy wartet vor dem GefĂ€ngnis. Ihr Ehemann wurde wĂ€hrend der Proteste angeschossen und anschließend verhaftet. / Foto © Emin Özmen / Magnum Photos.

Das Regime reagierte umgehend: Es sperrte das Internet und alle wichtigen KommunikationskanĂ€le, weil es fĂŒrchtete, dass sich noch mehr Menschen dem Protest anschließen wĂŒrden. Damit blieb das staatliche Fernsehen als wichtigstes Informationsmedium. Es prĂ€sentierte den Zuschauern das Narrativ, das dem Regime in die HĂ€nde spielte. Demnach seien „20.000 auslĂ€ndische Terroristen“ nach Almaty und in andere StĂ€dte im SĂŒden gekommen, um die politische Lage zu destabilisieren. Die lauten ExplosionsgerĂ€usche und Bilder niedergebrannter Autos und GebĂ€ude im Staats-TV trugen dazu bei, dass im sĂŒdlichen Teil Almatys eine AtmosphĂ€re der Angst entstand. Das Ausschalten des Internets ermöglichte es, falsche GerĂŒchte und Verschwörungsmythen zu verbreiten – alles, um Panik zu erzeugen.

Die Demonstrierenden reagierten mit einem handgemachten Transparent, auf dem stand: „Wir sind keine Terroristen, wir sind normale Menschen“ und „Nicht schießen“. Am Abend des 5. Januar wurde gegen diejenigen, die das Transparent hielten und die Demokratisierungsforderungen formuliert hatten, eine unvorstellbare Gewalt entfesselt.

Der Lokaljournalist Timur Nusimbekow beschreibt das so:

„Sie feuern mit Maschinenpistolen und MGs auf unbewaffnete Zivilpersonen. Manche schreien laut, vor Zorn, Schmerz oder Angst. Jemand brĂŒllt „Atpa!“ und versucht, die SchĂŒsse zu ĂŒbertönen, aber es wird trotzdem weiter auf Menschen geschossen. Einer dieser friedlichen Leute wird verletzt, jemand anders unmittelbar auf dem Platz getötet, und wieder ein anderer stirbt etwas weiter weg, auf dem Asphalt der Baiseitowa-Straße, an Blutverlust.“3

Auch nach dem 10. oder 12. Januar, als das Regime erklĂ€rte, die Lage sei unter Kontrolle, hörte die Gewalt nicht auf. Nach und nach drangen Berichte und GerĂŒchte aus den Folterkammern der Strafverfolgungsbehörden und den örtlichen KrankenhĂ€usern und Leichenhallen. Die Familien der Opfer protestierten und die Öffentlichkeit forderte, die tatsĂ€chlichen Zahlen der wĂ€hrend der Proteste und in den VerhörrĂ€umen der Polizei getöteten und verletzten Menschen bekanntzugeben. Das staatliche Fernsehen versuchte, sein eigenes Narrativ zu verbreiten und zeigte immer wieder Interviews mit „Terroristen“, die sichtbare Beulen und Prellungen aufwiesen. Einer davon war der kirgisische Jazzmusiker Wikram Rusachunow, der am 9. Januar im Staats-TV zu sehen war. Er hatte Spuren von SchlĂ€gen im Gesicht und erklĂ€rte, man habe ihm fĂŒr die Teilnahme an den Protesten Geld geboten. Das löste einen Empörungssturm aus. Nach seiner Freilassung berichtete Rusachunow, die Protestierenden seien in großer Zahl geschlagen und gefoltert worden. Die Verhaftungen im Stadtzentrum hĂ€tten sich auch auf gewöhnliche Menschen erstreckt, die – so wie er selbst – nicht an den Protesten teilnahmen.4 Rusachunow war nach Almaty gekommen, um dort Konzerte zu geben. Sein Interview im Staatsfernsehen brachte das an den Tag, was sich im Dunkeln abspielte: Hinter den verschlossenen TĂŒren der Polizeireviere, oft sogar in Turnhallen, wurde immer noch Gewalt gegen Menschen verĂŒbt, um sie zu falschen „GestĂ€ndnissen ihrer terroristischen Taten“ zu zwingen.
Weitere Untersuchungen ergaben, dass die Polizei vor allem junge MĂ€nner zwischen 20 und 50 misshandelt hatte, aber hĂ€ufig auch Teenager und Ă€ltere MĂ€nner. Das Gesicht der Proteste war, besonders zur Zeit der Gewaltexzesse, vor allem mĂ€nnlich geprĂ€gt gewesen. Unter den Opfern, die bei den Demonstrationen auf den Straßen und PlĂ€tzen getötet wurden, waren jedoch auch viele Frauen. Zu der Gruppe von Demonstrierenden in Almaty, die das Transparent mit der Aufschrift „Wir sind keine Terroristen“ hochhielt, gehörten zahlreiche weibliche Aktivistinnen.

Das VermĂ€chtnis des Januar 2022 wirkt bis heute fort. Es hat den BĂŒrgersinn in Kasachstan gestĂ€rkt und dazu beigetragen, dass fĂŒr die Überlebenden, ihre Familien und andere Gruppen, die auf zusĂ€tzliche soziale UnterstĂŒtzung angewiesen sind, gegenseitige Hilfe organisiert wird.

Dauren Bitkembajew steht in der NĂ€he seines Hauses in Almaty. Seine Eltern wurden am 7. Januar tot in ihrem ausgebrannten Auto mit Einschusslöchern gefunden. / Foto © Emin Özmen / Magnum Photos

Die Forderungen der Protestierenden waren laut und deutlich: Das Land braucht eine wirklich neue Regierung mit neuen Gesichtern, nicht den seit Jahren herrschenden Eliten, die alle sechs Monate die Posten wechseln. In Westkasachstan forderten Demonstrierende, das Volk mĂŒsse seine Vertreter frei wĂ€hlen können und der PrĂ€sident mĂŒsse die „wahrhaft demokratische“ Verfassung von 1993 wieder einsetzen.
Die Nation betrauert weiterhin die Opfer des Schangaösen-Massakers von 2011 und des Qandy Qantar, des Blutigen Januar. Das neue Toqajew-Regime kann diese Tragödien nicht einfach ad acta legen. Die Stimmen der Unzufriedenen finden vor allem in Telegram-Chats Gehör. Die Staatspropaganda fĂ€hrt derweil beharrlich Angriffe gegen „PlĂŒnderer“ und „Banditen“. Auch wenn die meisten Gerichtsverhandlungen nicht im Fernsehen ĂŒbertragen werden, fallen die Nachrichten ĂŒber kriminelle Subjekte wie den „Wilden Arman“ („Dikij Arman“), die derzeit wegen Anstiftung zur Gewalt vor Gericht stehen, auf fruchtbaren Boden. Das Regime versucht, das Programm „Neues Kasachstan“ als eine demokratischere Zukunft fĂŒr normale Kasachstanis zu verkaufen. Toqajew stellt sich als Vertreter eines „zuhörenden Staates“ dar, der offen fĂŒr die Besorgnisse und Beschwerden seiner BĂŒrger ist. Er hat sogar neue Parlamentswahlen organisiert, die einstige Nasarbajew-Partei von Nur-Otan in Amanat umbenannt, Nasarbajew aus all seinen Ämtern entfernt und zu politischen Reformen aufgerufen.

Mitte Dezember 2023 stellte die NGO MISK (Molodjoshnaja informazionnaja slushba Kasachstana, dt. Jugend-Informationsdienst Kasachstans) den Bericht „Zugang zu Informationen“ vor. Darin wird analysiert, welchen Zugang zu Informationen die BĂŒrgerinnen und BĂŒrger wĂ€hrend und nach den Protesten hatten und wie die Betroffenen mit den politischen Institutionen kommunizierten. Von 733 Befragten (Zeugen der Proteste, Folteropfer und Familien der getöteten Protestbeteiligten) gaben nur 100 an, dass sie versucht hĂ€tten, Anliegen bei staatlichen Institutionen zu melden. Dabei ging es in den meisten FĂ€llen um Folter. Nur 16 Personen sagten, sie hĂ€tten versucht, sich bei staatlichen Institutionen wie z. B. Strafverfolgungsbehörden ĂŒber die Proteste und GewalttĂ€tigkeit zu informieren. 16,5 Prozent der Befragten gaben an, sie hĂ€tten sich gegen die Kommunikation mit politischen Institutionen entschieden, weil sie „nicht an Fairness glaubten“. 15,2 Prozent sagten, sie hĂ€tten „Angst um sich selbst und ihre Familie“ gehabt und zusĂ€tzliche Schwierigkeiten von Seiten der Polizei gefĂŒrchtet, und 32,9 Prozent erklĂ€rten, sie hĂ€tten das nicht fĂŒr nötig befunden. Die Befragung von Journalisten ergab, dass sie bei den meisten Protesten keinen „uneingeschrĂ€nkten Zugang zu Informationen“ gehabt hatten und nur auf die Informationen zugreifen konnten, die den staatlichen Medien zur VerfĂŒgung standen. Einer der Befragten sagte, die meisten politischen Fragen seien nach wie vor unbeantwortet, da einige Ermittlungen unter Verschluss gehalten wĂŒrden – so zur Anzahl der Verletzten (unter den Protestierenden und den Unbeteiligten) und zu anderen Punkten, etwa „warum die kommunalen Behörden in Brand gesteckt wurden, warum alle [öffentlich Bediensteten] ihren Arbeitsplatz verließen, warum die Armee am 5. [Januar 2022] alle PlĂ€tze wie auf Befehl verließ und dann das Marodieren losging“ (MISK, S. 35).

Am Nachmittag des 5. Januar wurde das GebĂ€ude der Stadtverwaltung gestĂŒrmt und in Brand gesetzt. / Foto © Emin Özmen / Magnum Photos

Das kasachische Meinungsforschungs- und Diskussionszentrum PaperLab prĂ€sentierte im Dezember ebenfalls eine Studie zur Wahrnehmung der Proteste durch die BĂŒrger Kasachstans. Auch hier geht es um die Frage: Was geschah im Januar 2022? Die stichprobenbasierte, landesweit durchgefĂŒhrte Umfrage zeigte, dass die Gesellschaft weiterhin gespalten ist. Etwa 16 Prozent der Befragten sind immer noch ratlos und können die Frage, was ihrer Meinung nach geschehen ist, nicht beantworten. In der Öffentlichkeit herrschen heute drei Versionen vor. Der ersten zufolge handelte es um einen organisierten Staatsstreich, wobei die Befragten ĂŒber die möglichen Hinterleute nur Spekulationen Ă€ußern. Nach der zweiten Version war es ein friedlicher Protest, der oft in Gewalt ausartete. Die dritte Interpretation schließlich fasst die Ereignisse als terroristischen Angriff auf, der die Situation im Land destabilisieren sollte. In Bezug auf die Maßnahmen, die zur Beendigung der Gewalt ergriffen wurden, waren die Auffassungen nicht minder gespalten. So bewertete eine HĂ€lfte der Befragten die vom Regime veranlasste Komplettsperrung des Internets wĂ€hrend der Proteste als positiv, die andere HĂ€lfte hingegen als negativ. Ähnlich sah es bei der Hinzuziehung der OVKS-Truppen (darunter 3000 speziell ausgebildete russische Soldaten) aus: 37 Prozent der Befragten sahen diesen prĂ€zedenzlosen Schritt als positiv an, 44 Prozent werteten ihn negativ. Die meisten Befragten schienen in drei Punkten ĂŒbereinzustimmen: 1) dass die Gouverneure in einigen Teilen des Landes, die versuchten zu den Demonstrierenden zu sprechen, eine gute Entscheidung getroffen hatten (in Almaty, wo die Gewalt ĂŒberwog, kam es dazu nie); 2) dass der Befehl, ohne Vorwarnung zu schießen, falsch war und 3) dass auch die Folterungen von Protestteilnehmern in Polizeigewahrsam falsch waren. Zwei weitere wichtige Erkenntnisse der Umfrage waren das geringe politische Vertrauen (nur 14 Prozent der Befragten stimmten der Aussage zu, dass sie volles Vertrauen in die staatlichen Institutionen und Ermittlungen hĂ€tten) und die Polarisierung bei der Frage nach den Verantwortlichen fĂŒr den tragischen Ausgang der Proteste. Am hĂ€ufigsten wurde hier mit 28 Prozent das Regime, PrĂ€sident und die PrĂ€sidialverwaltung genannt. 23 Prozent der Befragten fanden die Frage schwer zu beantworten, 21 Prozent machten die Menschen selbst verantwortlich und 11 Prozent die Strafverfolgungsbehörden.

Bei den Parlamentswahlen Ende MĂ€rz 2023 herrschte in den Wahllokalen von Almaty kein großer Andrang. Die WĂ€hler bezweifelten, dass die Teilnahme an einer weiteren inszenierten Wahl einen Wandel des autoritĂ€ren Systems herbeifĂŒhren könnte. Die Wahlbeteiligung betrug nur 29 Prozent. Trotzdem waren viele unabhĂ€ngige Wahlbeobachter von frĂŒhmorgens bis spĂ€t in die Nacht hinein aktiv, wĂ€hrend die Wahlen unter ihrer Aufsicht einmal mehr „gestohlen“ wurden. Die Arbeiter in Schangaösen haben die dortigen Behörden bereits informiert, dass sie vorhaben, friedliche Kundgebungen gegen WahlfĂ€lschungen zu organisieren.

Die Proteste in Kasachstan haben gesellschaftliche Gruppen zusammengefĂŒhrt, von denen man das zuvor kaum erwartet hĂ€tte – von den populĂ€ren Bloggern aus Almaty und den neuen politischen Jugendbewegungen ĂŒber die Arbeiter von Schangaösen und die Bauern von Taldyqorghan bis zu den Feministinnen von Astana. „Ein neues Kasachstan aufzubauen, das ist nicht die Sache eines Onkels im PrĂ€sidentenpalast, sondern die der BĂŒrgerinnen und BĂŒrger,“ sagte ein Aktivist in Almaty, als wir in der beliebtesten Bar der Stadt saßen, vor unseren Augen das GlasgefĂ€ĂŸ, in dem Geld fĂŒr die Familien derer gesammelt wurde, die bei den Protesten vom Januar 2022 verletzt oder getötet wurden. WĂ€hrend unseres Aufenthalts dort kamen immer wieder Menschen vorbei und spendeten. Das GefĂ€ĂŸ war fast bis zum Rand mit Geldscheinen gefĂŒllt – eine Seltenheit in dieser Stadt, in der fast alles digital bezahlt wird.

    Fußnoten

    Die Preise fĂŒr das weithin genutzte Autogas stiegen von 85-90 kasachischen Tenge (ca. 0,18 Euro) auf 120 Tenge (ca. 0,24 Euro) pro Liter – eine erhebliche Belastung, wenn man lange Strecken zurĂŒcklegen muss und auf einen PKW als Transportmittel angewiesen ist.

    Das Denkmal hatten lokale AmtstrĂ€ger im FrĂŒhling 2019 dort errichten lassen. Nach dem Januar 2022 ist bis heute kein Denkmal auf dem Sockel aufgestellt worden – auch das hat Symbolbedeutung.

    respublika.kz.media: Istorija odnogo snimka