Blutiger Januar
Seit den ersten Tagen des Januars 2022 ist die kasachische Geschichte in ein „Vorher“ und „Nachher“ geteilt. Die Trennlinie wurde mit Blut gezogen. Als die Plätze gereinigt, die zerstörten Gebäude wiederhergestellt und die OVKS-Truppen nach Hause zurückgekehrt waren, blieb die kasachische Gesellschaft von widerstreitenden Gefühlen gezeichnet: Angst und Patriotismus, Hoffnung auf Veränderung und anhaltende Traumatisierung. Die Proteste des „Blutigen Januar“ – auf Kasachisch „Qandy Qantar“, inzwischen einfach kurz „Qantar“ – haben die Geschichte, Gesellschaft und Politik des heutigen Kasachstan grundlegend verändert. Viele Menschen wurden dabei erstmals politisiert und fassten den Entschluss, die Ungerechtigkeiten des diktatorischen Regimes zu bekämpfen. Zugleich konnte dieses Regime im Zuge der Tragödie seine Macht festigen. Was ist das politische und zivilgesellschaftliche Vermächtnis des „Blutigen Januar“? Und was erzählt die anhaltende Traumatisierung danach über die Gesellschaft Kasachstans und ihre politischen Bewegungen?
Die Protestwelle hat das Selbstbewusstsein der Zivilgesellschaft gestärkt und zu einem stärkeren politischen Engagement der Bürger geführt. Die zahlreichen organisierten und spontanen Demonstrationen, auf denen Demokratisierung gefordert wurde, haben viele Kasachstanis zu der Überzeugung gebracht, dass sie sich aktiv an der Tagespolitik beteiligen und vom diktatorischen Regime Änderungen verlangen können. Das spricht dafür, dass es den oppositionellen Gruppierungen gelungen ist, die kasachische Gesellschaft „aufzuwecken“ und dazu zu bringen, mehr öffentliche Forderungen an die Regimeeliten zu stellen. Diese Forderungen wurden von Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft getragen und haben den Weg zu einer neuen zivilgesellschaftlichen Kultur des politischen Engagements von unten gebahnt.
Die Protestbewegung begann am 2. Januar 2022 mit friedlichen Demonstrationen von Ölarbeitern in den westkasachischen Städten Schangaösen und Aqtau. Den meisten Teilnehmenden – gewöhnlichen Bürgern – ging es darum, verschiedene politische und wirtschaftliche Probleme anzuprangern. Unmittelbarer Anlass war jedoch die abrupte Preiserhöhung für Autogas.1 Obwohl die Demonstrierenden in öl- und gasreichen Regionen lebten, konnten sie sich das in Kasachstan sehr gängige Autogas offenbar nicht leisten. Als das Energieministerium den Preis dafür Anfang 2022 drastisch erhöhte, weigerten sie sich, den Aufschlag zu zahlen. Die Kommentare von Olshas Baidildinow, dem ehemaligen Berater des entlassenen Energieministers, heizten den Konflikt nur noch weiter an. Am 3. Januar 2022 sagte er auf einer Pressekonferenz in Astana, wer mit den Preiserhöhungen unzufrieden sei, solle doch öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Für viele auf den Straßen und öffentlichen Plätzen war das der Beweis dafür, dass die Regimeeliten völlig entkoppelt von der Alltagsrealität der gewöhnlichen Menschen waren.
Als sich die Massen auf den zentralen Plätzen versammelten, war klar, dass der Preis für Autogas nur die erste von mehreren Forderungen war, die an den Präsidentenpalast Ak Orda in Astana und den Präsidenten selbst gerichtet wurden. Zwar war Westkasachstan die reichste Region des Landes, die mehr als jede andere Region zum Staatshaushalt beitrug, doch war allgemein bekannt, dass ein immer größerer Teil der Bevölkerung unterhalb der Armutsschwelle lebte.
Am nächsten Tag wurden die sozialen Medien Kasachstans von Unterstützungsbotschaften für die westkasachischen Arbeiter überflutet. Zahlreiche Demokratisierungsinitiativen wie Oyan, Qazaqstan (dt. Wach auf, Kasachstan) forderten ihre Anhängerschaft in allen kasachischen Städten dazu auf, friedlich ihre Unterstützung für die Protestierenden in Schangaösen und Aqtau zu bekunden. Am 4. Januar begannen sich die Menschen auf den Hauptplätzen ihrer Städte zu versammeln. In Almaty gruppierten sich die friedlich Demonstrierenden in verschiedenen Stadtteilen, um auf dem zentralen Platz zusammenzukommen. Laut Berichten zogen hunderte unbewaffneter Menschen durch die Stadt in Richtung des Platzes, sangen die Nationalhymne, waren fröhlich und lachten. Die Augenzeugen und Beteiligten dieser Märsche in Almaty behielten die Erinnerung an das Gefühl der Einigkeit und des Zusammenfindens in diesem bis dahin unvorstellbaren Szenario – dass sich Menschen vereint gegen das unterdrückerische, autoritäre Regime Nasarbajews und Toqajews stellen.
Als die Protestierenden den zentralen Treffpunkt auf dem Platz erreichten, wartete dort schon die Polizei auf sie, bereit, den Krieg gegen ihre eigenen Landsleute und Mitbürger zu eröffnen. Die Nacht des 4. Januar markiert den Beginn nie dagewesener Gewaltexzesse und kriegsähnlicher Szenen und Geräusche. Der Unterdrückungsapparat zeigte sein Gesicht: Gummigeschosse, Schwaden von Tränengas, sodass die Menschen nicht weiter sehen konnten als bis zu ihren Armen, endlose Kolonnen von Militärausrüstung und -fahrzeugen. Der Hauptplatz in Almaty hat solche Szenen nur zu oft erlebt – vor allem 1986, als die sowjetische Regierung in Moskau die friedlichen Jugendproteste, die in Kasachstan als Scheltoqsan-86 (dt. Dezember 1986) bekannt sind, gewaltsam unterdrücken ließ. In den Nebeln des 4. Januar 2022 zeigte sich, dass die sowjetischen Unterdrückungsmethoden sich vielleicht modernerer Waffen bedienten, aber die Taktik dieselbe geblieben war: die Menschen um jeden Preis aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen. Diesmal jedoch provozierte die Gewalt während der Nacht so viel Widerstand, dass der Platz am Morgen des nächsten Tages voll von Menschen war, die gekommen waren, um sich Gehör zu verschaffen. Nun marschierten noch viel mehr Menschen durch das Stadtzentrum von Almaty.
Am 5. Januar war die Revolution in vollem Gang, doch die Gewalt war es ebenfalls. Als die ersten Schüsse ertönten, dachten viele, es seien Gummigeschosse, die vom Einsatz am Vorabend übriggeblieben seien. Aber dann gingen Menschen zu Boden, und es wurde klar, dass dieses machthungrige Regime nicht durch Moral oder Verfassungstexte aufzuhalten sein würde. Es hatte den eigenen Bürgern den Krieg erklärt. Die Menge reagierte mit Gegengewalt – das Zentralgebäude der Stadtverwaltung (akimat) wurde unter lautem Beifall in Brand gesetzt. Bald zogen die Menschen zur Präsidentenresidenz, die Nasarbajew an dem Ort hatte errichten lassen, der vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 für das Lenin-Museum vorgesehen war.
Die Protestierenden – hauptsächlich Männer aller Altersgruppen und desillusioniert, was das Versprechen der Führung auf Wohlstand und Wohlergehen für alle anging – wüteten gegen jedes sichtbare Zeichen dieses Regimes und seiner Politik der Unterdrückung. Sie rissen Straßenschilder mit Nasarbajews Namen ab (die Furmanow-Straße war im Frühling 2019 in Nasarbajew-Straße umbenannt worden) und setzten die Büros der herrschenden Partei Nur Otan in Brand, die damals gleichfalls nach Nasarbajew benannt war (inzwischen ist sie in Amanat umbenannt worden). In der Stadt Taldyqorgan in der Region Almaty stürzten die Demonstrierenden Nasarbajews Denkmal.2 Das Bild der am Boden liegenden hohlen Stahlfigur des Diktators wurde zum Symbol der Proteste. Die Menschen skandierten den populären Slogan „Shal, ket!“ – „Hau ab, alter Mann!“, der sowohl auf Nasarbajew als auch auf Toqajew gemünzt war. Doch der Slogan und die Wut gegen alles, wofür das Regime stand, richteten sich nicht nur gegen die Personen des ersten Präsidenten und seines Nachfolgers, sondern gegen die korrupte, ungerechte Ordnung, die beide errichtet und ausgebaut hatten – eine Ordnung, unter der ein gewöhnlicher Bürger ohne Beziehungen nach oben oder ein großes Vermögen keine Aussicht auf ein besseres Leben hatte. Die soziale Mobilität in Kasachstan wurde unter diesem autokratischen System nicht durch eine Glasdecke gehemmt, sondern durch eine Betondecke.
Viele Beobachter und Kommentatoren befassen sich in Bezug auf die Januarproteste 2022 vor allem mit den Ereignissen in Almaty und dem südlichen Teil Kasachstans. Dort war der Schwerpunkt der Gewalt, und dort wurden die meisten der 238 Opfer getötet, obwohl überall im Land protestiert wurde. Was dabei leicht aus dem Blick gerät, ist, dass die Stadt und die Region Almaty das Machtzentrum von Nasarbajews Familie waren, das vor allem von seinem jüngeren Bruder Bolat und seinen zahlreichen Kindern und Neffen wie ein privates Großunternehmen kontrolliert wurde. Hinter der Fassade der „Wirtschaftsmetropole“ des Landes verbarg sich eine Gruppe mächtiger Leute, die die Region nach Art einer Mafia beherrschten und sich nicht an Gesetze hielten. Almaty ist eine der reichsten Regionen Kasachstans. Trotzdem war es von allgegenwärtiger Korruption und Ungleichheit geprägt, die sich oft in den Unterschieden zwischen verschiedenen Stadtteilen und Regionalbezirken widerspiegelt, etwa dem Goldenen Platz (dem historischen Stadtzentrum) und den ärmeren Vierteln. Viele, die sich in den Schicksalstagen von Anfang Januar 2022 auf den Plätzen der Stadt und der Region Almaty versammelten, hofften darauf, mit dieser alten Ordnung endlich brechen zu können. Sie schrien aus voller Kehle „Hau ab, alter Mann!“, was so viel bedeutete wie „Wir haben die alten Methoden satt!“ Mehrere Aktivistengruppen stellten Forderungen auf: Sofortige Abberufung der Regierung und freie Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, um ordnungsgemäße Führung und Demokratisierung zu gewährleisten.
Das Regime reagierte umgehend: Es sperrte das Internet und alle wichtigen Kommunikationskanäle, weil es fürchtete, dass sich noch mehr Menschen dem Protest anschließen würden. Damit blieb das staatliche Fernsehen als wichtigstes Informationsmedium. Es präsentierte den Zuschauern das Narrativ, das dem Regime in die Hände spielte. Demnach seien „20.000 ausländische Terroristen“ nach Almaty und in andere Städte im Süden gekommen, um die politische Lage zu destabilisieren. Die lauten Explosionsgeräusche und Bilder niedergebrannter Autos und Gebäude im Staats-TV trugen dazu bei, dass im südlichen Teil Almatys eine Atmosphäre der Angst entstand. Das Ausschalten des Internets ermöglichte es, falsche Gerüchte und Verschwörungsmythen zu verbreiten – alles, um Panik zu erzeugen.
Die Demonstrierenden reagierten mit einem handgemachten Transparent, auf dem stand: „Wir sind keine Terroristen, wir sind normale Menschen“ und „Nicht schießen“. Am Abend des 5. Januar wurde gegen diejenigen, die das Transparent hielten und die Demokratisierungsforderungen formuliert hatten, eine unvorstellbare Gewalt entfesselt.
Der Lokaljournalist Timur Nusimbekow beschreibt das so:
„Sie feuern mit Maschinenpistolen und MGs auf unbewaffnete Zivilpersonen. Manche schreien laut, vor Zorn, Schmerz oder Angst. Jemand brüllt „Atpa!“ und versucht, die Schüsse zu übertönen, aber es wird trotzdem weiter auf Menschen geschossen. Einer dieser friedlichen Leute wird verletzt, jemand anders unmittelbar auf dem Platz getötet, und wieder ein anderer stirbt etwas weiter weg, auf dem Asphalt der Baiseitowa-Straße, an Blutverlust.“3
Auch nach dem 10. oder 12. Januar, als das Regime erklärte, die Lage sei unter Kontrolle, hörte die Gewalt nicht auf. Nach und nach drangen Berichte und Gerüchte aus den Folterkammern der Strafverfolgungsbehörden und den örtlichen Krankenhäusern und Leichenhallen. Die Familien der Opfer protestierten und die Öffentlichkeit forderte, die tatsächlichen Zahlen der während der Proteste und in den Verhörräumen der Polizei getöteten und verletzten Menschen bekanntzugeben. Das staatliche Fernsehen versuchte, sein eigenes Narrativ zu verbreiten und zeigte immer wieder Interviews mit „Terroristen“, die sichtbare Beulen und Prellungen aufwiesen. Einer davon war der kirgisische Jazzmusiker Wikram Rusachunow, der am 9. Januar im Staats-TV zu sehen war. Er hatte Spuren von Schlägen im Gesicht und erklärte, man habe ihm für die Teilnahme an den Protesten Geld geboten. Das löste einen Empörungssturm aus. Nach seiner Freilassung berichtete Rusachunow, die Protestierenden seien in großer Zahl geschlagen und gefoltert worden. Die Verhaftungen im Stadtzentrum hätten sich auch auf gewöhnliche Menschen erstreckt, die – so wie er selbst – nicht an den Protesten teilnahmen.4 Rusachunow war nach Almaty gekommen, um dort Konzerte zu geben. Sein Interview im Staatsfernsehen brachte das an den Tag, was sich im Dunkeln abspielte: Hinter den verschlossenen Türen der Polizeireviere, oft sogar in Turnhallen, wurde immer noch Gewalt gegen Menschen verübt, um sie zu falschen „Geständnissen ihrer terroristischen Taten“ zu zwingen.
Weitere Untersuchungen ergaben, dass die Polizei vor allem junge Männer zwischen 20 und 50 misshandelt hatte, aber häufig auch Teenager und ältere Männer. Das Gesicht der Proteste war, besonders zur Zeit der Gewaltexzesse, vor allem männlich geprägt gewesen. Unter den Opfern, die bei den Demonstrationen auf den Straßen und Plätzen getötet wurden, waren jedoch auch viele Frauen. Zu der Gruppe von Demonstrierenden in Almaty, die das Transparent mit der Aufschrift „Wir sind keine Terroristen“ hochhielt, gehörten zahlreiche weibliche Aktivistinnen.
Das Vermächtnis des Januar 2022 wirkt bis heute fort. Es hat den Bürgersinn in Kasachstan gestärkt und dazu beigetragen, dass für die Überlebenden, ihre Familien und andere Gruppen, die auf zusätzliche soziale Unterstützung angewiesen sind, gegenseitige Hilfe organisiert wird.
Die Forderungen der Protestierenden waren laut und deutlich: Das Land braucht eine wirklich neue Regierung mit neuen Gesichtern, nicht den seit Jahren herrschenden Eliten, die alle sechs Monate die Posten wechseln. In Westkasachstan forderten Demonstrierende, das Volk müsse seine Vertreter frei wählen können und der Präsident müsse die „wahrhaft demokratische“ Verfassung von 1993 wieder einsetzen.
Die Nation betrauert weiterhin die Opfer des Schangaösen-Massakers von 2011 und des Qandy Qantar, des Blutigen Januar. Das neue Toqajew-Regime kann diese Tragödien nicht einfach ad acta legen. Die Stimmen der Unzufriedenen finden vor allem in Telegram-Chats Gehör. Die Staatspropaganda fährt derweil beharrlich Angriffe gegen „Plünderer“ und „Banditen“. Auch wenn die meisten Gerichtsverhandlungen nicht im Fernsehen übertragen werden, fallen die Nachrichten über kriminelle Subjekte wie den „Wilden Arman“ („Dikij Arman“), die derzeit wegen Anstiftung zur Gewalt vor Gericht stehen, auf fruchtbaren Boden. Das Regime versucht, das Programm „Neues Kasachstan“ als eine demokratischere Zukunft für normale Kasachstanis zu verkaufen. Toqajew stellt sich als Vertreter eines „zuhörenden Staates“ dar, der offen für die Besorgnisse und Beschwerden seiner Bürger ist. Er hat sogar neue Parlamentswahlen organisiert, die einstige Nasarbajew-Partei von Nur-Otan in Amanat umbenannt, Nasarbajew aus all seinen Ämtern entfernt und zu politischen Reformen aufgerufen.
Mitte Dezember 2023 stellte die NGO MISK (Molodjoshnaja informazionnaja slushba Kasachstana, dt. Jugend-Informationsdienst Kasachstans) den Bericht „Zugang zu Informationen“ vor. Darin wird analysiert, welchen Zugang zu Informationen die Bürgerinnen und Bürger während und nach den Protesten hatten und wie die Betroffenen mit den politischen Institutionen kommunizierten. Von 733 Befragten (Zeugen der Proteste, Folteropfer und Familien der getöteten Protestbeteiligten) gaben nur 100 an, dass sie versucht hätten, Anliegen bei staatlichen Institutionen zu melden. Dabei ging es in den meisten Fällen um Folter. Nur 16 Personen sagten, sie hätten versucht, sich bei staatlichen Institutionen wie z. B. Strafverfolgungsbehörden über die Proteste und Gewalttätigkeit zu informieren. 16,5 Prozent der Befragten gaben an, sie hätten sich gegen die Kommunikation mit politischen Institutionen entschieden, weil sie „nicht an Fairness glaubten“. 15,2 Prozent sagten, sie hätten „Angst um sich selbst und ihre Familie“ gehabt und zusätzliche Schwierigkeiten von Seiten der Polizei gefürchtet, und 32,9 Prozent erklärten, sie hätten das nicht für nötig befunden. Die Befragung von Journalisten ergab, dass sie bei den meisten Protesten keinen „uneingeschränkten Zugang zu Informationen“ gehabt hatten und nur auf die Informationen zugreifen konnten, die den staatlichen Medien zur Verfügung standen. Einer der Befragten sagte, die meisten politischen Fragen seien nach wie vor unbeantwortet, da einige Ermittlungen unter Verschluss gehalten würden – so zur Anzahl der Verletzten (unter den Protestierenden und den Unbeteiligten) und zu anderen Punkten, etwa „warum die kommunalen Behörden in Brand gesteckt wurden, warum alle [öffentlich Bediensteten] ihren Arbeitsplatz verließen, warum die Armee am 5. [Januar 2022] alle Plätze wie auf Befehl verließ und dann das Marodieren losging“ (MISK, S. 35).
Das kasachische Meinungsforschungs- und Diskussionszentrum PaperLab präsentierte im Dezember ebenfalls eine Studie zur Wahrnehmung der Proteste durch die Bürger Kasachstans. Auch hier geht es um die Frage: Was geschah im Januar 2022? Die stichprobenbasierte, landesweit durchgeführte Umfrage zeigte, dass die Gesellschaft weiterhin gespalten ist. Etwa 16 Prozent der Befragten sind immer noch ratlos und können die Frage, was ihrer Meinung nach geschehen ist, nicht beantworten. In der Öffentlichkeit herrschen heute drei Versionen vor. Der ersten zufolge handelte es um einen organisierten Staatsstreich, wobei die Befragten über die möglichen Hinterleute nur Spekulationen äußern. Nach der zweiten Version war es ein friedlicher Protest, der oft in Gewalt ausartete. Die dritte Interpretation schließlich fasst die Ereignisse als terroristischen Angriff auf, der die Situation im Land destabilisieren sollte. In Bezug auf die Maßnahmen, die zur Beendigung der Gewalt ergriffen wurden, waren die Auffassungen nicht minder gespalten. So bewertete eine Hälfte der Befragten die vom Regime veranlasste Komplettsperrung des Internets während der Proteste als positiv, die andere Hälfte hingegen als negativ. Ähnlich sah es bei der Hinzuziehung der OVKS-Truppen (darunter 3000 speziell ausgebildete russische Soldaten) aus: 37 Prozent der Befragten sahen diesen präzedenzlosen Schritt als positiv an, 44 Prozent werteten ihn negativ. Die meisten Befragten schienen in drei Punkten übereinzustimmen: 1) dass die Gouverneure in einigen Teilen des Landes, die versuchten zu den Demonstrierenden zu sprechen, eine gute Entscheidung getroffen hatten (in Almaty, wo die Gewalt überwog, kam es dazu nie); 2) dass der Befehl, ohne Vorwarnung zu schießen, falsch war und 3) dass auch die Folterungen von Protestteilnehmern in Polizeigewahrsam falsch waren. Zwei weitere wichtige Erkenntnisse der Umfrage waren das geringe politische Vertrauen (nur 14 Prozent der Befragten stimmten der Aussage zu, dass sie volles Vertrauen in die staatlichen Institutionen und Ermittlungen hätten) und die Polarisierung bei der Frage nach den Verantwortlichen für den tragischen Ausgang der Proteste. Am häufigsten wurde hier mit 28 Prozent das Regime, Präsident und die Präsidialverwaltung genannt. 23 Prozent der Befragten fanden die Frage schwer zu beantworten, 21 Prozent machten die Menschen selbst verantwortlich und 11 Prozent die Strafverfolgungsbehörden.
Bei den Parlamentswahlen Ende März 2023 herrschte in den Wahllokalen von Almaty kein großer Andrang. Die Wähler bezweifelten, dass die Teilnahme an einer weiteren inszenierten Wahl einen Wandel des autoritären Systems herbeiführen könnte. Die Wahlbeteiligung betrug nur 29 Prozent. Trotzdem waren viele unabhängige Wahlbeobachter von frühmorgens bis spät in die Nacht hinein aktiv, während die Wahlen unter ihrer Aufsicht einmal mehr „gestohlen“ wurden. Die Arbeiter in Schangaösen haben die dortigen Behörden bereits informiert, dass sie vorhaben, friedliche Kundgebungen gegen Wahlfälschungen zu organisieren.
Die Proteste in Kasachstan haben gesellschaftliche Gruppen zusammengeführt, von denen man das zuvor kaum erwartet hätte – von den populären Bloggern aus Almaty und den neuen politischen Jugendbewegungen über die Arbeiter von Schangaösen und die Bauern von Taldyqorghan bis zu den Feministinnen von Astana. „Ein neues Kasachstan aufzubauen, das ist nicht die Sache eines Onkels im Präsidentenpalast, sondern die der Bürgerinnen und Bürger,“ sagte ein Aktivist in Almaty, als wir in der beliebtesten Bar der Stadt saßen, vor unseren Augen das Glasgefäß, in dem Geld für die Familien derer gesammelt wurde, die bei den Protesten vom Januar 2022 verletzt oder getötet wurden. Während unseres Aufenthalts dort kamen immer wieder Menschen vorbei und spendeten. Das Gefäß war fast bis zum Rand mit Geldscheinen gefüllt – eine Seltenheit in dieser Stadt, in der fast alles digital bezahlt wird.
Die Preise für das weithin genutzte Autogas stiegen von 85-90 kasachischen Tenge (ca. 0,18 Euro) auf 120 Tenge (ca. 0,24 Euro) pro Liter – eine erhebliche Belastung, wenn man lange Strecken zurücklegen muss und auf einen PKW als Transportmittel angewiesen ist.
Das Denkmal hatten lokale Amtsträger im Frühling 2019 dort errichten lassen. Nach dem Januar 2022 ist bis heute kein Denkmal auf dem Sockel aufgestellt worden – auch das hat Symbolbedeutung.
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