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Kastus Kalinouski

Viktor Schadurski
Text: Viktor SchadurskiÜbersetzung: Tina Wünschmann03.09.2024

Dichter, Publizist, Revolutionär: Kastus Kalinouski ist einer der Nationalhelden im belarussischen Pantheon. Öffentlich erhängt im März 1864, wurde er zum Symbol des Freiheitskampfes gegen das Russische Imperium. Kalinouskis Verehrung als Schutzpatron der unterdrückten Massen begann bereits in der frühen Sowjetzeit. Die Kommunisten sahen im Aufstand unter seiner Führung vor allem den internationalistischen, bäuerlichen und antiaristokratischen Charakter. Das geistige Erbe der Sowjetunion hindert das Lukaschenko-Regime allerdings nicht an einer Diskreditierung der Person Kastus Kalinouski – immer unverhohlener bewegt sich das Regime auf den Kreml mit seiner aggressiven Außenpolitik zu. Je mehr Kalinouski von den Regimetreuen gehasst wird, desto mehr wird er von jenen geschätzt, die gegen das autoritäre Regime in Minsk opponieren. Zehntausende von ihnen waren und sind in Gefängnissen, Hunderttausende sahen sich zur Emigration gezwungen.

Die vom Minsker Machthaber unterstützte Invasion Russlands in der Ukraine verstärkte unter den Regime-Unterstützern die Ablehnung Kalinouskis. Ursache dafür ist der Name einer militärischen Einheit aus Belarussen, die freiwillig auf Seiten der Ukraine gegen Russland kämpft: das Kastus Kalinouski-Regiment. Wer also war Kastus Kalinouski? Und warum ist das Gedenken an ihn zu einer so heiklen politischen Frage geworden?

    Der Aufstand von 1863-1864, der in Polen Januaraufstand genannt wird, in Belarus hingegen Nationaler Befreiungsaufstand 1863-64 unter der Führung von Kastus Kalinouski, war über viele Jahrzehnte herangereift und wurde zu einem der größten bewaffneten Volksaufstände in Litauen, Polen und Belarus gegen das Russische Kaiserreich. Zentrales Ziel der Aufständischen war die Wiederherstellung des polnisch-litauischen Staates Rzeczpospolita in den Grenzen von 1772.  

    Während des Aufstandes kam es allein auf dem Territorium des heutigen Belarus und Litauens zu 273 bewaffneten Zusammenstößen unter Beteiligung von etwa 220 aufständischen Einheiten. Eines der ersten Regimente auf belarussischem Gebiet war eines um Roman Roginski, das bereits von Februar bis Anfang März 1863 auf einem 750 Kilometer langen Feldzug durch Polesien fegte. Im April 1863 konnten gelang es ihm sogar, mit Unterstützung von Studenten des Landwirtschaftlichen Instituts Horki vorübergehend die Kleinstadt Horki einzunehmen. Russischen Daten zufolge waren auf dem Territorium des Nordwestlichen Gebiets (im heutigen Belarus und Litauen) zwischen 68.000 und 77.000 Menschen an dem Aufstand beteiligt, von denen 5.934 Menschen starben. Auf russischer Seite gab es 403 Todesopfer.1  

    Ein Grund für das Scheitern der Rebellion war die fehlende Einigkeit auf der Führungsebene

    Ein Meilenstein auf dem Weg zum Aufstand war die Publikation der Mushyzkaja prauda (dt. Bauernwahrheit), der ersten Zeitung in modernem Belarussisch, die Kalinouski mithilfe seiner Mitstreiter 1862-63 im Untergrund in lateinischer Schrift drucken ließ. Es erschienen sieben Nummern, die Kalinouski mit einem seiner Pseudonyme Jaska – Herr aus Wilna signierte. Mit der Zeitung wollte er breite Massen der belarussischen Bauernschaft zum Aufstand bewegen. Obwohl dies aus verschiedenen Gründen nicht in diesem Maße gelang, kann man Kalinouskis Mushyzkaja prauda dennoch als erstes belarussisches politisches Manifest bezeichnen.  

    Trotz des großen Enthusiasmus und Mutes der vielen Teilnehmer des Aufstandes waren die Kräfte ungleich verteilt. Bereits 1863 erlitten die Aufständischen im offenen Kampf eine Niederlage und mussten zu Partisanenmethoden übergehen. Danach verlagerte sich der Widerstand hauptsächlich in den Bereich des zivilen Ungehorsams und auf Angriffe auf einzelne Vertreter der russischen Staatsmacht. 

    Ein Grund für das Scheitern der Rebellion war die fehlende Einigkeit auf der Führungsebene. Die Ursache dafür lag in den divergierenden Vorstellungen über die Ausrichtung des Aufstandes. In der Frage, auf welche Weise das gesetzte Ziel erreicht werden sollte, spalteten sich die Aufständischen in zwei große Lager: in „Rote“ und „Weiße“. Erstere vertraten die demokratischen Schichten der Bevölkerung – die zahlreichen landlosen Adeligen, Handwerker, Bauern; die zweite Gruppe vertrat die mittleren und großen Grundbesitzer, ebenso das Großbürgertum. Auch innerhalb der „Roten“, zu denen Kastus Kalinouski zählte, herrschte keine Einigkeit. Vielen missfielen die Ideen des jungen Revolutionärs, der nicht nur für eine Autonomie der Gebiete des ehemaligen Großfürstentums Litauen im Bestand der Rzeczpospolita eintrat, sondern auch für die Verteilung von Grundbesitz an die Bauernschaft.

    Kollage © dekoder.org

    Aufgrund der Meinungsverschiedenheiten entzog das Warschauer Zentrum des Aufstands im März 1863 der sogenannten „Übergangsregierung Litauen und Belarus” mit Kalinouski an der Spitze die Befugnisse und übertrug die Führung des Aufstandes dem „ Litauischen Komitee” (den „Weißen“). Im Juni 1863 gelang es Kastus Kalinouski angesichts der zunehmenden Repressionen durch die zaristischen Behörden, die Kontrolle über das Litauische Komitee wiederzuerlangen, dem etwa 3.000 Kämpfer unterstellt waren. Doch er hatte Zeit verloren, viele Aufständische waren in Haft, und über 120.000 Soldaten des Zaren stellten in den belarussischen und litauischen Gebieten die herrschaftliche Ordnung wieder her. Aus dem tiefsten Untergrund heraus begann Kalinouski mit großem Einsatz, für Frühling 1864 einen neuen Aufstand vorzubereiten.  

    Im Verlauf des Jahres 1864 wurde die Rebellion endgültig niedergeschlagen. Nach der Niederlage der Aufständischen, die Unabhängigkeit, Recht auf politische Teilhabe und eine Agrarreform zugunsten der Bauernschaft gefordert hatten, verstärkten die russischen Machthaber ihre repressive Politik. Die Folgen des Aufstandes und die daraus resultierende Politik des Zarismus werden unter Historikern bis heute diskutiert. So meint Oleg Łatyszonek, ein aus Belarus stammender Historiker an der Universität Białystok, dass der Aufstand zu einer Katastrophe für die belarussische Nationalbewegung geführt habe. Praktisch alle belarussischen Dichter und Schriftsteller seien infolge des Aufstandes ums Leben gekommen oder verbannt worden, und zwischen Katholiken und Orthodoxen sei eine tiefe Kluft entstanden.2 Andere heben jedoch hervor, dass der Aufstand trotz der Niederschlagung zukünftige Generationen von Polen, Litauern und Belarussen zum Freiheitskampf und zur Gründung ihrer Nationalstaaten inspirierte. Auch heute klingt Kalinouskis Aufruf, der seinerzeit in der Mushyzkaja prauda veröffentlicht wurde, tatsächlich aktuell: „Nicht das Volk für die Regierung, sondern die Regierung für das Volk“.

    Kalinouski war kein Belarusse im heutigen Sinn. Im 19. Jahrhundert befand sich die belarussische Nation erst im Prozess ihrer Entstehung, und auf dem Territorium des heutigen Belarus gab es vielfältige Identitäten. Kalinouski kann man wie viele seiner Zeitgenossen gleichzeitig als ethnischen Belarussen, historischen Litauer und politischen Polen bezeichnen. Nach dem Abschluss des Jurastudiums in Sankt Petersburg und der Promotion zum Doktor der Jurisprudenz hätte Kastus Kalinouski gut Karriere im Staatsdienst oder in der Wirtschaft machen, mit seiner Verlobten eine Familie gründen können – „Maryśka mit den schwarzen Augenbrauen“ (Maria Jamont), die er liebte und an die er bis zur Vollstreckung des Todesurteils Liebesbriefe schrieb. Kalinouski wählte aber den Kampf für seine Ideale und blieb ihnen bis zum letzten Atemzug treu. Selbst angesichts des Todes konnten ihn Freunde und seine Verlobte nicht überreden, mit dem aus Petersburg zugesandten falschen Reisepass ins Ausland zu fliehen.   

    Kalinouski gilt nicht nur in Belarus als Nationalheld, sondern auch in Litauen und Polen, da er nicht nur für die Autonomie eines wiedererrichteten Großfürstentums Litauen (Belarus und Litauen) in der Rzeczpospolita kämpfte, sondern auch für die Durchsetzung von sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit in diesem neuen Staat. Sein Verdienst liegt darin, dass er auf der politischen Autonomie Litwas (so nannte man damals die Gebiete, die einst zum Großfürstentum Litauen gehörten) innerhalb der föderativen Rzeczpospolita bestand. Für diesen „Separatismus“ wurde er jedoch auch von vielen seiner Weggefährten kritisiert. Seine Ideen fanden sich in der Mushyzkaja prauda und in den Briefen aus der Gefangenschaft wieder. Seine Gedanken, die im Kern demokratisch und europäisch waren, formulierte er in eben jenen berühmten Publikationen.3 

    Spirituelles Geleitwort für die Belarussen wurde ein Motto der Aufständischen um Kalinouski, das durch einen Verräter bekannt wurde: 

    – Wen liebst du? 

    – Ich liebe Belarus! 

    – Ebenso! 

    Nach dem Verrat wurde Kalinouski Anfang in einer konspirativen Wohnung in Vilnius 1864 festgenommen und am 22. März nach Verurteilung durch die zaristische Staatsmacht erhängt.4  Offiziellen Angaben zufolge bestraften die zaristischen Behörden in diesen Gebieten mehr als 15.000 Menschen. Davon 123 (einigen Quellen zufolge 128) zum Tod durch Strang oder Erschießen, 12.355 wurden am Wohnort unter polizeiliche Aufsicht gestellt und 3.776 Menschen ohne Prozess und Urteil verbannt. Viele wurden in Straflager und Arrestkompanien geschickt. Insgesamt stammten nach Zahlen russischer Historiker von den 38.000 Teilnehmern der Aufständischen, die in die russische Einöde verbannt wurden, 57 Prozent aus Litauen und Belarus.5 

    Als im Januar 2017 am Gediminas-Hügel im Zentrum von Vilnius nach einem Erdrutsch menschliche Überreste an die Oberfläche gelangten, war das eine Sensation. Fachleute fanden heraus, dass die Überreste von 20 verurteilten Anführern und Teilnehmern des Aufstandes von 1863-64 stammten, darunter die von auch Kastus Kalinouski. Die feierliche Beisetzung mit allen militärischen Ehren und unter Teilnahme der Staatschefs von Litauen und Polen fand im November 2019 auf dem Rasos-Friedhof in Vilnius statt. Sogar die belarussische Führung entsandte einen hochrangigen Vertreter, den Vizepremier Ihar Petryschenka, der beim Gedenkgottesdienst in der Kathedrale eine Rede auf Belarussisch hielt.  

    Tausende Menschen aus verschiedenen Ländern folgten an diesem Tag den Särgen. Berichten zufolge konnte man an der großen Zahl der weiß-rot-weißen Flaggen (der historischen belarussischen Nationalflagge) sehen, dass die meisten Gäste wohl aus Belarus angereist waren.6 Offenbar gab es viele Belarussen, denen diese Ehrerbietung für ihren Nationalhelden wichtig war. Die Prozession in Vilnius war eine der größten Demonstrationen der belarussischen national-demokratischen Kräfte der letzten Dekade und erinnerte an die Beisetzung Wassil Bykaus 2003 in Minsk, wenngleich sie im Nachbarland stattfand. Der Zusammenhalt der Belarussen und ihr Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit, die sie bei der Trauerzeremonie demonstrierten, trat schließlich in noch viel größerem Maße bei den friedlichen Protestaktionen im Jahr 2020 zutage. Metaphorisch gesprochen: Kalinouskis Geist war aus der fernen Vergangenheit in seine historische Heimat zurückgekehrt.

    Wissenschaftlern zufolge war die erste Quelle, die Kalinouski als belarussischen Revolutionär und Anführer des Bauernaufstandes gegen die Gutsbesitzer präsentierte, ein Zeitungsartikel von Wazlau Lastouski mit dem Titel „Zum Andenken an einen Gerechten“, der im Februar 1916 erschien. Allerdings erlaubte sich der berühmte belarussische Aufklärer nicht selten einen recht freien Umgang mit der Vergangenheit, idealisierte und romantisierte sie. Lastouski vereinfachte Kalinouskis Namen und nannte ihn kurz Kaszjuk – eine Ableitung von Kalinouskis zweitem Vornamen Kanstanzin. Infolge erlangte eine zweite belarussische Abkürzung dieses Vornamens breite Verwendung: Kastus.7  

    Die romantisierte Persönlichkeit Kalinouskis passte auch in das historische Konzept des Klassenkampfes, das die Bolschewiken ausarbeiteten. Sie förderten die Heroisierung jener Persönlichkeiten, die an den Rändern des Russischen Imperiums gegen den Zarismus kämpften, und versuchten so, die Entwicklung der nationalen Identitäten in eine kommunistische Richtung zu lenken. Die noch junge belarussische Identität erlebte in der UdSSR nämlich eine bedeutend stärkere Entwicklungsdynamik als im Russischen Kaiserreich. Die Historiker der ersten Welle der Belarussifizierung in den 1920er Jahre verankerten Kalinouskis Namen fest im Pantheon der belarussischen Nationalhelden, die „gegen die russische Selbstherrschaft und die polnischen Gutsherren“ kämpften. Über Kalinouski wurden wissenschaftliche Artikel und Bücher geschrieben, man widmete ihm Gedichte und Poeme. 1923 inszenierte das Belarussische Staatstheater in Minsk das Stück Kastus Kalinouski (Autor und Regie Je. Mirowitsch). Im Jahr 1928 kam der Spielfilm Kastus Kalinowski (Regie: Wladimir Gardin) auf die Leinwand. Im Film kämpft Kalinouski mit dem Säbel in der Hand sowohl gegen polnische Gutsherren als auch gegen Vertreter des russischen Imperiums, die die belarussischen Bauern schinden.  

    1943 wurde eine sowjetische Partisaneneinheit nach Kastus Kalinouski benannt, die in der Umgebung von Hrodna und Białystok aktiv war. Unter Feinden der Sowjetmacht wurde Kalinouski ebenfalls verehrt.8 Auch in der Nachkriegszeit galt er als Held. 1963 wurde eine Straße in Minsk nach Kalinouski benannt, in Hrodna, Mahiljou, Lida und anderen belarussischen Städten fand sich der Name ebenfalls auf Straßenschildern wieder. Das Dorf Lichaselzy im Rajon Swislatsch, wo Kalinouski seine Kindheit verbrachte, wurde in Kalinouskaja umbenannt.

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    Nachdem Belarus im Dezember 1991 seine Unabhängigkeit erlangt hatte, behielten die neuen Machthaber in Minsk den gewohnten Zugang zu Kalinouski bei: als Führer des Klassenkampfes für soziale Gleichheit. Die national-demokratischen Kräfte, vertreten durch die Belarussische Volksfront mit Sjanon Pasnjak an der Spitze, einem charismatischen Oppositionsführer und Präsidentschaftskandidaten 1994, wollten ihn ihrerseits zu einem der wichtigsten, wenn nicht dem zentralen Nationalhelden machen, der gegen die russische Einflussnahme in Belarus gekämpft hatte.

    Nach der Wahl Lukaschenkos zum belarussischen Präsidenten wurden die Propagandisten des sogenannten Westrussentums aktiv – eines russländischen imperialistischen Konzepts, das die Eigenständigkeit der belarussischen Nation negierte. Das autoritäre Regime setzte Kurs auf eine enge Integration mit Russland und die Beschränkung politischer Kontakte zu demokratischen Staaten des Westens. Unter diesen Bedingungen erlangten russische koloniale Narrative in dem noch jungen Staat eine weite Verbreitung. Wortführer waren die Historiker Alexander Gronski und Wadim Gigin, die in den 2000er Jahren begannen, Texte zu veröffentlichen, die die Person Kalinouskis verleumdeten und seinen Schlächter priesen – den Generalgouverneur des Nordwestlichen Gebiets, Michail Murawjow (1796-1866). Für die Niederschlagung des Aufstandes 1863-64 auf den Gebieten Litauens und Belarus hatte er den Beinamen „der Henker“ bekommen. Die genannten Autoren und ihre Gleichgesinnten waren bemüht, Kalinouski als Antihelden darzustellen, als „Schlächter der belarussischen Bauernschaft“, „Katholik und Feind der Orthodoxen“, als „Polen“ und „Kämpfer für polnische Interessen“.9

    Bis zu den Ereignissen von 2020 sahen die belarussischen Machthaber ungeachtet der aktiven Rhetorik der Propagandisten davon ab, negativ über Kalinouski zu sprechen oder Veranstaltungen zu seinen Ehren einzuschränken. Als 2013 das 150. Jubiläum des Aufstandes von 1863-64 und Kalinouskis 175. Geburtstag begangen wurden, gab die Belarussische Post zu seinen Ehren sogar eine Karte mit Briefmarke heraus, und in der Nationalbibliothek fand eine Sonderausstellung statt. Darüber hinaus wurde auf der Kalinouski-Straße in Minsk eine entsprechende Gedenktafel eingeweiht. 

    Zur sukzessiven Auslöschung des Namens Kalinouski aus der belarussischen Geschichte gehört auch die Umbenennung von Straßen und das Entfernen von Denkmälern 

    Als die Diktatur nach der Niederschlagung der Massenaufstände im Sommer und Herbst 2020 zunehmend abhängig von der Politik des Kremls wurde, zwang sie das zur Übernahme imperialistischer historischer Narrative und der Doktrin des sogenannten Russki mir, die viele sowjetische Ansätze ablehnte, darunter auch die Anerkennung des Kampfes der Peripherien gegen die zaristische Autokratie. Die Gegner einer proeuropäischen Entwicklung in Belarus erhielten von nun an eine Tribüne für ihre prorussischen Ansichten und sogar eine Anstellung in Moskau. 

    Den neoimperialistischen Konzepten zufolge war Kalinouski kein Revolutionär, sondern ein Feind Russlands, der polnische Interessen vertrat, nämlich die Wiedererrichtung eines polnischen Staates. Im Mai 2023 veröffentlichte die größte staatliche Zeitung SB. Belarus segodnja ein Interview mit dem damaligen Chef der Lukaschenko-Administration, Igor Sergejenko, der als Stellvertreter auch dem Republikanischen Rat für Geschichtspolitik vorstand. Er nahm darin eine offizielle Bewertung bedeutender Persönlichkeiten aus der belarussischen Geschichte vor. Besonders betonte er, dass Einzelheiten über die bestialischen Massaker von Kalinouskis Mitstreitern an der orthodoxen Bevölkerung, die den polnischen Aufstand nicht unterstützen wollte, „vielen Belarussen die Augen geöffnet“ hätten.10

    So begannen die Minsker Machthaber, Kalinouski aus den Reihen der Nationalhelden zu verdrängen. Weitere Ereignisse ließen nicht lange auf sich warten. Als Wadim Gigin im November 2023 zum Leiter der Belarussischen Nationalbibliothek ernannt wurde, wurde auf seine Initiative hin der populäre historische Roman Kalassy pad sjarpom twaim (dt. Die Ähren unter deiner Sichel) von Uladsimir Karatkewitsch, der vom Aufstand 1863-64 handelt, aus dem Lehrplan für belarussische Literatur gestrichen. Anfang Dezember 2023 berichteten Medien, dass das Gymnasium in Swislatsch, das bis dahin den Namen Kalinouskis getragen hatte, umbenannt wurde. Die lokale Verwaltung begründete die Umbenennung damit, dass „die Person Kalinouskis heute nicht mehr allzu populär“ sei.11

    In ihrem Bestreben, Kalinouskis Namen in Verruf zu bringen, agierten die belarussischen Propagandisten Hand in Hand mit ihren russischen Kollegen. Größte Aktivität zeigte der Leiter der Moskauer Stiftung Historisches Gedächtnis, Alexander Djukow. Im Jahr 2023 veröffentlichte er „sensationelles“ Material, darin im Archiv entdeckte persönliche Briefe Kalinouskis an seine Verlobte Maria Jamont, der letzte drei Tage vor der Hinrichtung (19.03.1864) verfasst. Diese Briefe in polnischer Sprache waren belarussischen Historikern vorher nicht bekannt gewesen, weshalb man der Publikation sogar etwas Positives abgewinnen konnte. Die polnische Sprache in den Briefen bewies für Djukow, dass Kastus Kalinouski Pole war, ein polnischer Chauvinist. Auch wenn dies in keinem der fünf veröffentlichten Briefe aus inhaltlicher Sicht Bestätigung fand. Im Gegenteil, Djukow lässt außer Acht, dass in der Mitte des 19. Jahrhunderts die gebildete Schicht in Belarus Polnisch sprach und weitgehend polonisiert war. Belarussisch war damals keine Standardsprache, sondern eher ein Dialekt der Landbevölkerung sowie Bauern, die in die Stadt gezogen waren. 

    Zur sukzessiven Auslöschung des Namens Kalinouski aus der belarussischen Geschichte gehört auch die Umbenennung von Straßen und das Entfernen von Denkmälern: Im Juli 2024 wurde die Kalinouski-Straße in Kobryn umbenannt. Mit solchen Nachrichten will Lukaschenko, der zweifellos hinter diesem Prozess steht, den Eindruck erwecken, dass „der Kampf um die historische Wahrheit“ eine Initiative von unten ist. Er befürchtet wohl, dass plötzliche und einschneidende Maßnahmen gegen das Gedenken an Kalinouski Widerstand in der Bevölkerung hervorrufen könnten.  

    Denn mit seinem wütenden Widerstand gegen die imperialistische Politik des Zarenreiches wurde Kastus Kalonouski noch stärker zum Symbol des unabhängigen Belarus. Die russische Aggression gegen die Ukraine hat diese Entwicklung deutlich verstärkt. Aber bis heute erinnern sich viele Minsker auch noch daran, wie junge Leute den Namen Kalinouskis bei ihrem Protest 2006 gegen das Lukaschenko-Regime auf dem Oktoberplatz verwendeten, der Platz wurde damals umgangssprachlich Kalinouski-Platz genannt. Sie forderten sogar eine Umbenennung des Oktoberplatzes – vergeblich. Das Zeltlager der Protestierenden wurde in der Nacht des 24. März gewaltsam aufgelöst, der inoffizielle Name – Kalinouski-Platz – blieb jedoch vielen im Gedächtnis. 

    Viele, unter anderem polnische Autoren beschrieben Kalinouski dagegen vor allem als katholischen Fanatiker. Er hätte keinen Hehl aus seinem Hass auf die Orthodoxie gemacht, habe beispielsweise geschrieben, Orthodoxe seien „Hunden gleich“, und gedroht, was sie nach dem Tod erwarten würde, wenn sie nicht zum unierten Katholizismus überträten.12 Wie jeder Mensch war auch Kalinouski nicht unfehlbar, aber er gilt vielen als dermaßen heiliges Symbol der nationalen Wiedergeburt, dass sie Kritik an seiner Person als Sakrileg empfinden. Als die Anführerin des demokratischen Belarus, Swetlana Tichanowskaja, in ihrer Rede zum Jahrestag des Aufstandes 1863-64, es wagte, antirussische Zitate Kalinouskis abzumildern, rief das sogar in den eigenen Reihen sofort Kritik hervor. Sie missbilligten ihr Bestreben eine gewisse Toleranz gegenüber Russland zu demonstrieren und dafür Kalinouski zu korrigieren.13 Tichanowskaja ging es sicher nicht darum, Kalinouskis Ideen inhaltlich zu verändern. Sie versuchte lediglich, ihn in gewisser Weise zu aktualisieren – seine Worte in die Gegenwart zu übertragen.14

    Den Aufstand 1863-64 kann man als letztes großes historisches Ereignis bezeichnen, bei dem Polen, Belarussen und Litauer gemeinsam gegen das Russische Kaiserreich angetreten sind, um die Rzeczpospolita wiederzuerrichten, einen Staat, der bereits seit 1795 der Vergangenheit angehörte. Die Jahrzehnte nach dem Aufstand galten der Herausbildung der verschiedenen Nationen, was zu Spannungen untereinander führte. Die Nationalbewegungen hatten deutlichen Einfluss auf die Bewertung des Aufstandes und die Rolle Kalinouskis. In Polen spielt der Aufstand in den litauischen und belarussischen Gebieten sowohl in der Gesellschaft als auch unter Historikern keine bedeutende Rolle. Aber Kalinouski, der auf der Wiedererrichtung der Rzeczpospolita bestand, ruft als illustre Persönlichkeit großes Interesse hervor. Seine Ideen werden dabei aber eher als polnische denn als probelarussische interpretiert. Kalinouskis Einordnung als belarussischer Revolutionär unterstellt man in Polen oft als eine Verzerrung der Geschichte zur Lösung aktueller politischer Probleme.15

    Auch in der Ukraine hat das Interesse an Kastus Kalinouski seit Beginn des russischen Angriffskrieges zugenommen 

    Litauen hat ebenso einen besonderen Blick auf den Aufstand und Kalinouski als Person. Diesem zufolge hatte der Aufstand, der auch die Gebiete des historischen Litauens umfasste, nicht nationale Fragen der Litauer im Fokus, sondern eine propolnische Ausrichtung. Andererseits erkennt man aber an, dass die Kalinouski-Gruppe auf litauischem Boden aktiv war und sich gegen die russische Okkupation und die Russifizierung sowie gegen die Beschränkung der katholischen Kirche richtete. Eine besondere Bedeutung für den Aufstand hatte Vilnius, das damalige Zentrum des Nordwestlichen Gebietes (heute Belarus und Litauen). In der heutigen litauischen Hauptstadt wurden Kalinouski und seine Gefährten schließlich verhaftet, verurteilt und beigesetzt, weswegen die Stadt die Aufmerksamkeit von Historikern, aber auch einer breiten litauischen Öffentlichkeit auf sich zieht.  

    Auch in der Ukraine hat das Interesse an Kastus Kalinouski seit Beginn des russischen Angriffskrieges zugenommen. Dies wird vor allem durch das Kalinouski-Regiment befördert, aber auch Kalinouski selbst ist wegen seiner antirussischen und antiimperialistischen Ansichten bekannter und populärer geworden. Seinen Namen tragen mittlerweile Straßen in Kyjiw, Mukatschewo, Odessa und Riwne. In Schytomyr wurde eine Straße nach dem Kalinouski-Regiment benannt. Anfang Juli 2024 wurde in Tschernihiw auf der Kastus-Kalinouski-Straße offiziell eine Gedenktafel für ihn eingeweiht. Auf der Tafel steht eine kurze Biografie sowie eines seiner berühmtesten Zitate. Dies lautet: „Denn vom Galgen aus sage ich dir, Volk, du wirst erst dann glücklich leben, wenn über dir nicht mehr der Moskal steht.“


    Anmerkung der Redaktion 

    Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.

      Fußnoten

      Historyja Belarusi: u 6 t. / rėd. kal.: M. Kascjuk (hal. rėd.) [i inš.]. T. 4: Belarus’ u skladze Rasijskaj imperyi (kanec XVIII – pačatak XX st.) / M. Bič [i inš.]. Minsk, 2005. S. 158–166, 233–243 

      «Prazdnovat’ nužno svoi pobedy, a ne čužie». Rol’ socializma v genezise belorusov i ocenka sobytij 17 sentjabrja — Latyšonok (06.08.2023). Naša nіva. https://d367rzjs5oyeba.cloudfront.net/ru/323198

      Za našu vol’nasc’. Kalinoŭski Kastus’. Tvory, dakumenty. Minsk : Belaruski knihazbor, 1999 

      Šal’kevič, V. Kalinoŭski Kastus’ // Ėncyklapedyja historyi Belarusi. U 6 t. T. 4. Minsk, 1997. S. 31–33

      Historyja Belarusi: u 6 t. / rėd. kal.: M. Kascjuk (hal. rėd.) [i inš.]. T. 4: Belarus’ u skladze Rasijskaj imperyi (kanec XVIII–pačatak XX st.) / M. Bič [i inš.]. Minsk, 2005. S. 158–166, 233–243 

      Aleksandra Boguslavskaja. V Vil’njuse perezachoronili ostanki Kastusja Kalinovskogo (22.11.2019). https://p.dw.com/p/3TZJt

      Kritische Einordnung der Partisanenbewegung findet sich bei Brakel, Alexander: https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2007_3_2_brakel.pdf

      Gronskij A.D. Konstruirovanie geroja: Kastus’ Kalinovskij. Svobodnaja mysl’. 2008. № 6. S. 157–164

      Sergeenko: istoričeskaja politika dolžna byt’ instrumentom zaščity nacional’nych interesov belorusskogo naroda (16 maja 2023). https://www.sb.by/articles/istoriya-eto-klyuch-k-ponimaniyu-budushchego.html

      V Svisloči pereimenovali gimnaziju imeni Kalinovskogo. Sejčas u nee imja komsomolki (06.12.2023). https://belsat.eu/ru/news/06-12-2023-v-svislochi-pereimenovali-gimnaziyu-imeni-kalinovskogo-sejchas-u-nee-imya-komsomolki

      Czykwin, Eugeniusz (01.01.2020).  Czyj bohater. https://przegladprawoslawny.pl/2020/01/01/czyj-bohater/ ↩︎

      Dmitrij Taratorin. Tichanovskuju prizvali k otvetu soratniki. Jubilej vosstanija protiv Rossijskoj imperii sprovociroval skandal v belorusskoj oppozicii (24.01.2023). https://www.ng.ru/cis/2023-01-24/5_8642_belorussia.html ↩︎

      Tichanowskaja hatte das Wort „Moskal“ gegen „fremde Macht“ getauscht. Unter „Moskalen“ verstand Kalinouski das zaristische Russland, die Russen jener Zeit: sowohl Soldaten, als auch Beamte und die imperialistischen Machthaber. Das Wort Moskal/Maskal wurde in belarussischer, ukrainischer und auch anderen Sprachen zur Bezeichnung für die Bewohner (meist Soldaten) Moskowiens (Fürstentum Moskau) verwendet, später für das Russische Imperium. Zu verschiedenen Zeiten hatte es mal neutrale, mal abwertende Bedeutung. ↩︎

      Smaljančuk A. F.: Kastus’ Kalinoŭski ŭ pol’skaj histaryčnaj tradycyi. Spadčyna № 2, 1998, S. 84–105; Czykwin, Eugeniusz (01.01.2020).  Czyj bohater. https://przegladprawoslawny.pl/2020/01/01/czyj-bohater/ ↩︎


    Text: Viktor Schadurski 

    Übersetzerin: Tina Wünschmann 

    Übersetzungsredaktion: Ruth Altenhofer 

    Redaktion: Mandy Ganske-Zapf, Ingo Petz 

    Veröffentlicht: 12.09.2024