Sound des Aufbruchs
Rockmusik im Belarus der 1990er Jahre
1990 erscheint auf Melodija das Album Dwazzaz Wosmaja Sorka (dt. „Der achtundzwanzigste Stern”). Es ist das erste belarussischsprachige Rockalbum, das auf dem sowjetischen Staatslabel veröffentlicht wird – ohne Eingriffe, ohne Kontrolle, ohne Zensur. Aufgenommen hat es die belarussische Band Mroja, die seit Beginn der 1980er Jahre in der Sowjetrepublik als Pionier für eine neue Musikbewegung hervortreten konnte. Beflügelt von den neuen Freiheiten von Perestroika und Glasnost, von englischsprachigem Metal und Rock und auch von damals einflussreichen polnischen Bands wie Lady Pank entsteht in der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik eine neue Welle von Musikern und Bands, die ihren Ängsten und Hoffnungen in dieser stürmischen Zeit des Umbruchs auf Belarussisch Ausdruck verleihen. Mit ihren Songs popularisieren sie die lange unterdrückte belarussische Kultur bei einer Jugend, die im Angesicht eines untergehenden Imperiums nach Orientierung und Halt sucht. Damit hatten die Künstler einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die nationale Selbstfindung vieler Belarussen, was sich letztlich auch während der Proteste von 2020 zeigte, als Kultur und Musik eine bedeutende Rolle nicht nur im Protest selbst spielten, sondern auch bei der Ausgestaltung des gesellschaftspolitischen Emanzipationsprozesses im Zuge der Proteste.
In diesem Special werfen wir einen Blick auf diese Zeit des musikalischen Auf- und Umbruchs, auf die Bands und Musiker, von denen viele mit dem Machtantritt Alexander Lukaschenkos ab Mitte der 1990er Jahre zur Speerspitze einer kulturellen Gegenelite wurden. Gemeinsam mit Nasha Niva blickt dekoder auf die Bedeutung der belarussischen Sprache für diese Bewegung und zeigt Fotos aus der Musykalnaja Gaseta , die mitunter zum Sprachrohr und kreativen Laboratorium dieser Szene wurde. Ton an!
Laut Musikkritikern und Journalisten waren die 1990er Jahre revolutionär für die belarussische Musik: Eine Zeit der mutigen Experimente und die Geburtsstunde eines echten, gesunden belarussischen Showbusiness. Der Independent-Rock, der sich bereits in den 1980er Jahren aus dem Underground der ausgehenden BSSR hervorgewagt hatte, entfaltete sich jetzt in vollem Umfang und wurde zur wichtigsten Musikrichtung der Epoche. Seine Atmosphäre passte perfekt in die Zeit: Vielschichtig und frei wie das Land, das nach der Erlangung der Unabhängigkeit endlich richtig aufatmen konnte.
Das hat für mich viel mit Selbstfindung zu tun, mit der Suche einer neuen belarussischen Identität
„Genau genommen waren die 1990er Jahre nicht homogen, eher wie zwei [Jahrzehnte] in einem“, sagt Musiker und Journalist Viktor Semaschko. „Diese Periode unserer Musik- und Kulturgeschichte insgesamt lässt sich in zwei Hälften teilen: 1990 bis 1995 gab es die zweite Phase der Wiedergeburt, der kreativen Revolution und kulturellen Explosion, die 1985 begonnen hatte. 1995 bis 2000 folgte die Zeit der Revanche, der Etablierung der Diktatur und dementsprechend eine Verschärfung der Zensur und schrittweise Unterdrückung und Erstickung alles Lebendigen, dessen Höhepunkt wir heute sehen. In den 1990er Jahren kompensierte man die flächendeckende Armut mit Kreativität und Enthusiasmus. Die Ausrufung der Unabhängigkeit verlieh der Avantgarde neuen Schwung. Und, was wichtig ist: Parallel entstand die erste Welle rein belarussischen (!) Rocks.“
Tatjana Samirowskaja, die in den 1990er Jahren für die Kult-Zeitung Musykalnaja gaseta schrieb, erinnert sich: „Ich begann mich ungefähr zu der Zeit, als Belarus unabhängig wurde, für belarussische Musik zu interessieren. Ich war ein Teenager auf der Suche nach mir selbst, und mit britischer Musik konnte ich mich schwer identifizieren: Ich lebe ja nicht dort. Genauso ging es mir mit dem russischen Rock. Und plötzlich waren da N.R.M., ULIS, Neuro Dubel, und ich begriff – endlich geht es um uns, das sind wir! Es war ein tolles Gefühl, Bands gefunden zu haben, die von dem singen, was um uns herum passiert. Also hat der belarussische Rock der 1990er Jahre für mich viel mit Selbstfindung zu tun, mit der Suche einer neuen belarussischen Identität.“
Ideologisch konforme Vokal-und-Instrumental-Ensembles [aus der Sowjetzeit – dek] gerieten indessen mehr und mehr in Vergessenheit, sie waren nicht mehr gefragt. Unter denen, die es schafften, mit der aktuellen Welle mitzuschwimmen, nahmen die Pesnjary eine Sonderstellung ein. Laut Sjarhej Budkin, dem Gründer des Musikportals Tuzinfm.by, waren sie die ersten, die ein belarussisches Album auf CD herausbrachten: Pesnjary-25, aufgenommen und gedruckt 1994 in Amsterdam.
Generell war es schwierig mit dem Aufnehmen: Noch 1999 war ein Großteil der Alternativ-Musik auf Kassetten im Umlauf. Wie es den Musikern gelang, ihr Material unter häuslichen Bedingungen auf Band zu bekommen und zu vervielfältigen, ist im Buch Der riesige Schatten des göttlichen Wurms über die Geschichte von Neuro Dubel hervorragend illustriert. „Wir hatten ein Spulentonbandgerät und mussten genau im richtigen Moment auf den Knopf drücken, damit alles schön rund wird. Wir mussten zehn bis zwanzig Mal zurückspulen. Die Aufnahmen machten wir abends nach der Arbeit, manchmal nachts … Einmal klingelte mitten in der Nacht eine Nachbarin. Da waren Jura Naumow [der zweite Sänger von Neuro Dubel – dek] und ich gerade richtig in Fahrt. In guter Nachbarschaft versprach ich ihr, nur noch ein letztes, geflüstertes Lied aufzunehmen. Zurück im Zimmer erklärte ich die neuen Auflagen. So entstand auf Bitwa (dem Album Bitwa na motoziklach, Schlacht auf Motorrädern – NN) der Song Lied im Flüsterton.“
Eine eigene Erwähnung wert ist die Veröffentlichung des Narodny albom, dt. „Volksalbum”, im Jahr 1997. Die Idee zu diesem Projekt stammte von dem Grafikdesigner und Dichter Michal Anempadystau, der dafür die Texte schrieb, während Lavon Volski – und teilweise Kassja Kamozkaja – die Musik komponierten. Das aus 27 Tracks bestehende Musical, das die Geschichte einer Kleinstadt im Westen von Belarus in den 1930er Jahren erzählt, gilt heute als Glanzstück der belarussischen Musik.