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Der Pazifismus ist tot

<a href="https://www.dekoder.org/de/person/alhierd-bacharevic">Alhierd Bacharevič</a>
Text: <a href="https://www.dekoder.org/de/person/alhierd-bacharevic">Alhierd Bacharevič</a>Titelbild: Kontraktowa-Platz in Kyjiw, März 2022, © Alina Smutko24.08.2022

Wie für viele Belarussen, die nicht erst seit den Protesten 2020 im eigenen Land auf eine gesellschaftspolitische Emanzipation hoffen, waren der Aufbruch der ukrainischen Gesellschaft seit der Orangenen Revolution und ihr Widerstand gegen postsowjetische Altlasten und russischen Einfluss auch für Alhierd Bacharevič Motivation und Inspiration. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges, bei dem auch sein Land und dessen Machthaber Alexander Lukaschenko eine unheilvolle Rolle spielen, sieht sich der Schriftsteller und Lyriker einer schmerzhaften Zerrissenheit ausgeliefert, die er in diesem Text beschreibt.

April. Ich schaue ein Video: Eine ukrainische Brücke in Satoka explodiert nach einem Treffer durch russische Raketen. Jemand hat die Explosion mit seinem Smartphone aufgenommen. Er sitzt in einem Auto, ein paar hundert Meter von der Brücke entfernt. Dann schimpft er, wendet und fährt dann mit Vollgas davon. Unter dem Video steht ein Kommentar von einer glücklichen russischen Frau: „Wie wunderbar! Wir werden bald bei euch sein, ist euch das klar?“

Mein eigenes Land liegt tausend Kilometer von diesem Ort entfernt. Und ich sitze tausend Kilometer in Richtung Westen von meinem Land entfernt, wohin ich nicht zurück darf. Trotzdem will ich diese russische Frau töten – mit einem hochpräzisen Schlag. Der Krieg hat unsere Sprache verändert, wir verwenden derzeit solche Worte wie „hochpräzise“ so schamlos, so unbedacht. Früher hätte ich mir solch einen Wunsch und solche Worte übelgenommen, jetzt aber brauche ich sie, die Rache. Ich wünsche ihnen den Tod: wegen Charkiw und Mariupol, wegen Butscha und Tschernihiw. Ich will ein neues Nürnberg für sie. Der Krieg verhilft meiner dunklen Seite so rasch zur Rechtfertigung, als ob ich keine Werte, keinen Verstand und keinen Namen mehr hätte. In meiner Flagge mit ausgeblichenen europäischen Sternen klafft jetzt ein schwarzes Loch des Hasses. 

Sie stellten ihre Raketen in unserem Land auf, so, als ob es schon längst jemand für Russland ,schlüsselfertig‘ vorbereitet hätte

Uns, den Belarussen, wurde das nie in dieser Form geschrieben: „Wir sind bald bei euch.“ Sie kamen zu uns, wie zu sich nach Hause, keiner bemerkte, wie schleichend das geschah. Sie stellten ihre Raketen in unserem Land auf, so, als ob es schon längst jemand für Russland „schlüsselfertig“ vorbereitet hätte. Sie wussten: Hier wird man sie nicht stören. Sie wussten: Hier, bei den Belarussen, wird man das einfach alles aushalten. 

Und jetzt sind sie – wir. Und wir sind sie. Alles, was man auch immer sagt, klingt wie eine Rechtfertigung. Jeglicher Protest und jegliche Erklärung wirkt wie eine Flucht vor der explodierenden und brennenden Brücke. 

Zerstörte Brücken

Einige meiner persönlichen Brücken gingen gleich nach dem Beginn der großen Invasion in Feuer auf. Zuerst schrieb ein bekannter ukrainischer Kolumnist, dass es für die Ukrainer keinen Unterschied zwischen Russen und Belarussen mehr gäbe. Er riet uns, den Arsch unseres lieben Putin zu küssen. Ein anderer schrieb, dass die Belarussen mit ihrem friedlichen Protest an der Invasion schuld seien. Und noch einer schrieb, dass die Belarussen als Nation überhaupt nicht existierten. Ich habe sie alle geblockt, in einem typischen Anfall von Kraft- und Hilflosigkeit, und wie man das immer so macht auf Facebook: auf ewig. Kurz bevor ich diese Person verbannte, konnte ich noch lesen, wie meine Landsleute den Ukrainern hinterherschrien: Aber wir hatten unser 2020 ! „Was aber soll das gewesen sein?“, fragten die Ukrainer zurück, ehrlich, erstaunt und befremdet. Ist damals in Belarus etwa irgendwas passiert? 

März. Du stehst in der ukrainischen Demonstration am Hauptplatz in Graz mit dem selbstgemachten Anti-Putin-Plakat und mit der weiß-rot-weißen Fahne. Du kommst dir ein wenig komisch vor, denn du weißt: Es ist kein Lebenstraum von dir, Protestplakate zu basteln. Ein ukrainisches Mädchen bittet, ein Foto von dir machen zu dürfen. Am Abend postet es das Foto in ihrem Instagram-Kanal mit dem Kommentar: „So arbeite ich mit den Belarussen, wir müssen sie auf unsere Seite hinüberziehen.“

© Julia Cimafiejeva

Hinüberziehen. Wie sollst du dich fühlen, du, der das ganze Leben die eigene Welt vor der Gefahr des russischen Faschismus warnte, der Jahr für Jahr beschrieb, wozu die Nachgiebigkeit gegenüber Putin führen könnte? Der einen großen europäischen Krieg vorhersagte? Wie ein Narr fühlst du dich, wie ein großer belarussischer Narr. Und jetzt musst du wieder beweisen, dass Lukaschenka nicht dein Präsident ist. Der Krieg hat einem die Wahrheit in die Augen gestreut: Aber niemand hat dich gehört. Die Welt erwartet von belarussischen Schriftstellern nur Klagen und Lamentieren, aber niemals: Warnungen oder Belehrungen. 

Wie wenig haben sie dort in der Ukraine von uns gewusst. Und wie wenig wissen sie auch heute von uns. Noch bevor es die Ukrainer selbst erkannten, haben wir uns häufig an sie gerichtet, wir erzählten ihnen jahrelang: Im Norden versteckt sich der Feindstaat. Statt des friedlichen Nachbarlandes, das ihr euch jahrelang eingebildet habt, hat sich Belarus für euch erst jetzt als das Pro-Putin-Regime offenbart. (Ein Regime, für das die Ukraine das Schreckgespenst der Freiheit ist.) Die Ukrainer taten all das lange einfach ab, aber sie glaubten uns nicht. Wie konnten sie auch daran glauben, dass sich das ewige Opfer in einen hässlichen Feind verwandeln würde? 

Seit Beginn des großen Krieges ist die Beziehung zu Belarus mit einem Gerichtsprozess vergleichbar: Bei dem der Angeklagte versucht, sich gegen die Anklagen zu verteidigen. Ohne Anwalt, nur aus eigener Kraft. Wir haben keine Anwälte, wir haben keinen eigenen Staat. Was wir momentan haben, sind nur unsere belarussischen Pässe. Nur diese Pässe und unseren Traum von einem anderen Belarus, den wir ins Exil mitgenommen haben. Wir haben noch unseren Willen, uns vor der Todesgefahr des Verschwindens zu schützen, und unsere ureigene, heißgeliebte Selbstgeißelung und Selbstzerfleischung. Alles, was wir noch haben, sind unser Talent, zu reden, unsere Sprache und unser Glaube daran, dass 2020 tatsächlich passiert ist und dass unsere politischen Gefangenen ihren Mut nicht umsonst aufgebracht haben.

Belarus ist eine vergewaltigte, schwer verletzte Frau, mit deren Kopf die russischen Banditen die Türen zum Nachbarland aufbrechen

Wir sind ein okkupiertes Land, sagen wir der Welt. Belarus ist eine vergewaltigte, schwer verletzte Frau, mit deren Kopf die russischen Banditen die Türen zum Nachbarland aufbrechen. Aber unser Rechtfertigen bricht unter der Last der schwerwiegenden Wahrheit zusammen. Die Belarussen bringen gern das Kalinouski-Bataillon vor, das in der Ukraine tapfer kämpft („Aber aus Belarus fliegen die Raketen auf uns!“, entgegnet man uns als Antwort), sie benennen die Freiwilligenarbeit der Belarussen für die Ukraine („Aber aus Belarus fliegen Raketen!“), all das Spendensammeln für die ukrainische Armee („Aber aus Belarus fliegen Raketen!“). Sie geben zu bedenken, dass jeder Protest in Belarus einen sehr hohen Preis hat. Wie bei den Eisenbahnpartisanen, die als Terroristen in Belarus angeklagt sind und erschossen werden könnten.

Aber
aus
Belarus
fliegen
Raketen.

Wir sind eben nicht sie, sagen wir hartnäckig, und es ist nicht immer klar, wem wir uns entgegenstellen müssen. Den Russen – oder zumindest den anderen Belarussen, die so leben, als ob nichts passiert wäre, als ob weder 2020 noch 2022 wirklich geschehen wären, als ob man weiter im Schlaf verharren dürfte, in einem Nachttraum, wo nichts von dir selbst abhängt. 

Es gibt zwei Belarus´. Wie es immer war, wie es ist, so wird es immer sein.

März. Ich schreibe meinen offenen „Brief an die Ukraine“, der von dem ukrainischen Medium Ukrainski tyzhden publiziert wird. Ich versuche das zu tun, was ein Schriftsteller tun muss, wenn sein Land zum Komplizen des Aggressors wird: einen Teil der kollektiven Schuld annehmen. Aber ich bitte darum, Belarus und Lukaschenka nicht zu verwechseln, ich erinnere daran, dass Belarus und die Ukraine einen gemeinsamen Feind haben, den Imperialismus Putins. Dass Putin und Lukaschenka nur zufrieden lachen können, wenn wir uns gegenseitig in die Haare bekommen. Auf den Text erhalte ich viele Kommentare. Mal schreibt jemand: danke. Mal schreibt jemand: Du Russophober, halt die Fresse! Und ich lese auch solche Reaktionen: „Für wen hältst du dich, dass du für alle Belarussen sprichst?“ Und ich aber frage mich: Woran genau sind wir eigentlich schuld? 

Belarus und die Ukraine haben einen gemeinsamen Feind: den Imperialismus Putins

März. London, nach der Vorstellung des Theaterstücks zu meinem Roman Die Hunde Europas zeigten sie auf der Bühne belarussische und ukrainische Flaggen und dieses riesige Transparent: „Stand with Ukraine!“ Ich bin stolz auf die Truppe, obwohl ich weiß: Wir machen das doch eigentlich nur für uns selbst. Wir, Belarussen, reden immer nur über uns selbst. Wir sind immer nur auf uns selbst konzentriert, wir halten uns für das unglücklichste Volk in der Geschichte der Menschheit. Auch dann reden wir über uns – wenn wir so leidenschaftlich über die Ukraine reden. Ohne die Ukraine sind wir nichts – und die Ukraine ist auch ohne uns kaum vorstellbar. Solange das russische Imperium den Osten beherrscht, sind wir durch Geographie und Geschichte ineinander verwoben und verbunden. Zwei Länder, die als Doppelbeute in der nächsten Nähe liegen – wie können wir uns schützen, ohne zu schreien? Der Pazifismus ist tot.

Mai. Die Bank will unsere Konten sperren. Der Grund: unsere belarussischen Pässe. Jemand von den Eurobeamten ist anscheinend froh, solch schöne Lösungen zu erfinden. Es ist wie die sehr einfache Antwort auf eine sehr komplizierte Frage: Was soll man bloß mit uns anfangen? Von allen Seiten kommen Nachrichten, dass den Belarussen etwas verboten wird oder dass Belarussen von etwas ausgeschlossen wurden. Wie von der Teilnahme an einem Projekt oder von einem Festival, einer Theateraufführung, oder wie der Ausschluss von einem Bildungsprogramm. Ihr, Belarussen, befindet euch in einer schizophrenen Situation, sagt einer meiner österreichischen Bekannten zutreffend. Die Erniedrigung ist offensichtlich, Fragen zu stellen scheint nicht notwendig. Wie etwa diese: „Wer sind diese Menschen, was machen sie im Exil, vor was oder wem suchen sie Zuflucht in der freien Welt?“ Und dabei wäre vor allem diese eine Frage entscheidend: „Was ist bei euch 2020 passiert?“ Wie schnell doch vergisst die Welt ihre Vertriebenen … 

Krieg der Weltanschauungen

Jeden Monat lese ich irgendwo von irgendwem, dass die Russen vernichtet werden müssten. Als Nation, als Volk, als Lebewesen. Und was meinst du dazu, fragen Journalisten. Das ist nicht nur ein Krieg der Flieger, Panzer und Soldaten, sage ich. Das ist nicht nur der Krieg von russischen Okkupanten gegen Kinder und Frauen. Es ist auch ein Krieg der Weltanschauungen. Ein Krieg von Freiheit und Demokratie gegen Sklaverei und Faschismus, den Russland in die Welt trägt. Deshalb sind für uns alle Gegner von Putin wichtig. Je mehr wir sind, desto stärker werden wir. Ich bin bereit mit jedem zu reden, der gegen Putin aufsteht. Auch mit Russen. Meine Einstellung zu einem Menschen wird nie durch einen Pass bestimmt werden. Nur seine Haltung spielt eine Rolle, und die Taten. Keine Nation darf von vornherein verurteilt werden, nur die Verbrecher, die müssen verurteilt werden. Ich bin Europäer, ich habe meine Werte. Auch wenn Europa diese Werte zusehends vergisst. Wir aber sind da, damit sie nicht vergessen werden: die Osteuropäer aus den Bloodlands, die noch nie so häufig die Nachrichten dominierten wie in dieser Zeit. Der Krieg hat uns sichtbar gemacht. Der Krieg hat uns Namen gegeben. Butscha und Mariupol – wer kannte schon diese Orte im letzten Jahr.

Juni. Ich sitze im Innenhof und rauche, ich lese Nachrichten. Plötzlich schweben mir vom Himmel Seifenblasen entgegen. Ich wähne mich unter Beschuss. Dann trägt der Wind die bunten Blasen in Richtung Uhrturm, wo Kinder von ostukrainischen Flüchtlingen spielen. In Graz hört man vielerorts Russisch. So viel Russisch wurde hier noch nie gesprochen. Die Sprache des Imperiums, die Sprache der Opfer, die Sprache des Kreml, die Sprache der Mörder und Toten. Die Sprache der Kinder in einer fremden Stadt – Sprachseifenblasen mit Tausenden Fragen. Man kann natürlich so tun, als ob das russische Imperium nicht existieren würde. Man kann versuchen, die russische Sprache, die Kultur, die Russen als Nation zu ignorieren oder – wie man heutzutage sagt – zu canceln. Aber all das wird uns nicht helfen, wenn wir Russland besiegen wollen. 

Juli. Die Grenze zwischen der Ukraine und Belarus liegt jetzt in unserem Korridor. Unsere neuen Nachbarn sind eine ukrainische Autorin und ihr kleiner Sohn. Sie kommen aus Charkiw, sie sprechen nur Ukrainisch, sie sehen zum ersten Mal in ihrem Leben belarussischsprachige Belarussen, uns beide. Meine Frau Julia und mich. Sie wissen nichts von uns. Sie haben nicht geahnt, dass es solche Belarussen überhaupt irgendwo gibt. Unser Korridor ist wie eine Grenze, so wie sie zwischen uns sein sollte: friedlich, offen, durchlässig, visafrei. Ein Traum, ein Europa-Korridor der Zukunft.