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Der Winterkrieg 1939/1940

Michael Jonas
Text: Michael Jonas13.03.2023

„Finnland kämpft alleine, aber an der Seite von Engeln” – so betitelte The New York Times einen Artikel, der am 2. Dezember 1939 erschien, am dritten Tag eines umfassenden Angriffs sowjetischer Truppen auf das kleine Land an den nordöstlichen Rändern des europäischen Kontinents. „Sorry fate is prepared“, schrieb die Auslandskorrespondentin Anne O’Hare McCormick weiter und stellte den sowjetischen Krieg gegen Finnland in eine Reihe mit dem deutschen „Anschluss“ von Österreich 1938 und der Besetzung Polens und der baltischen Länder, wie sie auf Grundlage des Hitler-Stalin-Paktes noch im Herbst 1939 erfolgt war. Auch die sowjetische Führung schien eine unkomplizierte Invasion Finnlands zu erwarten: Bereits Ende November wurde der Komponist Dimitri Schostakowitsch beauftragt, einen Zyklus finnischer Volkslieder zu komponieren, um die erwartete Parade sowjetischer Truppen durch Helsinki und die vermeintliche Befreiung finnischer Arbeiter und Bauern feierlich begehen zu können. Doch aus der vermeintlich raschen Operation wurde ein großflächiger, verlustreicher Abnutzungskrieg. Später verschwand der Krieg nahezu spurlos aus dem öffentlichen Geschichtsbewusstsein der UdSSR und Russlands. In Finnland hingegen stand der als „Talvisota“ erinnerte Krieg schon damals im Zentrum des nationalen Selbstverständnisses – und ist dies mit unverminderter Stärke auch heute noch.

Was nun verbirgt sich hinter dem Winterkrieg, der aus der Erinnerung des einen nicht wegzudenken, aus dem Gedächtnis des anderen hingegen restlos getilgt worden zu sein scheint? Eine Longread-Gnose von Historiker Michael Jonas1.

In memoriam Matti Klinge (1936–2023)

    Bis zum Revolutionsjahr war Finnland als Großfürstentum Bestandteil des russischen Zarenreichs gewesen. Erst im Dezember 1917 hatte das Land seine staatliche Unabhängigkeit erlangt. Die zentrale Frage der Sicherheits- und Außenpolitik Finnlands war in welcher Form die Existenz des jungen unabhängigen finnischen Staates zu garantieren sei. Der Kleinstaat konnte nach dem Ersten Weltkrieg aus der Schwächung der beiden traditionellen Großmächte, ab Mitte der 1930er dann aus dem Gegensatz der Totalitarismen im Ostseeraum eine relative Sicherheit beziehen. Nach der Mitte des Jahrzehnts wurde immer deutlicher, dass das multilaterale Experiment der Zwischenkriegszeit, der Völkerbund und sein Konzept kollektiver Sicherheit, gescheitert war. Die Westmächte hatten den Ostseeraum dem nationalsozialistischen Deutschland überlassen, zu dem man sich in Helsinki wenig hingezogen fühlte.

    Während das kleine Land im äußersten Nordosten des Kontinents weder in Hitlers noch in den strategischen Planungen der Westmächte eine Rolle spielte, beschäftigte es Joseph Stalin umso mehr. Etwas salopp erfasste er das von ihm wahrgenommene Problem mit der Feststellung, man könne die Geographie nun einmal nicht ändern.2

    Während das kleine Land im äußersten Nordosten des Kontinents weder in Hitlers noch in den strategischen Planungen der Westmächte eine Rolle spielte, beschäftigte es Joseph Stalin umso mehr

    Die finnische Regierung hatte, angetrieben vom liberalen Außenminister Eljas Erkko, ein klares Verständnis von staatlicher Souveränität, das durch die bewusste Einbindung in die skandinavische Neutralitätspolitik seit Mitte der 1930er Jahre verstärkt wurde. Die völkerrechtlich auch von der Sowjetunion anerkannte Souveränität und territoriale Integrität Finnlands konnte nicht zur Disposition stehen. Auch vor einer Großmacht wie der UdSSR war der innere Zirkel des Kabinetts nicht bereit zu weichen, zumindest nicht im Hinblick auf den prinzipiellen Gehalt der Fragen, die von sowjetischer Seite aufgeworfen wurden.

    Eine solche Position erwies sich als kategorisch unvereinbar mit den vorherrschenden Vorstellungen der sowjetischen Regierung. Diese waren von einem sensiblen Sicherheitsdenken bestimmt: Die zweitgrößte Metropole der UdSSR, Leningrad, hatte schon immer eine geostrategisch ungünstige Lage am äußersten nordwestlichen Rande des Staats. Die Grenze zu Finnland lag nämlich nur rund dreißig Kilometer davon entfernt, und die Stadt befand sich somit grob in Reichweite moderner Artillerie. Es lag im traditionellen Interesse Russlands, die eigene Westgrenze zu verschieben und über eine Art imperialen Puffer zu festigen. Imperiale Vorstellungen dieser Art und die Prämissen des modernen Völkerrechts waren indes nur bedingt in Einklang zu bringen.

    Moskau war seit 1938 über geheimdiplomatische Kanäle bemüht, mit der finnischen Regierung ins Gespräch zu kommen. Wiederholt scheiterte man jedoch an der hartnäckigen Weigerung Helsinkis, sich auf verbindliche Verhandlungen überhaupt einzulassen. Die Zäsur bildete die Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Pakts Ende August 1939: Innerhalb der wenigen Wochen, die die deutsch-sowjetische Annäherung benötigte, fand Helsinki sich in einer zunehmend untragbaren Lage wieder. Im Hitler-Stalin-Pakt wurde Finnland – im Übrigen weiterhin als „baltischer Staat“ klassifiziert – der sowjetischen Interessensphäre zugeschlagen. Erst in diesem Zusammenhang kam es ab Mitte Oktober 1939 zu offiziellen Verhandlungen, ja im Grunde zu einer Vorladung der finnischen Regierung nach Moskau. Dort hatte man bereits kurz davor Estland, Lettland und Litauen die Aufgabe der eigenen Souveränität abgerungen und ging davon aus, auch Finnland diplomatisch in die Knie zwingen zu können. Mit dem vormaligen Senats- und Ministerpräsidenten Juho Kusti Paasikivi entsandte die Mitte-Links-Regierung in Helsinki das eigentliche russlandpolitische Schwergewicht der finnischen Politik und stellte sich auf einen Verhandlungsmarathon ein, in dem man so wenig wie irgend möglich preiszugeben bereit war.

    Im Kern ging es Stalin und der Sowjetführung um eine Grenzrevision der finnischen Ostgrenze

    Im Kern ging es Stalin und der Sowjetführung um eine Grenzrevision der finnischen Ostgrenze auf der Karelischen Landenge. Diese lag nämlich nur rund dreißig Kilometer von Leningrad, der zweitgrößten Metropole der UdSSR, entfernt und sollte nun um einige dutzend Kilometer entlang des Ladogasees nach Westen verlegt werden. Weitere territoriale Forderungen, so unter anderem die Überlassung strategisch wichtiger Inseln im Finnischen Meerbusen und die des zu Finnland gehörigen Westteils der Fischerhalbinsel im äußersten Nordosten, variierten in ihrer Zusammensetzung. Die eigenen territorialen Forderungen war Moskau bereit, über die vermeintlich großzügige Übertragung weitgehenden Terrains in Karelien – nördlich des Ladogasees – auszugleichen.

    Etwaig weitergehende Vorstöße von Stalin und Wjatscheslaw Molotow, Finnland über einen wie auch immer gearteten Beistandspakt oder ein Verteidigungsbündnis an Moskau zu binden, hebelte Paasikivi bereits zu Beginn der Verhandlungen erfolgreich aus, immer unter Hinweis auf die kategorische Neutralität seines Landes. Als letzter sensibler Punkt blieb schließlich die Frage nach der Stationierung sowjetischer Truppen auf finnischem Staatsgebiet. Ähnlich war die Sowjetführung vorab mit Estland, Lettland und Litauen verfahren und hoffte nun, auch Finnland die Abtretung eines Militärareals und die dortige Stationierung von sowjetischen Truppen abpressen zu können. Als Stationierungsort hatte Moskau die bereits im Zarenreich ausgebaute Hafenstadt Hanko an der äußersten Südspitze Finnlands, ca. 120 Kilometer südwestlich von Helsinki, vorgesehen.

    Mit dem vormaligen Senats- und Ministerpräsidenten Juho Kusti Paasikivi entsandte Helsinki das eigentliche russlandpolitische Schwergewicht der finnischen Politik und stellte sich auf einen Verhandlungsmarathon ein / Foto: finnische Verhandlungsdelegation, Paasikivi zweiter von links / © gemeinfrei / Wikimedia

    Während die finnische Führung territoriale Zugeständnisse zu ertragen bereit war, erwies sich die Präsenz sowjetischer Truppen auf finnischem Boden für die Regierung in Helsinki als inakzeptabel. Paasikivi und der maßgebende Militär des Landes, der vormalig kaiserlich-russische General C. G. E. Mannerheim, plädierten für eine Annahme der inzwischen überschaubaren Moskauer Forderungen. Die von der Mehrheit der Regierung getragene Entscheidung war jedoch, dem wachsenden Druck der Sowjetführung standzuhalten. Am 13. November 1939 wurden die offiziellen Verhandlungen schließlich vertagt; die finnische Delegation reiste umgehend aus Moskau ab. Dass dies zur Aufnahme von Kampfhandlungen führen könnte, erschien der Regierung in Helsinki als eher unwahrscheinlich. Für Stalin indes waren die Würfel gefallen: Kurz danach erging der Mobilisierungsbefehl und zugleich die konkrete Vorbereitung der Invasion des nordöstlichen Nachbarlandes.

    Es waren die jüngsten Kriegserfahrungen seit dem Überfall auf Polen, die den Wahrnehmungshorizont, die Erwartungshaltung und nicht zuletzt das konkrete Handeln der sowjetischen Führung prägten. Mit dem 17. September 1939 hatte die Rote Armee Ostpolen bis zur im Hitler-Stalin-Pakt festgelegten Demarkationslinie besetzt. Nennenswerter Widerstand von polnischer Seite war zu diesem Zeitpunkt bereits auszuschließen gewesen. Vor diesem Hintergrund erwartete die sowjetische Führung und ein Teil der Militärelite eine ähnlich unkomplizierte Invasion Finnlands, die nur wenige Wochen in Anspruch nehmen sollte. Die Mobilisierung erfolgte in der zweiten Novemberhälfte und umfasste einen kleineren Teil der militärischen Ressourcen der UdSSR und bezog diese größtenteils aus der Oblast Leningrad.

    Während Stalin die Truppenzahl der Armee in den Vorkriegsjahren von ca. anderthalb auf drei Millionen erhöhte, dezimierte er zugleich das eigene Offizierskorps um gut drei viertel – und dies auf sämtlichen Ebenen der Armeehierarchie

    Stalin entschied anstelle einer umfänglicheren Offensivplanung, die vom sowjetischen Generalstab ausgearbeitet worden war, eine schlankere Variante durchzuführen. Diese ging auf den Leningrader Militärbefehlshaber Kirill Merezkow zurück. Merezkow war Militär, der vom Großen Terror 1936–1938 an die Spitze gespült wurde. Seine Biographie kann als durchaus symptomatisch für den Zustand des Offizierskorps nach den Säuberungen gelten. Während Stalin die Truppenzahl der Armee in den Vorkriegsjahren von ca. anderthalb auf drei Millionen erhöhte, dezimierte er zugleich das eigene Offizierskorps um gut drei viertel – und dies auf sämtlichen Ebenen der Armeehierarchie. Die im Anschluss an die Säuberungen nachrückenden Offiziere waren in der Regel miserabel ausgebildet und militärisch gänzlich unerfahren. Auch Merezkow schien einem Armeekommando zumindest 1939 nicht gewachsen, schon gar nicht der Übernahme einer hochkomplexen Gesamtoperation.

    Erste Phase des Winterkriegs / © gemeinfrei / Wikipedia; Kollage © dekoder.org

    Dem Aufmarschplan gemäß umfasste die Invasionsstreitmacht vier Armeen – die 7., 8., 9. und 14. – und insgesamt knapp 500.000 Soldaten sowie 2050 Panzer:

    • Auf der karelischen Landenge sollte die 7. Armee die sogenannte Mannerheim-Linie durchbrechen, die Einnahme der Provinzstadt Viipuri (Wyborg) gewährleisten und den anschließenden Weitermarsch auf Helsinki sicherstellen. Hierfür war mit 200.000 Soldaten und 1500 Panzern das Gros der Offensivkräfte vorgesehen.
    • Nördlich des Ladogasees sollte die 8. Armee – 130.000 Soldaten und 400 Panzer – die finnischen Befestigungen umgehen und nach Süden vorstoßen, um den Hauptteil der finnischen Armee einzukesseln und zur Aufgabe zu zwingen.
    • Für die nördliche Hälfte der Front, insgesamt gut 1300 Kilometer, standen die 9. Armee und im äußersten Norden im Raum Murmansk die 14. Armee zur Verfügung. Mit ca. 140.000 Soldaten und 150 Panzern waren diese Kontingente für die Besetzung des Restlandes und für die schnelle Übernahme des kriegswirtschaftlich wertvollen und zudem dauerhaft eisfreien Hafens Petsamo im äußersten Norden des Landes zuständig.

    Die finnische Verteidigungsstrategie sah zwei unterschiedliche Ausformungen der beweglichen Landesverteidigung vor:

    • eine auf übergangsweises Halten und Abnutzung des Gegners abgestellte Form auf Grundlage des Verteidigungssystems auf der Karelischen Landenge – und
    • eine extrem flexible Variante der im Grunde totalen Verteidigung vom Ladogasee bis in die nördlichsten Frontabschnitte des Landes an der Barentssee.

    Das Berufsheer wurde mit Beginn der Mobilmachung auf der Karelischen Landenge zusammengezogen, um die später so bezeichnete Mannerheim-Linie zu besetzen und die erwartete sowjetische Offensive in Richtung Viipuri und Helsinki aufzuhalten. Bei dieser Befestigungslinie, deren Ursprünge auf die frühen 1920er Jahre zurückgingen, handelte es sich um einen in den Vorkriegsjahren systematisch ausgebauten Komplex von Verteidigungsanlagen. Tausende von Schützengräben, Stacheldrahthindernissen, Panzersperren, Unterständen, MG-Stellungen und Bunkerbauten verschiedenster Machart und technischen Qualität wechselten sich auf einer Länge von 136 Kilometern ab, vom Finnischen Meerbusen bis zu Taipale am südlichen Ladoga. Angesichts der überschaubaren Anzahl an Bunker-Bauten – darunter einige wenige Kanonen-Bunker – und der fehlenden Tiefe des Verteidigungssystems besaß die Mannerheim-Linie eher den Charakter einer flexibel zu verteidigenden Feldbefestigung. Ihr Kampfwert lag weit unterhalb ambitionierterer Befestigungsanlagen wie der Maginot-Linie in Frankreich. Das Befestigungssystem ermöglichte den finnischen Streitkräften dennoch, einen auf Zeitgewinn abgestellten Hinhaltekrieg zu führen und dabei die industriell entwickelten Bevölkerungszentren im Süden des Landes zumindest übergangsweise vor einem sowjetischen Zugriff zu bewahren.

    In den unmittelbar nördlich an den Ladogasee anschließenden Gebieten, in denen eine Invasionsarmee sich aufgrund eines zwar unterentwickelten, aber prinzipiell funktionstüchtigen Verkehrsnetzes bewegen konnte, sah die finnische Verteidigungsplanung die Verwendung weiterer regulärer Truppen mit insgesamt ca. 28.000 Soldaten vor. Die gesamte Nordhälfte des Landes, immerhin ca. 800 Kilometer des Grenzverlaufs vom nördlichen Karelien bis zum Arktischen Ozean, verblieb bestenfalls sporadisch verteidigt. Dies erklärt sich nicht nur aus akutem Ressourcenmangel, sondern auch aus einer Prioritätensetzung des finnischen Oberkommandos. Mannerheim und sein Generalstab setzten dabei zu Recht voraus, dass die grenznahen Gebiete Mittel- und Nordfinnlands zu dicht bewaldet und infrastrukturell zu unerschlossen waren, um militärische Operationen und Bewegungen in Armeegröße überhaupt zuzulassen.

    In militärische Kräfteverhältnisse übersetzt bewegte sich die sowjetische Überlegenheit in einer Relation von drei zu eins im Hinblick auf die Truppenzahl, von ca. fünf zu eins im Bereich der Artillerie, und bei Panzern und gepanzerten Fahrzeugen von ungefähr achtzig zu eins

    Zusammengenommen standen in der ursprünglichen Aufmarschplanung der letzten Novemberwochen 1939 den ca. 250.000 finnischen Verteidigungskräften knapp eine halbe Millionen Rotarmisten gegenüber, und diese Zahl konnte jederzeit aufgestockt werden. Noch deutlicher wird die Disparität der Kriegsparteien, wenn man auf die für den modernen Krieg zentralen Kennzahlen blickt: Wenigen dutzend Panzern aus britischer und französischer Produktion, von denen jedoch gerade einmal zehn effektiv einsetzbar waren, standen 2514 sowjetische Panzer und Panzerwagen gegenüber. Die 114 einsatzfähigen Kampfflugzeuge, die die Regierung in Helsinki um die Mitte des Jahrzehnts ebenfalls größtenteils aus Großbritannien bezogen hatte, erschienen im Vergleich zu den prinzipiell mobilisierbaren sowjetischen Luftkriegskapazitäten vernachlässigenswert. Mindestens 1700, in anderen Schätzungen bis zu 4000 Kampfflugzeuge stellten während des gesamten Kriegsverlaufes die nahezu totale Lufthoheit der UdSSR sicher.

    In militärische Kräfteverhältnisse übersetzt bewegte sich die sowjetische Überlegenheit in einer Relation von drei zu eins im Hinblick auf die Truppenzahl, von ca. fünf zu eins im Bereich der Artillerie, und bei Panzern und gepanzerten Fahrzeugen von ungefähr achtzig zu eins. Angesichts dessen erklärt sich nicht nur die damals bereits zum Mythos erhobene Vorstellung von einem biblischen Kampf wie bei David gegen Goliath. Internationale Beobachter erwarteten wie auch die sowjetische Militärführung ein rasches ‚Finis Finlandiae‘ – ein Topos, der von russischen Nationalisten bereits in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg provokant verwendet worden war, um das zunehmende Autonomiebedürfnis der finnischen Eliten auszuhebeln.

    Nicht nur die Vorstellung eines operativen Blitzkriegs entlehnte die sowjetische Führung dem NS-Propaganda-Arsenal. Auch der unmittelbare Kriegsanlass war vom fingierten Angriff auf den Sender Gleiwitz inspiriert, mit dem das nationalsozialistische Deutschland am 1. September 1939 seinen Überfall auf Polen zu rechtfertigen bemüht war. An die Stelle von Gleiwitz trat ab dem 26. November das kleine Grenzdorf Mainila wenige hundert Meter von der finnischen Grenze entfernt, das die Rote Armee unter falscher Flagge mit Artillerie beschoss. Vor der internationalen Öffentlichkeit und im Umgang mit der finnischen Regierung behauptete Molotow, es habe sich um finnischen Artilleriebeschuss gehandelt, dem zudem sowjetisches Armeepersonal zum Opfer gefallen sei.

    Mit einem gänzlich inszenierten, aber propagandistisch nutzbaren Casus belli ausgestattet, erfolgte am 29. der Abbruch der diplomatischen Beziehungen und in den Morgenstunden des 30. November schließlich die großangelegte sowjetische Invasion auf einer Frontlänge vom Finnischen Meerbusen bis Petsamo im äußersten Norden. Im Laufe des Vormittags bombardierte die sowjetische Luftwaffe Industriezentren wie Viipuri, den Turkuer Hafen, das Wasserkraftwerk bei Imatra, eine Gasmaskenfabrik in Lahti und die Hauptstadt Helsinki. Beim ersten Luftangriff des Krieges auf Helsinki starben 91 Zivilisten. Der Krieg hatte zumindest der sowjetischen Planung gemäß begonnen.

    In Reaktion auf die sowjetische Offensive war das finnische Vorkriegskabinett zurückgetreten und am 1. Dezember durch eine Koalitionsregierung ersetzt worden, um der Krise zu begegnen. Als Ministerpräsident war der Präsident der finnischen Zentralbank, Risto Ryti, eingesetzt worden, als Außenminister der einflussreiche Chef der finnischen Sozialdemokraten, Väinö Tanner. Die Regierung in Helsinki bemühte sich in den ersten Stunden und Tagen verzweifelt um die Wiedereinhegung des Konflikts. Wie vergeblich indes die Hoffnung war, die Sowjetunion von der einmal aufgenommenen Invasion abzubringen und auf die Wiederbelebung der bilateralen oder auch multilateral vermittelten Diplomatie zu verpflichten, wurde durch das politische Handeln Stalins und Molotows zunehmend deutlich. In der grenznahen Ortschaft Terijoki, die die Rote Armee in den ersten Stunden ihrer Offensive überrannt hatte, etablierte man in der Nacht des 1. Dezember eine Gegenregierung unter Führung des finnischen Exilkommunisten Otto Kuusinen – eine rein zu propagandistischen Zwecken ins Leben gerufene Marionette, mit der die sowjetische Führung eine mögliche Sowjetisierung des Landes zumindest nahelegte.

    Die Solidarität anderer Staaten ließ zwar nicht lange auf sich warten, brach aber immer dann ab, wenn eine aktive Teilnahme am Krieg gegen die UdSSR zu befürchten war

    Als besonders bitter erwies es sich in der finnischen Perspektive, dass das Land größtenteils auf sich alleine gestellt war. Die Solidarität anderer Staaten ließ zwar nicht lange auf sich warten, brach aber immer dann ab, wenn eine aktive Teilnahme am Krieg gegen die UdSSR zu befürchten war. So lieferten ideologisch ganz verschieden ausgerichtete Staaten wie das faschistische Italien, die westalliierten Verbündeten Frankreich und Großbritannien und das formal neutrale Schweden schwere Waffen, moderne Kampfflugzeuge oder – im Falle Schwedens, Dänemarks und Norwegens – ein Kontingent von ungefähr 9000 Freiwilligen, die als eigene Brigade ab Ende Februar 1940 im Norden der finnischen Ostfront zum Einsatz kamen. Das Deutsche Reich, das von vielen als de facto Schutzmacht des finnischen Staates wahrgenommen wurde, verhielt sich dagegen so pro-sowjetisch neutral, dass die Finnen zunächst konsterniert und schließlich voller Entrüstung über die deutsche Haltung waren. Eines konnte man der ansonsten düsteren Situation in Helsinki abgewinnen: Während der mit dem deutschen Angriff auf Polen entfesselte Krieg auf dem Kontinent nach wenigen Wochen zu einem passiven Sitzkrieg geworden war, genoss der finnische Kriegsschauplatz die ungeteilte Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit und die zunehmenden Abwehrerfolge der finnischen Armee international leidenschaftliche Anteilnahme. Vor diesem Hintergrund schloss der seit Jahren ohnmächtig vor sich hintreibende Völkerbund in seiner letzten öffentlich vernehmbaren Entscheidung am 14. Dezember 1939 die UdSSR aus seinen Reihen aus. Dabei freilich blieb es.

    Kollage © dekoder.org

    Der sowjetische Krieg gegen Finnland zerfällt in zwei grobe Phasen und zwei voneinander abgrenzbare Kriegsschauplätze und operative Dimensionen.

    Dezember 1939: Karelische Landenge

    Bereits nach wenigen Wochen, im Grunde bereits ab Mitte Dezember, begann sich abzuzeichnen, dass die sowjetische Offensive in sämtlichen Bereichen nicht nach Plan verlief.

    Bereits ab Mitte Dezember zeichnete sich ab, dass die sowjetische Offensive nicht nach Plan verlief

    Der einsetzende Winter ließ die Truppe an den Frontabschnitten um den Ladogasee, also die 7. Armee auf der Landenge und die 8. gleich nördlich des Ladoga, gravierend ins Stocken geraten. Finnische Minenfelder und die im hinhaltend zähen Abwehrkampf befindlichen finnischen Vorfeldtruppen taten ihr Übriges. Die wachsende Nervosität des sowjetischen Oberkommandos und nicht zuletzt der betroffenen Armeegeneralstäbe wurde bereits nach wenigen Tagen deutlich, als ein Kommandeur nach dem nächsten von seinem Kommando entbunden wurde.

    Ab dem 6. Dezember trafen die ersten sowjetischen Truppen auf die Mannerheim-Linie, ohne diese, wie in Merezkows ambitionierter operativer Planung vorgesehen, überwinden zu können. Merezkow ordnete wiederholt den Durchbruch der Verteidigungsanlagen an unterschiedlichen Frontabschnitten an, scheiterte jedoch an einer Vielzahl von Faktoren. Zum einen setzte Ende November äußerst starker Schneefall in einem ohnehin schwer durchdringlichen Waldgelände ein, was die Operationen der Roten Armee an das von den Finnen leichter kontrollierbare Straßen- und Wegenetz band. Zum anderen war es die mangelnde Orientierung über die existierenden Verteidigungsanlagen wie die Feindlage insgesamt.

    Dem militärischen Widerstand gelang es, die sowjetischen Truppen mit äußerst flexiblen Mitteln abzuwehren. Hierzu gehörten auch aus der Not geborene, improvisierte Mittel zur Panzerbekämpfung – „Molotow-Cocktails“ / Bild © CC BY 4.0 / SA-kuva

    Dem militärischen Widerstand auf der Landenge gelang es, die sowjetischen Truppen weitestgehend isoliert zu bekämpfen und diese mit äußerst flexiblen Mitteln abzuwehren. Hierzu gehörten auch die aus der Not geborene Entwicklung von improvisierten Mitteln zur Panzerbekämpfung, den sogenannten und rasch mythisch gewordenen „Molotow-Cocktails“. Die von Merezkow ein ums andere Mal befohlenen direkten Angriffe auf finnische Verteidigungsanlagen, sogenannte „menschliche Wellen“ (oder „Infanteriewellen“), wie man sie aus den Grabenkämpfen des Ersten Weltkriegs kannte, demoralisierten die ohnehin erschöpften sowjetischen Einheiten noch zusätzlich. Die Mannerheim-Linie blieb somit bis zum Jahreswechsel undurchbrochen – und dies, ohne dass die finnische Armee auf die eigenen, wenn auch beschränkten Reserven im Hinterland überhaupt zurückgreifen musste.

    Dezember 1939: Nördlich des Ladogasees

    Schlimmer noch erging es den sowjetischen Truppen nördlich des Ladogasees. Diese waren im Schneetreiben, bei schlecht passierbaren Straßen oder gar in Abwesenheit eines Straßennetzes und bei Temperaturen von –35 Grad Celsius einer finnischen Guerilla-Taktik ausgesetzt. Exemplarisch wurde dies bereits mit dem ersten offensiven Erfolg von finnischer Seite deutlich: In der Schlacht am Tolvajärvi ab dem 12. Dezember, einem zugefrorenen Seengebiet, rieben zahlenmäßig weit unterlegene, aber flexibel im hohen Schnee und bei Dunkelheit operierende finnische Truppen beinahe die gesamte 139. Schützendivision der Roten Armee auf und drängten in den sich anschließenden Wochen weitere beteiligte Divisionen der 8. Armee zurück und hielten damit das Terrain.

    Sowjetische Truppen waren im Schneetreiben, bei schlecht passierbaren Straßen oder gar in Abwesenheit eines Straßennetzes und bei Temperaturen von –35 Grad Celsius einer finnischen Guerilla-Taktik ausgesetzt

    Ähnliches vollzog sich nun in dichter Folge nördlich davon: Die finnischen Verbände erlaubten den sowjetischen Invasoren zwar teilweise beträchtliche Geländegewinne im Grenzbereich, schnitten die vorgedrungenen Rotarmisten dann jedoch ein ums andere Mal von etwaigem Nachschub und Rückzugsmöglichkeiten ab, um sie anschließend systematisch einzukesseln und in der gefrorenen und im Winter ewig dunkel erscheinenden Hölle Nordfinnlands teilweise vollständig aufzureiben.

    Als symptomatisch erwies sich die sich über mehrere Wochen ziehende Schlacht von Suomussalmi, in der es den finnischen Truppen gelang, den von sowjetischer Seite beabsichtigten Durchbruch auf die Küstenstadt Oulu am Bottnischen Meerbusen zu verhindern. Die zur 9. Armee gehörende 163. Schützendivision und die sie begleitende 44. Motorisierte Schützendivision – insgesamt ca. 36.000 Mann – waren schlecht auf die klimatischen Bedingungen eingestellt und verfügten weder über Wintertarnkleidung noch über Skier. Die finnischen Kräfte, die zu keinem Zeitpunkt Divisionsstärke erreichten, operierten dagegen durchweg auf Skiern und griffen in höchst unorthodoxer Form Schwachpunkte der unbeweglichen und auf das Straßennetz angewiesenen sowjetischen Verbände an. Mit besonderer Vorliebe griffen sie Feldküchen an, was die betroffenen, von jedweder Versorgung abgeschnittenen Rotarmisten noch zusätzlich demoralisierte. Als die feindlichen Verbände mürbe gemacht waren, gingen die finnischen Truppen – bei Dunkelheit und in der Schneelandschaft gut getarnt – zum Gegenangriff über, isolierten Truppenteile der 163. und 44. Division und kesselten diese ein. Finnischen Verlusten von ca. 2700 Soldaten standen mit Abschluss der Kämpfe um Suomussalmi beinahe 30.000 getötete, verletzte oder kriegsgefangene sowjetische Soldaten.

    Finnischen Verlusten von ca. 2700 Soldaten standen mit Abschluss der Kämpfe um Suomussalmi beinahe 30.000 getötete, verletzte oder kriegsgefangene sowjetische Soldaten gegenüber

    Aus der angedachten Blitzoperation gegen einen unterlegenen Feind drohte mit Anfang des Jahres 1940 ein sich ziehender Krieg zu werden, der Unmengen an Menschen, Material und Ressourcen zu verschlingen drohte und der zudem auf die internationale Politik einzuwirken begann. Schonungslos bilanzierte der Stabschef der 9. Armee, in deren Zuständigkeitsbereich das militärische Desaster von Suomussalmi ebenso fiel wie jenes von Kuhmo, dem sowjetischen Verteidigungskommissar Kliment Woroschilow gegenüber: „Unsere Einheiten sind wegen ihrer Organisation und reichen technischen Ausstattung, besonders mit Artillerie und Transportmitteln, unfähig, auf dem Kriegsschauplatz zu manövrieren. Sie sind schwerfällig und in vielen Fällen an die Technik gefesselt, die nur entlang der Straßen bewegt werden kann. […] das Vorgehen unter außergewöhnlichen Umständen ist nicht geübt worden – die Truppe hat Angst vor dem Wald und benutzt keine Skier.“

    Januar 1940: Sowjetische Adaptionsversuche

    Auch Stalin hatte die gravierenden strukturellen, organisatorischen, personellen und nicht zuletzt taktisch-operativen Mängel seines Angriffskriegs gegen Finnland erkannt. Der Kommandeur der 44. Motorisierten Schützendivision, Alexej Winogradow, wurde nach seinem unglücklichen Agieren in der Schlacht von Suomussalmi am 11. Januar 1940 mit seinem Stab kurzerhand exekutiert. Als Oberbefehlshaber der finnischen Front musste Merezkow weichen, wurde aber weiterhin als Kommandeur der 7. Armee auf der Karelischen Landenge eingesetzt.

    Die im Rahmen der Neuaufstellung der sowjetischen Truppen eingerichtete Nordwestfront übernahm Anfang Januar mit Semjon Timoschenko ein routinierter Kommandeur, der im Polenfeldzug bereits die Ukrainische Front befehligt hatte. Zugleich wurde der Oblast Leningrad die taktisch-operative Federführung entzogen. In Absetzung von Merezkows umfassender Invasion auf breitestmöglicher Front bemühte sich Timoschenko über die Hinzuziehung einer weiteren Armee – der 13. – eine massive Truppen- und Artilleriekonzentration auf der Karelischen Landenge herbeizuführen und solcherart den Durchbruch durch die Mannerheim-Linie brachial zu erzwingen. Die für den Januar vorgesehene erneuerte Offensive fußte ganz offensichtlich auf den ernüchternden Erfahrungen der Roten Armee aus dem Vormonat. Die diagnostizierten Defizite in einer Reihe von sensiblen Bereichen bemühte man sich über die Bereitstellung zusätzlicher Material- und Personalressourcen und nicht zuletzt mittels beschleunigter militärischer Schulungen zu beseitigen.

    Die auf diesen neuen Grundlagen entwickelte Operationsplanung wurde ab Mitte Januar in nahezu exemplarischer Form umgesetzt. Verstärkt um die frisch zusammengezogenen Kräfte der 13. Armee umfassten die vor der Mannerheim-Linie konzentrierten sowjetischen Truppen ca. 460.000 Soldaten, 3350 Artilleriegeschütze, 3000 Panzer und 1300 Flugzeuge. Entgegen kam der UdSSR dabei zweifelsohne der zunehmende Erschöpfungsgrad der finnischen Armee auf der Landenge, die durch die Zuführung von Reserven inzwischen auf acht Divisionen und ca. 150.000 Mann angewachsen war. Dies konnte nicht über das prinzipielle militärische Ungleichgewicht hinwegtäuschen, dessen Auswirkungen erst nach dem Jahreswechsel voll zum Tragen kamen.

    Februar 1940: Kehrtwende auf der Karelischen Landenge

    Mitte Januar setzte die fundamental revidierte Operationsplanung Timoschenkos massiert ein: In einem ersten, sich über zwei Wochen ziehenden Dauerbeschuss klopfte die sowjetische Artillerie das finnische Verteidigungssystem weich. Mit dem 1. Februar gingen die ersten fünf Divisionen der massierten Bodentruppen zum Angriff über, unterstützt von intensiver Luftwaffenakitivität und fortgesetztem Artilleriefeuer. Am 11. Februar übersetzte sich dies in den Generalangriff auf den Frontabschnitten der Landenge. Zeitgleich gelang an einigen sensiblen Stellen der erste Durchbruch durch die vorderste Befestigungslinie, was Mannerheim trotz verzweifeltem Gegenhalten und sporadischen Entlastungsoffensiven zwang, die finnische Front auf die mittleren Stellungen des Systems zurückzuziehen. Gut eine Woche später mussten auch diese aufgegeben werden und am 25. Februar schließlich erfolgte der letzte für die Sowjettruppen erforderliche Durchbruch durch das rückwärtige Befestigungssystem.

    Die Mannerheim-Linie war damit gefallen und den verbliebenen finnischen Streitkräften blieb nur der Rückzug auf Viipuri. Mit dem 1. März war auch die Stadt gänzlich eingeschlossen. Am Tag des Inkrafttretens des Moskauer Friedens, dem 13. März 1940, hielten finnische Verbände zwar ungebrochen Teile Wyborgs; das Zentrum der Stadt befand sich zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits in sowjetischer Hand.

    Kollage © dekoder.org

    Die militärische Entscheidung auf der Karelischen Landenge ließ der finnischen Regierung keine andere Wahl, als um einen Waffenstillstand zu bitten.

    Stalin war in dieser Hinsicht umso rezeptiver geworden, je mehr die internationale Politik sich zuungunsten der UdSSR zu verschieben begann. Die Westalliierten hatten ab Januar prinzipiell Bereitschaft signalisiert, Finnland, das bis dahin international isolierte war, nicht nur mit Waffen zu versorgen. Man wollte gegebenenfalls auch mit einem umfänglichen Expeditionskorps in den Krieg eingreifen. Eine solche Eskalation, die in London und Paris auch übergeordneten strategischen Erwägungen geschuldet war, wollte Stalin um jeden Preis vermeiden, auch weil sie Nordeuropa – und damit das geostrategische Hinterland der UdSSR – zu einem dezidierten Schauplatz des Großmächtekriegs gemacht hätte.

    Vor allem Mannerheims illusionslose Analyse der zunehmend kritischen Lage überzeugte die Regierung in Helsinki: Man könne mit etwaigen Zusagen von westalliierter Seite oder einem allgemeinen Umschwung in der internationalen Politik nicht rechnen und der Krieg müsse ein umgehendes Ende finden. Während Stalin sich bereits der Marionettenregierung Kuusinen entledigt hatte, um die Wiederaufnahme von bilateralen Verhandlungen überhaupt erst zu ermöglichen, entsandte Helsinki seinen russlandpolitischen Routinier Paasikivi zu geheimen Sondierungen nach Moskau. Deren Ergebnis, fixiert im Moskauer Frieden vom 12. März 1940, lag in finnischer Sicht zwar weit jenseits der ursprünglichen Moskauer Forderungen, spiegelte aber den Geist und Gehalt der ursprünglichen Verhandlungen.

    Das kleine Land sah sich gezwungen, weite Teile (Finnisch-)Kareliens an die UdSSR abzutreten. Dieser Verlust erwies sich für die finnische Seite nicht nur als schmerzhaft, weil mit ihm auch die alte Provinzhauptstadt Wyborg/Viipuri, eines der zentralen Industriezentren des Landes und – mit fast 75.000 Einwohnern – die zweitgrößte Stadt sowjetisch wurde, sondern auch ein Landstrich, in dem sich in der finnischen Mythologie der eigentliche Kern der eigenen Nationsbildung verdichtete (und ungebrochen verdichtet). Zu diesem schwersten Verlust kamen weitere Territorialkonzessionen, so der östliche Teil der Region Salla, die Fischerhalbinsel im äußersten Nordosten des Landes und einige kleinere, aber strategisch bedeutsame Inseln im Finnischen Meerbusen. Diese Abtretungen, ungefähr neun Prozent der Landesfläche, machten die Evakuierung von mehr als 400.000 Menschen notwendig, circa zwölf Prozent der Gesamtbevölkerung. Darüber hinaus sah die finnische Führung sich gezwungen, die Halbinsel Hanko/Hangö südwestlich von Helsinki als Marinebasis auf dreißig Jahre an die UdSSR zu verpachten und damit eine erhebliche Einschränkung der Souveränität des Landes hinzunehmen.

    Die Nachricht vom Moskauer Frieden im finnischen Radio stieß auf blankes Entsetzen

    Als das finnische Radio am 13. März 1940 um 11 Uhr den Moskauer Frieden verkündete, stieß diese Nachricht auf blankes Entsetzen. Eine regelrechte Schockwelle durchzog die finnische Öffentlichkeit, Trauerbeflaggung wurde verordnet, Menschen kamen zusammen, um angesichts eines allumfassenden Verlustempfindens Trost in der Gemeinschaft zu finden. Der finnische Staatspräsident Kyösti Kallio hatte noch am Vortag jene kollektiv empfundene Melange aus Trauer, Empörung und Resignation zum Ausdruck gebracht, als er angesichts der Moskauer Friedensbedingungen das alte Bild bemühte, das auch dem deutschen Reichskanzler Philipp Scheidemann angesichts des Versailler Friedens gekommen war: „Möge meine Hand verdorren, die gezwungen ist, ein derartiges Papier zu unterschreiben.“

    Das Entsetzen im Land, sich schließlich doch beugen zu müssen, ging in großem Maße auf die mangelnde Kenntnis der krisenhaften Kriegslage zurück. Bis in den März war man in weiten Teilen der finnischen Öffentlichkeit davon ausgegangen, der Sowjetunion erfolgreich widerstanden zu haben und diesen Widerstand fortsetzen zu können. Zudem wirkte sich auf die kollektive Psyche erschwerend aus, dass sämtliche nun abzutretenden Gebiete ungebrochen von finnischen Truppen gehalten wurden – und selbst Viipuri sah sich erst seit Ende Februar ersten sowjetischen Offensiven ausgesetzt und schien nicht gänzlich erobert.

    Die nüchterne Bilanz des Krieges deutet die Intensität der Auseinandersetzung an und veranschaulicht, wie teuer sich das kleine Finnland um den Jahreswechsel 1939/40 verkaufte: Ungefähr 26.500 Kriegstote und ca. 43.500 Verwundete sowie 957 durch Luftangriffe getötete Zivilisten waren auf finnischer Seite zu verzeichnen – dem stehen sowjetische Verluste in unvorstellbaren Proportionen gegenüber. Auf exakte Einschätzung kann sich die sowjetische Forschung selbst heute noch nicht einigen. Konservativ schätzen russische Historiker die Anzahl der Toten auf Seiten der Roten Armee im Winterkrieg auf mindestens 127.000. Realistischer erscheinen aber jüngere Schätzungen von bis zu 168.000 Gefallenen, die auf Grundlage neuen Quellenmaterials zustande gekommen sind. Hinzu kommen zwischen 188.000 und 208.000 Verwundete. Bei einer Gesamtzahl von etwa einer Millionen Rotarmisten, die im Verlauf des Winterkriegs an der finnischen Front eingesetzt wurden, hieße dies, dass etwa jeder dritte sowjetische Soldat entweder dort gefallen oder verwundet worden ist. Noch deutlicher wird die Dimension der sowjetischen Verluste im Ausrüstungsbereich: Während sich die finnischen Verluste auf 20 bis 30 Panzer und 62 Flugzeuge belaufen, geht die jüngere Forschung für die UdSSR von 3554 vernichteten Panzern und bis zu tausend abgeschossenen Flugzeugen aus. Für einen im Kern lokalen Krieg dürfte der Winterkrieg auch in diesem Bereich wenige Parallelen haben.

    Der Winterkrieg war bereits in der damaligen Wahrnehmung das zentrale historische Ereignis, das Zentrum des nationalen Selbstverständnisses für Finnland – und ist dies mit unverminderter Stärke auch heute noch. Der Krieg erfüllt dabei gleich drei Maßgaben in einem, die in ihrer Funktion schwer voneinander abzugrenzen sind:

    Erstens, eine geschichtspolitische Maßgabe als – völkerrechtlich legitimer – Verteidigungskrieg par excellence, in dem „die Rollen zwischen gut und böse, zwischen Opfer und Täter, zwischen Verteidiger und Angreifer […] klar verteilt“3 waren (und es auch weiterhin sind).

    Zweitens, eine erinnerungskulturelle Maßgabe als kollektiver Heldenepos, getragen von einer Flut individueller autobiographischer Heldenepen; und schließlich

    drittens und damit engstens verknüpft eine national-identitäre Maßgabe, in der sich die Überwindung des durch den Bürgerkrieg von 1918 verursachten innergesellschaftlichen Traumas und die Genese eines mit sich selbst ausgesöhnten Staatsvolkes endgültig zu vollziehen scheinen.

    „Talvisodan henki“ – „Geist des Winterkrieges“, ist in der populären Erinnerungskultur Finnlands die Existenz von Land und Volk geschuldet / Foto © CC BY 4.0 / SA-Kuva

    Der gute Geist

    „Talvisodan henki“ ist der vom finnischen „Sisu“ beseelte Geist des Winterkrieges. Ihm ist in der populären Erinnerungskultur Finnlands die Existenz von Land und Volk geschuldet. Der vermeintlich genuin finnische Begriff „Sisu“ – im Deutschen etwa Kraft, Zähigkeit, Ausdauer sowie Unnachgiebigkeit (und das alles in einem) – bekommt erst mit dem Winterkrieg seine internationale Popularität als sinnbildliche Verdichtung des finnischen Wesens. Als militärischer Mythos, genährt von der zähen Kampfkraft der hoffnungslos unterlegenen finnischen Streitkräfte, dem erwähnten „Sisu“, taugt das wesentliche Narrativ des Winterkriegs noch immer. In dieser Meistererzählung begegnet uns Finnland dabei zwar auch als Opfer der Politik der Großmächte, in erster Linie jedoch als sich und seine staatliche Existenz tätig und – so wird behauptet – erfolgreich verteidigender Kleinstaat, als buchstäblich „wehrhafte Demokratie“.

    Die erinnerungskulturelle Unangefochtenheit unterscheidet den Winterkrieg fundamental von dem geschichtspolitisch bewusst an ihn geknüpften „Fortsetzungskrieg“, also jenem Angriffskrieg, in dem Finnland von Juni 1941 bis September 1944 an der Seite des „Dritten Reiches“ kämpfte. Die Militärkoalition mit dem nationalsozialistischen Deutschland war dabei bereits damals umstritten und ist dies – bei aller gesättigten historischen Forschung – im kollektiven Gedächtnis des Landes bis heute geblieben.

    Die existentielle Bedeutung des Winterkriegs für das finnische Selbstverständnis und das gleichsam vollständige Verschwinden des Krieges aus dem öffentlichen Geschichtsbewusstsein in der UdSSR und Russland stehen sich diametral gegenüber

    Die existentielle Bedeutung des Winterkriegs für das finnische Selbstverständnis und das gleichsam vollständige Verschwinden des Krieges aus dem öffentlichen Geschichtsbewusstsein in der UdSSR und – seit 1991 – in Russland stehen sich diametral gegenüber. Bis in die 1980er Jahre schien die sowjetische Erfahrung des Winterkriegs erdrückt zu sein vom vergangenheitspolitischen Gewicht des Großen Vaterländischen Krieges, das das Bündnis mit dem nationalsozialistischen Deutschland am Anfang des Zweiten Weltkriegs weitgehend aus der Erinnerung verdrängt hat. Auch die Existenz eines offensichtlich völkerrechtswidrigen Angriffskrieges in der öffentlichen Erinnerungskultur erschien im Grunde tabuisiert. Selbst heute begegnet einem der Krieg bestenfalls als Gegenstand spezialisierter historischer Forschung, ohne dass ihm eine wie auch immer geartete öffentliche Rolle zukommt.

    „Finland survived“, so der Titel der klassisch gewordenen Diplomatiegeschichte des Winterkriegs des großen finnischen Diplomaten Max Jakobson. Daneben setzten Prozesse des kollektivpsychologischen und politischen Lernens ein sowie Transformationen der (nord-)europäischen Ordnung. Diese spülten das Land zunächst an die Seite des nationalsozialistischen Deutschlands, um es schließlich in der Nachkriegszeit erneut an die UdSSR heranzuführen. Die ebenfalls mit Paasikivi eng verknüpfte Selbst-Neutralisierung, die zugleich die staatliche Eigenständigkeit des Landes behauptete, war geboren.

    Doch auch die Sowjetunion bezog einiges aus ihrem beinahe gescheiterten Versuch, den kleinen Nachbarn zu unterwerfen: Während die Rote Armee für Hitler und den deutschen Generalstab im Vorlauf zum Unternehmen „Barbarossa“ bestenfalls ein „tönerner Koloss ohne Kopf“, oder „Popanz“ war, setzte die Stawka, das Oberkommando der Roten Armee, ihre bereits angestoßene Analyse der Erfahrungen des Finnischen Krieges systematisch fort. Sie schuf damit die Grundlagen für den letztlich erfolgreichen Abwehrkampf gegen das nationalsozialistische Deutschland und dessen Militärkoalition, in der Finnland als nordöstlicher Flankenmacht eine tragende Funktion zukam. Mit dem als Niederlage empfundenen Krieg ging somit militärstrategisch gesehen ein fundamentaler Wandel einher. In dem scheint die Quintessenz der sowjetischen Verteidigungsanstrengungen der Folgejahre bereits verdichtet angelegt.


    Fußnoten

    Eine wesentlich umfangreichere, mit Literatur- und Quellenbelegen ausgestattete Fassung dieser Gnose wird im Laufe des Jahres 2023 in der Zeitschrift Osteuropa erscheinen.

    Paasikivi, J. K. (1958): Toimintani Moskovassa ja Suomessa 1939-41, Bd. 1: Talvisota, Helsinki, S. 4

    Zit nach: Wegner, Bernd (2009): Selbstverteidigung, Befreiung, Eroberung? Die finnische Historiographie und der Zweite Weltkrieg, in: Robert Bohn/ Christoph Cornelissen/ Karl Christian Lammers (Hg.): Vergangenheitspolitik, S. 155

    Text: Michael Jonas
    Veröffentlicht: 13.03.2023