Leben im Umbruch – (post)sowjetische Tagebücher aus dem Winter 1991/92
Im Winter 1991/92 brechen die letzten Tage der Sowjetunion an. Alte Gewissheiten lösen sich auf, neue Möglichkeiten erscheinen am Horizont. Das Alte ist noch nicht vergangen, und das Neue hat noch keine Form angenommen. Was bedeutet dieser grundlegende Wandel für die Menschen? In ihren Tagebüchern halten sie Alltagserfahrungen und Sorgen fest, aber auch ihre Erwartungen an die Zukunft. Die Tagebücher dienen ihnen als private Chroniken in diesen turbulenten Zeiten. Sie sollen der eigenen Biographie angesichts des Zusammenbruchs der alten Ordnung Sinn verleihen.
Die wirtschaftliche und soziale Krise des „Krachs“ lässt niemanden unberührt, doch individuelle Strategien im Umgang mit der Zeitenwende unterscheiden sich fundamental voneinander. Enttäuschungen über den Untergang des Imperiums stehen neben Hoffnungen auf künftige Karrieren; mancher beklagt den Verlust von Orientierung und Führung, während andere Halt im Glauben finden. Hier stehen solch unterschiedliche Perspektiven nebeneinander. Gemeinsam ergeben sie eine vielstimmige Erzählung vom Ende der Sowjetunion und des – vielfach beklommenen – Aufbruchs in ein neues Jahrzehnt.
Mehr als dreißig Jahre später sind die letzten Spuren dieses Aufbruchs verflogen – und mit ihnen stehen auch all unsere Annahmen über die Geschichte des post-sowjetischen Raumes auf dem Prüfstand. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine zwingt uns, über Entwicklungen, Brüche und Kontinuitäten neu nachzudenken. Individuellen Erzählungen aus der zerfallenden Sowjetunion kommt dabei besondere Bedeutung zu: Sie erlauben Einblicke in ein Leben im Umbruch, dessen Ende nicht absehbar ist.
Es sind Auszüge aus Tagebüchern, die auf der Seite von prozhito.org in russischer Sprache veröffentlicht sind. Auswahl, Übersetzung und Redaktion der Beiträge übernahm eine studentische Arbeitsgruppe ↓ am Osteuropa-Institut an der Freien Universität Berlin.
1991 wird zum letzten Mal in der sowjetischen Geschichte am 7. November der Tag der Oktoberrevolution begangen. Am Vorabend des Feiertags zieht der 77-jährige Kommunist Sot Rylow, ein pensionierter Funktionär, eine vernichtende Bilanz der sowjetischen Geschichte – und damit auch seiner eigenen Biographie:
„Ich will das alles nicht glauben, was vor sich geht. Alles steuert auf eine Rückkehr zum Kapitalismus hin. Es scheint, dass unser Leben umsonst war: Wir wurden im Kapitalismus geboren und werden offenbar im Kapitalismus sterben müssen. Wozu dann die zig Millionen von menschlichen Opfern?
Wir wurden im Kapitalismus geboren und werden offenbar im Kapitalismus sterben müssen
Ich für mich habe beschlossen, keiner Partei mehr beizutreten. Überhaupt scheint mir, wir sollten ein Leben ganz ohne Parteien aufbauen. Wir sollten einen Rechtsstaat aufbauen, der sich auf ein demokratisch gewähltes Volksparlament und die Schaffung von Institutionen für eine optimale zukunftsorientierte Politik und gesellschaftliche Entwicklung stützt, welche vom Volksparlament mit großer Transparenz diskutiert und verabschiedet werden.
[…] Mein Gemütszustand ist angesichts all der Unruhen und dem Chaos im Lande so, dass man sich manchmal einfach nur noch gehen lassen möchte.“
In Kasan registriert ein unter dem Pseudonym „Wetkin“ schreibender Tagebuchautor im Spätherbst 1991 die unübersichtliche Situation im Lande. Sorgen bereitet ihm die stetig schlechter werdende Versorgungslage.
„Das Leben wird mit jedem Tag schwerer. De facto existiert die Sowjetunion noch innerhalb ihrer Grenzen, praktisch ist die Staatsmacht aber an vielen Orten katastrophal geschwächt. Jede lokale Administration gehorcht zwar formal noch den Anweisungen des Zentrums, verfolgt aber ihre eigene Linie […]. Beispielsweise wurde in Tschetschenien–Inguschetien das Kriegsrecht abgeschafft, während es in manchen Regionen in Eigenregie verhängt wurde. Vor kurzem hat die Region Irkutsk beschlossen, eine Republik auszurufen.“
An Wurst und Torten kann ich mich nicht mal mehr erinnern
„Ich war im Kaufhaus. Ein schrecklicher Anblick – leere Regale, in denen in regelmäßigen Abständen 3-Liter-Gläser mit eingelegten Tomaten stehen. Es gibt keine Butter, keine Milch, keine Kekse, kein Obst. […] An Wurst und Torten kann ich mich nicht mal mehr erinnern.“
In den Metropolen spitzt sich die Situation so zu, dass auch Kinder unmittelbar davon betroffen sind. Deutlich wird dies in den Aufzeichnungen des zehnjährigen Moskauer Schülers Andrej Basulin.
„Am Mittwoch erhielten wir humanitäre Hilfe in Form von 13 Konservendosen Fleischwurst. In der Schule läuft es gut.“
In der Kleinstadt Staraja Russa beobachtet der 29-jährige Biologielehrer Igor Owsjannikow, wie die Wirtschaftskrise die Menschen in seiner Umgebung vereinnahmt und verändert:
„Aber jetzt … aber jetzt wird das Leben immer lustiger: Die Preise schießen schneller als Raketen in die Höhe, die Einkommen sinken rapide, nur die Geschäftsleute aus der Sowok-Wirtschaft werden reicher. In den Läden – gähnende Leere, die Zukunft – nebulös, aber das Wichtigste: Die Leute werden roh, roh und furchtbar zornig. Die Menschen werden wild und können über nichts anderes mehr reden als Geld, Zeug, Waren, Klamotten, Auslandsreisen, Preise – und immer wieder Geld, Geld, Geld … Langweilig, langweilig und furchtbar!“
Die Ingenieurin Natalja Sajapowa ist 1991 Mitte 40. Sie erlebt den Zusammenbruch der Sowjetunion als Selbstversorgerin in einem sibirischen Dorf in der Region Kurgan. Harte Arbeit und ein zupackender Optimismus sind ihre Strategien, sich im Wandel zu behaupten.
„Im Land ist die Lage natürlich schlecht. Die Läden sind leer. Und ehe man sie bezahlt hat, sind die Strumpfhosen schon vergriffen. Naja, uns geht es ja noch ganz gut – das Häuschen im Dorf hilft uns. Ich habe meine nicht ganz so geschickten Hände, meine zwei nicht ganz so flinken Füße und meinen Kopf, der versucht, nicht darüber nachzudenken.“
Naja, uns geht es ja noch ganz gut – das Häuschen im Dorf hilft uns
„Aus den Läden sind die wichtigsten Waren und Lebensmittel verschwunden. Ich rannte, wer weiß wohin, um Sonnenblumenöl zu bekommen. Dieses Öl war dunkelbraun und roch nach Rauch. Die Leute sagten, es sei verbrannt. Also Abfall. So etwas gab es unter den Sowjets nicht. Aber besser als nichts. Wir haben uns auch darüber gefreut. Und überall wurden grüne Kaffeebohnen verkauft. Wladik hat gelernt, wie man sie röstet und wir schlürfen dieses rustikale Getränk kannenweise.“
Anders begegnet der 1944 im ukrainischen Charkiw geborene Wassili Jerschow den Veränderungen. Politischer Aktivismus und radikale Positionen sind ihm fremd. Der in Krasnojarsk lebende Pilot und Autor zieht sich ins Private zurück und weiß doch, wie fragil seine Lage eigentlich ist.
„Sie rennen ins Ausland, nach Übersee, diese übereifrigen Demok-ratten, diese Helden der Meetings, sie rennen und holen sich blaue Flecken an der Betonmauer der Realität; auch diejenigen, die schwächer sind, müde vom Chaos und der Armut rennen davon. Ich habe kein Interesse mitzulaufen. Ich bin ein Kater, ich streune herum, wo ich will, aber ich liebe meinen Platz. Ich brauche keine Palmen, brauche keine Hitze, keine Strände, kein Bier ohne Anstehen, keine Klimaanlagen und andere Annehmlichkeiten der Zivilisation. Ich fühle mich auch in einer Kufaika in Sibirien wohl. Das ist mein Leben, mit dem ich mit tausenden von Trieben und Wurzeln verwachsen bin. Was heißt hier Ausland, verdammt nochmal. Fliegt mit mir, bewundert die Welt – es gibt nichts besseres als mein Heimatland. Ich habe für meine Heimat gearbeitet. Ich habe nicht in Präsidien und Komitees herumgesessen, ich habe gepflügt und gepflügt, meinen eigenen Himmel. Und wenn die Saat aufgeht und mir Erträge bringt, dann keinen oberflächlichen Hurra-Patriotismus, sondern die ruhige und zuversichtliche Liebe zur heimischen Erde – Gott sei Dank.“
Sie rennen ins Ausland, nach Übersee, diese übereifrigen Demok-ratten, diese Helden der Meetings, sie rennen und holen sich blaue Flecken an der Betonmauer der Realität
„Unpopuläre staatliche Maßnahmen sind deshalb unpopulär, weil sie die Massen, die Armen treffen. Sie haben es am schwersten. Ich koche hier in Ruhe mein Gulasch und bemühe mich, nicht daran zu denken, dass es jeden Moment mit meiner Gesundheit bergab gehen könnte und ich mich in die Armee dieser hungrigen und erbosten Menschen einreihen müsste. […]
Ich koche hier in Ruhe mein Gulasch und bemühe mich, nicht daran zu denken, dass es jeden Moment mit meiner Gesundheit bergab gehen könnte und ich mich in die Armee dieser hungrigen und erbosten Menschen einreihen müsste
Ich muss mich an nichts anpassen, ich bin es schon gewohnt. Und deshalb kann ich ganz ruhig ein fettes Stück Fleisch braten. Man lebt ja nur einmal.
Wie geht es weiter? Was passiert an den Rändern des Imperiums? Diese Fragen bewegen nicht nur „Wetkin“, sondern auch die Moskauer Fernsehjournalistin Tatjana Jurjewa. Beide sind Anfang Dezember 1991 skeptisch, ob sich eine Gewalteskalation noch verhindern lässt.
„Die Atmosphäre ist geprägt von Erwartung und Anspannung. Irgendetwas liegt in der Luft, es wird bald krachen! Ich meine nicht Karabach oder Südossetien. Eine globale Umwälzung steht bevor. Das spürt man auch am Tonfall der Nachrichtensprecher.“
„In Georgien sind in letzter Zeit 200 Menschen ums Leben gekommen, aber Gamsachurdia denkt nicht daran zurückzutreten. Bergkarabach, Georgien, Südossetien sind immer noch weit entfernt, aber jeden Moment könnte dieses blutige Chaos auch nach Russland überschwappen. Gestern ist etwas Unglaubliches passiert: Auf der Arbeit haben sie uns Butter zugeteilt! Und danach habe ich ein Hähnchen ergattert, das sich in letzter Zeit von einem Alltagsessen in eine Delikatesse verwandelt hat.“
Jeden Moment könnte dieses blutige Chaos auch nach Russland überschwappen
Doch der Zerfall des Staates und das Ende der alten Ordnung eröffnen auch neue Möglichkeiten. Persönliche Träume, die zuvor nicht realisierbar schienen, rücken nun – scheinbar – in greifbare Nähe.
„Ich trat auf die Straße und konnte es gar nicht fassen. Wird endlich der größte Traum meines Lebens in Erfüllung gehen und ich werde Gesangsunterricht nehmen? Das, was immer unmöglich schien?“
Junge Menschen, wie die in Moskau lebende 17-jährige Studentin der Theaterwissenschaften Jelena Poljuschkina, entwickeln weitreichende Zukunftspläne. In ihren Überlegungen spielt die Krise der Gegenwart schon keine Rolle mehr.
„[…] Wir werden ins Ausland fahren können. Auch wenn das nicht so oft der Fall sein wird, wird jede Reise mit unvergesslichen Eindrücken, neuen Bekanntschaften und künstlerischem Schaffen gefüllt sein.
Ich muss unbedingt Englisch lernen
Mein Traum und Ziel ist es, mein eigenes Unternehmen zu gründen: meinen privaten Verlag, in dem ich Managerin und Literaturkritikerin wäre. Dann würde die Auswahl der Texte und Bücher von mir abhängen. Dann könnte ich junge Talente entdecken und ihre Werke zu günstigen Konditionen drucken. Ich möchte Dependancen in verschiedenen Ländern, Verlage in verschiedenen Sprachen besitzen, damit möglichst viele Menschen an unterschiedlichen Orten weltweit die veröffentlichte Literatur entdecken können. Ich werde in diesem Jahr mein eigenes Business aufbauen und dabei versuchen, mir die theoretischen Grundlagen des Marketings und die psychologischen Aspekte des praktischen Managements anzueignen. Ich muss unbedingt Englisch lernen (das kann man immer gebrauchen: für berufliche Kontakte und für die private Kommunikation) …“
Der Winter des Umbruchs ist auch eine Zeit der Suche nach neuen Orientierungen und Leitbildern. Wie so viele Menschen findet auch die Ingenieurin Natalja Sajapowa Zuflucht in der Religion.
„Das Schlimmste ist, dass alle Anstrengungen auf Bereicherung um jeden Preis abzielen. Ein ziemlich verachtenswerter Traum. Der Mensch braucht nicht viel, aber wir geraten unmerklich in den Sog des Konsums hinein. Anstatt die Energie für „Dampfschiffe, Bauwerke und andere gute Taten“ einzusetzen.
Das Schlimmste ist, dass alle Anstrengungen auf Bereicherung um jeden Preis abzielen
Die Himmelskuppel. Holzstämme. Das ist mein Tempel. Ich bin eine Heidin, nehme ich an. [Aber] Ich kann nicht aufhören über Gottes Schöpfung zu staunen. Groß und weise bist Du, Schöpfer. Über uns lachend, über unseren unvollkommenen, unbeholfenen Verstand, über unsere erbärmlichen Versuche, Dir unterwürfig zu dienen. Über die Enge, in die wir uns zwängen und Dein Geschenk der Freiheit missachten. Wunderschön ist die Welt, die Du erschaffen hast. Sie ist der kostbare Halt der Menschheit.“
So unterschiedlich die Perspektiven der Tagebuchautorinnen und -autoren auf das Leben im Umbruch und ihre Erwartungen an die Zukunft auch sind, sie alle eint die Hoffnung auf stabile Verhältnisse. Doch die Krise hält an. Die 1990er Jahre sind für viele Menschen bestimmt von Unsicherheit und Ungewissheit. Einigen gelingt es, ihre Hoffnungen zu verwirklichen, andere müssen sie begraben. Immer mehr Menschen denken nun darüber nach, was sie mit der Sowjetunion verloren haben. Bereits im Februar 1992 formuliert Natalja Sajapowa in ihrem Tagebuch die Essenz dieser Nostalgie, in deren Zentrum nicht die Sehnsucht nach dem Kommunismus, sondern nach einem verlässlichen Alltag steht: „Ich beginne, die ruhige, satte sozialistische Existenz mit ihrer Gewissheit über den morgigen Tag zu vermissen.“
Über das Projekt
Textauswahl/Übersetzung/Kommentare von Studierenden des Osteuropa-Instituts an der FU Berlin, Seminarleitung Robert Kindler und Vitali Taichrib
- Pauline Foret
- Maria Kireenko
- Anne Lemke
- Nargiz Mahammadivand
- Arthur Molt
- Anna Maria Schulze
- Antonia Skiba
Illustrationen: Bernd Schifferdecker für dekoder
Fotos: Karsten Brüggemann (5); Reinhard Frötschner (3); Katharina Kucher (11); Corinna Kuhr-Korolev (3); Tanja Penter (8); Ina Ruck (2); Wolfgang Sartor (8); Carmen Scheide
in Kooperation mit dem Projekt Bilderinnerungen an die Perestroika, ZZF Potsdam
Chefredaktion: Tamina Kutscher
Übersetzungsredaktion: Friederike Meltendorf
Webdesign und Programmierung: Daniel Marcus
Bildredaktion: Andy Heller
Das Projekt wurde gefördert von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.