Weihnachten ohne Grenzen

Lavon Volski
Text: Lavon VolskiÜbersetzung: Tina Wünschmann21.12.2022

Mit den Staatsgrenzen ist das so eine Sache. Wie soll man sagen? Nun, kurz gesagt, wie ein Staat, so auch seine Grenze. Ist ein Staat friedliebend und freundlich, und ist er umgeben von ebenso sanftmütigen Ländern, dann können die Grenzen rein symbolisch sein. Höchstwahrscheinlich hält dich dort niemand an. Niemand prüft deine Dokumente, stempelt dir den Pass und fragt nach dem Grund deines Besuchs. Das Überqueren einer solchen Grenze ist einfach und angenehm. 

Doch es gibt auf der Welt auch andere Staaten – militaristische, diktatorische. In diesen Staaten preist man den Krieg und den einstigen großen Sieg, man sagt, wir haben einmal den bösen Feind besiegt, und nun erhebt er wieder sein Haupt, will uns wieder erniedrigen und beugen, uns zu Sklaven machen und uns unsere heimische Scholle, getränkt mit (Schweiß) Tränen und Blut wegnehmen! An der Grenze solcher Länder findet man viele Staatsbeamte – Grenzer, Zöllner – mit Pistolen, Maschinengewehren, Elektroschockern, Metalldetektoren und Wachhunden. Die Grenzer schauen dich wachsam durchdringend an, als verdächtigten sie dich, Verbrechen auf dem Territorium ihres Landes zu planen, die Zöllner fragen, ob du nichts Verbotenes mitführst und befehlen dir, die Tasche auszupacken, nur um sicherzugehen, dass darin wirklich nichts Verbotenes ist. Verboten kann in ihrem Land alles Erdenkliche sein – ein Buch, eine Schallplatte, und sogar Socken in der falschen Farbe – zum Beispiel weiß und rot oder gelb und blau. Finden sie bei dir also solche Socken, beginnen sie dich auseinanderzunehmen, als wärst du ein Extremist oder Terrorist, der die rechtmäßig gewählte Regierung ihres Landes stürzen will. Das Überqueren der Grenze eines solchen Landes bedeutet Angst, Sorge und Stress. Man fährt dort besser gar nicht hin. Doch was, wenn man unbedingt dorthin muss?


Unser Held hier musste unbedingt dorthin. Er stand also in der Schlange an der Grenze. Eigentlich stand er nicht, sondern saß hinter dem Steuer seines alten Volvo. Das Auto war alt, und auch unser Held war nicht mehr ganz jung. Er kam aus dem nördlichen Westen, um an den Weihnachtsfeiertagen seine Verwandten zu besuchen. Jedenfalls sagte er das dem Sergeanten, der vor dem Schlagbaum stand und das Kennzeichen des alten Volvo notierte, und, wie es hier üblich war, nach dem Grund des Aufenthaltes fragte.

„Und was für Verwandte haben Sie hier?“, fragte der Sergeant nach.

Mein lieber Junge, ich habe viele Verwandte. Sehr viele.

Der Sergeant war beleidigt. Niemand hatte ihn je „mein lieber Junge“ genannt. Selbst die Mutter rief ihn nie Wasja, sondern stets Wassili. „Wassili, wir müssen los zum Kindergarten“, sagte sie. Oder: „Wassili, dein Vater war ein sehr schlechter Mensch“. Oder: „Wassili, das wirst du mir büßen.“ Oder: „Wassili, du bist die schlichte Kopie deines Vaters!“

Deshalb legte also der Sergeant die Stirn in Falten und fragte streng:

„Viele Verwandte? Sehr viele? Haben Sie vielleicht auch Verwandte in dem Land, das sich soeben im Krieg mit unserem ältesten Bruderland befindet?“

Hier muss man sagen, dass aggressive totalitäre Staaten mit Staaten befreundet sind oder sie gar Brüder nennen, die ebensolche finsteren Gebilde sind, in denen Diktatur und Unterdrückung herrschen. 

„Soll heißen, Sie haben Verwandte in einem Land, wo Faschismus, Zionismus und Nationalismus ihr Haupt erheben?“

„Ich, mein lieber Junge, habe überall Verwandte und gute Freunde.“

„Habe verstanden, alles klar“, fasste der Sergeant zusammen und informierte seinen diensthabenden Vorgesetzten, dass ein verdächtiger Ausländer die Grenze überquert.

Da begannen sie, das Auto dieses Ausländers zu filzen. Sie schauten alles an, im Kofferraum waren viele weiße und rote Dinge! Die Regierung des Landes hatte aber gerade diese beiden Farben verboten. Oh, wie ging es da gleich zur Sache! Ein Spezialstrafverfolgungskommando kam herbei, legte unserem Helden Handschellen an und brachte ihn ins Gefängnis. 

„Was willst du“, fragten sie.

Kommen Sie, um hier eine Revolution anzuzetteln?

„Aber nein, ich komme wegen der Festtage. Wegen Weihnachten.“

„Was meinen Sie? Wegen Neujahr?“

Hier ist anzumerken, dass man in diesem Land Weihnachten offiziell nicht feierte. Also das Fest, das vom 24. auf den 25. Dezember begangen wird. Man feierte nur Neujahr – vom 31. Dezember auf den 1. Januar. 

„Wegen Neujahr auch“, antwortete unser Held. „Aber in erster Linie wegen Weihnachten, diesem zauberhaften, wundervollen Winterfest. It’s the most wonderful time of the year“, zitierte er einen bekannten Weihnachtssong. 

Ah, die Feindessprache spricht er auch noch!

entrüsteten sich die Bestrafer. „Das reicht jetzt! 20 Jahre kriegst du.“

„Schauen wir mal“, antwortete der Ausländer ruhig.

Dann fand er sich in einer kalten Zelle voller anderer Gefangener wieder. Einer war hier wegen eines Kommentars unter einem Post im Internet, ein anderer gerade mal wegen eines Likes, ein dritter wegen eines weiß-rot-weißen Armbands, einen vierten hatten sie ohne Grund auf der Straße geschnappt, das Telefon aus der Hand gerissen und selbst getwittert: „Bullen sind Schweine“. Als hätte er das geschrieben. Und für dieses angebliche Verbrechen waren sie eingebuchtet worden.

Alle zwei Stunden drängten Uniformierte in die Zelle, durchsuchten alle und schnauzten fürchterlich herum. 

„Weshalb sind die alle so böse?“, fragte unser Held nach der nächsten Zellenrazzia seine Mitinsassen.

„Ein normaler, guter Mensch findet sich für diese Arbeit ja nicht“, erhielt er zur Antwort. „Verärgern Sie sie bloß nicht, die können auch zuschlagen.“

„Schauen wir mal“, sagte der Ausländer nachdenklich.  

In der Zelle gab es keine Matratzen, Kopfkissen oder Decken. Alle schliefen auf harten Eisenpritschen oder einfach auf dem kahlen Fußboden. Zwei Menschen waren krank, aber niemand kümmerte sich um sie. 


Eines Morgens dann (es war der Morgen des 24. Dezember) erwachten alle von einem sehr angenehmen Duft. Es roch nach frischem Kaffee! Und all die bedauerlichen Gefangenen merkten plötzlich, dass sie auf weichen Federn und weißen Kissen lagen, zugedeckt mit warmen, leichten Decken. 

„Bitte sehr, Kaffee und Croissants!“ bot unser Held seinen Mitinsassen an. Auf einem Silbertablett standen Tassen mit Kaffee und Tellerchen mit Croissants.

Da drängten bewaffnete Wachleute in die Zelle.

Wer hat das genehmigt? Das ist nicht erlaubt!!!

brüllten die uniformierten Kerle gellend.

„Meine lieben Jungs“, wandte sich unser Ausländer an sie. „Setzt euch ruhig! Es sind genug Croissants und Kaffee für alle da.“

„Ich werd‘ dir gleich … Ich werde …“, richtete ein hochgewachsener Wachmann sein Maschinengewehr auf unseren Helden.

Da bemerkten plötzlich alle, dass sein Maschinengewehr nicht echt war. Eine rote Spielzeugwaffe, wie sie für kleine Kinder produziert wird, damit sie sich von klein auf an Krieg und Armeedienst gewöhnen.

Diesen Wachmann hatte niemand jemals zuvor „mein lieber Junge“ genannt. Der Vater hatte ihn meist „Dummkopf“ gerufen, die Mutter „Kleiner“. Den anderen Wachmann hatte die Mutter „Knirps“ und der Vater „Kind“ gerufen. Der dritte Wachmann erinnerte sich nicht daran, wie seine Eltern ihn genannt hatten. Er erinnerte sich überhaupt nur schlecht an seine Eltern.

Da setzte sich der hochgewachsene Wachmann auf das weiße Federbett und begann laut zu weinen. Die beiden anderen Beamten warfen ihre Wasserpistolen weg und huben ebenfalls zu schluchzen und heulen an. Die Menschen strömten aus ihren Zellen, überall weinten, schluchzten, heulten und winselten die Gefängniswachen. Auch unser Held trat hinaus auf die überfrorene Straße. Sachte rieselte ein leichter Schnee. Der alte Volvo kam herbeigefahren und unser Held setzte sich hinters Steuer.  

Da verwandelte sich das Auto plötzlich in ein riesiges Schlittengespann, ungestüme Elche schlugen ungeduldig mit den Hufen auf die Erde.

„Dachten sie wirklich, dass die Kinder zu Weihnachten keine Geschenke bekommen?“, lächelte der Weihnachtsmann in seinen Bart. „Nein, alle bekommen welche. Die Kinder und auch die Erwachsenen. Jeder, was er verdient.“

Und der Schlitten verschwand im winterlichen Abendhimmel, und mit einem Mal spielten die Polarlichter auf.