Journalistische Texte verändern sich über die Zeit und in Abhängigkeit davon, wo und wie und in welchem Kontext sie erscheinen. Die Reportagen der Novaya Gazeta sind ein Beispiel dafür. Wie macht sich das beim Übersetzen bemerkbar? Irina Bondas begibt sich auf den Weg zwischen Texte, Zeiten und Sprachen.
Wir blieben zwei Wochen in Tschetschenien, konnten uns dort frei bewegen und treffen, wen wir wollten, bekamen aber am Ende doch kein Interview mit Kadyrow. Anschließend habe ich bis in den Juni hinein in verschiedenen europäischen Städten sowie in Moskau Gespräche geführt. Dann verfasste ich eine erste Version dieses Berichts, die generell optimistisch gehalten war. Die Ermordung der Memorial-Mitarbeiterin Natalja Estemirowa am 15. Juli und andere Morde, die darauf folgten, haben diese Auffassung infrage gestellt. Daraufhin überarbeitete ich den Text vollkommen, um den jüngsten Ereignissen Rechnung zu tragen, eine Arbeit, die ich im Oktober 2009 abschloss. In dieser Form veröffentliche ich ihn, wohl wissend, dass er in der Zwischenzeit durch neue Ereignisse teilweise überholt sein dürfte.
Jonathan Littell, Vorwort, Tschetschenien, Jahr III
Ohne lesen zu wollen, bräuchten wir nicht zu übersetzen
Diesen Haftungsausschluss schickt Jonathan Littell seiner Tschetschenien-Reportage von 2009 voraus und spielt dadurch mit offenen Karten: Der Text ist überholt. Erst recht, da die deutschsprachige Veröffentlichung erst später folgte und ich das Buch über zehn Jahre später in den Händen halte. Wozu also lesen? Sie mögen jetzt genervt die Augen verdrehen, wie ich selbst es tun würde. Diese Frage mag ein wenig aufgesetzt erscheinen, aber sie fordert eine Antwort. Denn, so meine These: Ohne lesen zu wollen, bräuchten wir nicht zu übersetzen. Wenn ich lese, um auf der Höhe der Zeit zu sein oder um mitreden zu können, werde ich literarischen Texten sicher nicht gerecht – und ebenso wenig journalistischen. Mehr noch: Nicht einmal der Höhe der Zeit werde ich gerecht.
Tschetschenien, Jahr III ist eine Bestandsaufnahme, durch ihre Buchform literarisiert, aus der Zeit gefallen. Durch die Lektüre lässt sich die Zeit zurückdrehen, die Ferne ins Jetzt holen. Diese Kraft können journalistische Texte entwickeln, auch nachdem sie von Ereignissen überholt werden und aufhören, News zu sein, ohne dabei aufzuhören, Neues zu sagen.
Jedes Mal, wenn ich eine der herausragenden Reportagen und Recherchen der Journalist:innen der Novaya Gazeta lese, von Anna Politkowskaja über Pawel Kanygin bis hin zu Jelena Kostjutschenko, habe ich das Gefühl, etwas Wichtiges verstanden zu haben, über Russland, aber auch über das Leben selbst. Etwas, das über das aktuelle Thema weit hinausreicht.
Reportagen der Novaya Gazeta – ein prägendes Genre
Als der Schriftsteller Sergej Lebedew im Februar 2022 bei einer Lesung im Literaturhaus Basel nach dem Buch gefragt wurde, das am besten das heutige Russland erklären würde, nannte er die Bücher von Anna Politkowskaja. Ich scheitere daran zu beschreiben, wie viel Politkowskajas Reportagen bewegt haben, wie sehr sie nicht nur die folgende Generation von Journalist:innen inspiriert haben, sondern wie sehr sie jede Person prägen müssen, die damit in Berührung kommt. Das Lesen selbst wird zur Erfahrung. Es ist immer auch ein Anlesen gegen die Zeit, ein Sich-aus-der-Zeit-Herausnehmen und In-eine-andere-Zeit-Gehen, um den Strom der Zeit aufzuhalten und ihn gleichzeitig zu erfassen.
Vor allem gibt es sehr viel nicht erzählte Zeit
Beim Übersetzen geht es immer auch darum, Zeit zu gewinnen. Überhaupt ist Zeit in unserem Fall die Währung: Es gibt die tatsächlich erzählte Zeit und die durch Zeichenzahl begrenzte Erzählzeit, aber vor allem gibt es sehr viel nicht erzählte Zeit. Dazu gehört die Zeit des Schreibens, des Nichtschreibens und des Umschreibens. Dazu gehört die Zeit des Übersetzens, des Lektorierens, des redaktionellen Bearbeitens. Im schlimmsten Fall werden diese akkumulierten Tage, Wochen und Jahre übersetzt in ein paar Minuten Querlesen.
Im schlimmsten Fall werden akkumulierte Tage, Wochen und Jahre übersetzt in ein paar Minuten Querlesen
Mit langjähriger Erfahrung, stelle ich mir vor, lernt man als Übersetzerin zu übersetzen. Am Anfang meines Studiums glaubte ich viel mehr zu wissen als jetzt. Problembewusstsein zu erlernen ist die erste harte Lektion. Danach geht alles auf Anfang. Mir erscheint es wichtig, nicht stehen zu bleiben, solange man weiter will. Jedenfalls finden sich durch Übung und Reflexion Lösungen für Probleme, von deren Existenz ich einst keine Ahnung hatte. Antworten finden sich in übersetzungswissenschaftlichen Arbeiten. Antworten finden sich in Workshops, auf Fortbildungen, im Austausch mit Kolleginnen.
Wie kann Berichterstattung unter hybriden Umständen atemloser Gewalt funktionieren?
Als ich die heutige dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher 2014 bei dem journalistischen Projekt STEREOSCOPE UKRAINE von n-ost kennenlernte, gab es dekoder noch nicht. Wie nötig so ein Medium damals gewesen wäre, zeigte sich an dem öffentlichen Umgang beziehungsweise der medialen Ratlosigkeit angesichts der Kettenreaktion in Osteuropa, ausgelöst durch die ukraineweiten Proteste nach dem gescheiterten EU-Assoziierungsabkommen, denen in atemberaubender Geschwindigkeit bis heute Gewalt, Annexion und Krieg folgten. Die Ereignisse hatten die Gesellschaften der Ukraine und Russlands und darüber hinaus über politische Lager, Berufsgruppen und Familien hinweg auf bis dahin beispiellose Weise gespalten. Es schien nicht nur an politischen Erklärungen zu fehlen, sondern auch an Expert:innen und Verhandlungsräumen, aber vor allem an Expertise darüber, wie Berichterstattung unter diesen hybriden Umständen funktionieren kann.
Viele der teilnehmenden Journalist:innen kamen aus Russland und der Ukraine, und ich erinnere mich, eines Abends einen damals weit verbreiteten Streit zwischen den Fachleuten beobachtet zu haben: Die einen bestanden auf dem althergebrachten na Ukraine (dt. wörtl. auf der Ukraine) als grammatisch korrekter Form, andere forderten die für Staaten und Länder, Zimmer und Räume eigentlich übliche Präposition w Ukraine (dt. wörtl. in der Ukraine) als Ausdruck der staatlichen Souveränität, die dem Land – im Gegensatz zu na Ukraine – seine Eigenständigkeit nicht abspreche und es nicht zu einem Gebiet (oder einer Insel) mache. Die Verwendung von w Ukraine ist seither unter Kritiker:innen der russischen Aggression gegen die Ukraine gängig geworden. Es war eine Diskussion, wie sie zur geschlechtergerechten Sprache und ähnlichen neuen Tendenzen auch im deutschsprachigen Raum geführt werden könnte. Die Dualität der russischen Bezeichnungen manifestierte sich damals allerdings bereits zunehmend als ein die Lebenswirklichkeit formendes Element, als im Sinne Victor Klemperers Fakten schaffende Verzerrungen.
Sprache als Lebenswirklichkeit formendes Element
Die Einordnung von Texten anhand kleiner Marker, Wortwahl und Gedankenstruktur gehört zum guten Übersetzen, in den letzten Jahren ist daraus eine Heuristik geworden: Als mich am 72. Tag des Krieges eine Frau in Berlin nach dem Weg zum Busbahnhof fragte, weil sie mit ihrer Familie in die Ukraine zurückkehren wollte, konnte ich mit großer Wahrscheinlichkeit sagen, welche Medien sie konsumierte: Sie sagte, sie wolle na Ukrainu.
Heraustreten aus dem Unbewussten
Eine weitere bittere Pille während meines Studiums war zu realisieren, dass die eigene geistige Nähe zu einem Ausgangstext und das – als „Pseudomuttersprachlerin“ (so wurden in meinem Studium die Mehrsprachigen genannt, denen unterstellt wurde, keine Sprache „richtig“ zu können) – intuitive Verständnis für die Welt, aus der heraus er entstanden ist, sich noch lange nicht ins Deutsche über-trägt. Dass oft eine bewusste Bewegung vom Text weg notwendig ist, um ihn Leser:innen näher zu bringen.
Gleichzeitig ist der Ton, die Temperatur eines Textes der Schlüssel zu seinem Sinn. Neutralität in der Sprache ist eine Notlüge der Theorie. Aber haltlose Erfahrung nützt noch lange nichts für die Vermittlung. Ich glaube, Körperwissen muss erst bewusst gemacht und zu einer Kompetenz trainiert werden, um eine nützliche Ressource zu werden. Ohne bewusst eingesetzt werden zu können, kontrolliert und reflektiert, verstellt es den Blick für das Original mit den eigenen Memorabilien. Von der eigenen Geschichte und Biographie vor-eingenommen, muss ich mich erst freikämpfen, eine gewissenhafte Position erringen – also sowohl mit Sorgfalt als auch mit moralischem Kompass.
Als Übersetzerin muss ich das Nichtübersetzen mitdenken, was beim Geschriebenen mitschwingt, nämlich das Ungeschriebene, folglich das von Leser:innen Ergänzte, das im Lesen Entstehende. „Das Gemeinte ist immer mehr als das Gesagte“, sagt Prof. Larisa Schippel im Podcast Überübersetzen. Aus meiner Tätigkeit als Konferenzdolmetscherin könnte ich zahlreiche Beispiele anführen, die eher das Gegenteil nahelegen. Ich würde den Satz abwandeln: Das Ungesagte ist immer mehr als das Gesagte. Das Ungesagte ist das Unübersetzte. Das Unübersetzte ist nicht unübersetzbar, denn übersetzbar ist alles auf vielfache Art. Das Unübersetzte ist das, was eine Übersetzung ausmacht, ohne Teil davon zu sein. Es sind die (währenddessen, darin und davor) vergangene Zeit, die gestrichenen Sätze, die Genese der Irrtümer. Jede Übersetzung hat vielfache Sub-, Kon- und Nontexte. Die Übersetzung ist Träger eines Vielfachen der übersetzten Information, ohne dass sie übersetzt werden muss. Und doch macht gerade sie die Übersetzung aus.
Das Ungesagte und Unübersetzte
Bei den journalistischen Texten von dekoder multiplizieren zahlreiche Faktoren das Ungesagte: Die russischen Texte entstehen in einem engen Zeitrahmen, ausgehend von aktuellen Ereignissen, orientiert an einem Zielpublikum mit spezifischem Weltwissen. Sie entstehen innerhalb eines geschlossenen Bezugssystems und werden in demselben rezipiert. Die Übersetzung hebt die Texte aus ihrem endemischen Gebiet und verleiht Gebrauchstexten eine literarische Qualität: eine Offenheit bezüglich der Leserschaft und der Lesarten. Die ursprüngliche Primärfunktion, eine Zielgruppe in Russland zu informieren, mag bald wegfallen, dafür gewinnen die Texte bei dekoder durch den Transfer an Bedeutung, zumal sie mit Hintergrundinformationen und Erläuterungen kontextualisiert werden.
Und dann bekommen selbst Kontexte neue Kontexte. Novaya Gazeta war 1993 eine der ersten unabhängigen Zeitungen, die in Russland gegründet wurden. Als dem Chefredakteur seit 1995, Dmitri Muratow, 2021 der Friedensnobelpreis verliehen wurde, war sie eine der letzten. Im Epigraph zu seinem Essay Über das Schreiben bezeichnet Ryszard Kapuściński die letzten Worte des Polarforschers Robert Falcon Scott als „dramatischste Definition einer Reportage: ‚Those rough notes and our dead bodies must tell the tale.‘“ Im Falle der Redaktion von Novaya Gazeta ist diese Definition wörtlich zu nehmen: Ihre Redakteur:innen Igor Domnikow, Juri Schtschekotschichin, Anna Politkowskaja, Anastassija Baburowa und Natalja Estemirowa wurden ermordet, viele weitere Mitarbeiter:innen verhaftet, gefoltert, verletzt und ins Exil getrieben. Ihre Arbeit erzählt uns von Russland und seiner Bevölkerung. Der Kontext macht ihre Körper zu weiterem Kontext.
Inwieweit ist die Bedeutung einer guten Reportage übersetzbar?
Ich wollte der Frage nachspüren, inwieweit die Bedeutung einer guten Reportage übersetzbar ist, die in ihrem Wirkungsbereich wie eine Offenbarung und gleichzeitig tödlich sein kann. Ich bin daran gescheitert, dem Mut von Menschen Ausdruck zu verleihen, die bereit sind, für überzeugte Arbeit ihr Leben zu opfern. Es ist mir nicht gelungen, die spezifische Bedeutung von Reportagen, besonders von Reportagen der Novaya Gazeta, für die Lesenden herauszuarbeiten, weder für die Gesellschaft in Russland, umgeben von den Lügen der Staatspropaganda, getarnt als Nachrichten, noch für uns als Einblick in Mechanismen der Menschenverachtung, die Unzulässiges, ja Undenkbares möglich macht.
Die Intuition der Übersetzenden: eine besondere Art von Mit-gefühl
Ich habe geschrieben und gelöscht, geschrieben und gelöscht. Über Monate. In diesem Text bleiben diese Monate ungeschrieben in ihrer ganzen Unübersetzbarkeit. Ich vermute, wir können es gerade dort ertasten, im Ungeschriebenen, im Überholten und in dem rasanten Tempo, in dem Texte überholt werden. Ich denke, auch das gehört zur Intuition der Übersetzenden: Körperwissen zu antizipieren. Nennen wir es eine besondere Art von Mit-gefühl. Es ist nicht einfach und es geht sicher nicht spurlos an einem vorbei, selbst wenn diese Spuren nur noch im Gelöschten – oder im Ausgelöschten – zu finden sind. Weder meine Recherche noch die vergangene Zeit finden sich in diesem Text. Die Zeit seit der Kriegserfahrung meiner Vorfahren, dem Zerfall der Sowjetunion, unserer Übersiedlung nach Deutschland, meinem Studium bis heute hat sich auf einmal zusammengepresst wie ein Stück Blech in einer Massenkarambolage.
Die Novaya Gazeta gibt es nicht mehr. Auch Orte und Städte, Protagonisten und Verfasser der Reportagen gibt es nicht mehr. Aber die Reportagen gibt es. Und die Übersetzungen gibt es. Genauso wie es in Inger Christensens Alphabet die Aprikosenbäume gibt. Und die Atombomben. Und vielleicht gibt es die Lesenden. Die Lesenden der Übersetzungen gibt es, vielleicht sogar wenn es einmal keinen einzigen Lesenden mehr für das Original geben sollte.
So schließt sich in meinem Wunschdenken der Kreis wie auf einem Ziffernblatt: Die Übersetzungen werden die vergangene, verlorene und verschwiegene Zeit aufgefangen haben wie eine Regentonne Wasser.
Wozu? Gerade habe ich keine Antwort darauf.