Close-Reading einer Übersetzung – das kommt im journalistischen Übersetzen nicht oft vor. Anna Shibarova tat es und eröffnet durch ihren Metatext neue Schichten eines Textes und seiner Übersetzung.
Die Werkstatt: Wie übersetzt dekoder?
Im Sommersemester 2020 fand am Institut für slawische Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München eine studentische Werkstatt zum Thema Journalistisches Übersetzen statt. Ich habe sie als Dozentin geleitet. Mit einer Gruppe von Studierenden haben wir Übersetzungen von dekoder unter die Lupe genommen, um uns Einblicke ins dekoder-Laboratorium zu verschaffen.
Wie übersetzt dekoder? Wie wird, in jedem konkreten Fall neu, die Balance zwischen Einbürgerung und Verfremdung erstellt? „Entweder der Übersetzer lässt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er lässt den Leser möglichst in Ruhe und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen“, lautet die klassische Formel (Schleiermacher, 1813). Welche Bewegungen muss dekoder vollziehen, damit der Zieltext am richtigen Gleis ankommt? Was verschiebt sich beim Übersetzen und Redigieren des Ausgangstextes? Das waren die Fragen, mit denen wir an die Arbeit gingen.
Als erstes haben wir Die Geister der Vergangenheit (gekürzte Fassung, erschienen am 06.07.2017 in der Übersetzung von Jennie Seitz) gelesen. Das russische Original Delo Chottabytscha von Schura Burtin (Expert, 26.05.2017) kannte ich gut, es war mir ans Herz gewachsen.
Die Textwahl
Ich habe diesen Text im August 2017 im Nachtzug Sankt Petersburg – Murmansk gelesen. Der Sankt Petersburger Ortsverband der NGO Memorial organisierte den jährlichen Gedenktag zur Erinnerung an die Opfer des Großen Terrors. Wir fuhren nach Sandarmoch. Aus dem Text erfuhr ich von Juri Dmitrijew, dem Entdecker dieses Erschießungsortes im karelischen Wald. Die Lektüre hat mich erschüttert.
Die Reportage von Schura Burtin war die erste journalistische Auseinandersetzung mit dem Fall Dmitrijew. Als wir in Sandarmoch ankamen und an der Gedenkveranstaltung am 5. August teilnahmen, konnten wir Juri Dmitrijew nicht mehr persönlich kennen lernen, seit Winter 2016 saß er in Haft. Der Historiker war wegen angeblicher Kinderpornografie angeklagt.
Wirkung
„Was für ein trauriger + starker Text. An manchen Stellen ist es mir kalt den Rücken heruntergelaufen,“ schrieb mir eine Studentin, nachdem sie die Übersetzung von Jennie Seitz gelesen hatte.
Aufbau
Der Longread besteht aus vierzehn Kapiteln, die schnell aufeinanderfolgen. Im ersten Kapitel skizziert der Autor den Charakter von Juri Dmitrijew. Der russische Titel Jerschisty (dt. wörtl. „kratzbürstig”) wird im Deutschen wie folgt umschrieben: „Harsche, emotionale Person mit schwierigem Charakter“. In den nächsten Kapiteln erzählt Burtin, wie Dmitrijew seine Lebensaufgabe fand: den nicht bestatteten Opfern des Terrors das letzte Geleit zu geben, und wie die Suche in Wäldern durch Archivforschung ergänzt wurde.
Dann führt uns der Autor ins Jahr 1937 und rekonstruiert mit bedrückender Präzision die Verbrechen, die im karelischen Wald vom NKWD verübt wurden. Nach einem Schnittwechsel kommt die Erzählung zurück ins Heute: Es geht um Dmitrijews Familie, um die adoptierte Tochter Natascha. Schließlich der dramatische Höhepunkt: Dmitrijew wird verhaftet, Natascha wird der Familie weggenommen. Die Geister der Vergangenheit kommen in der Gegenwart an. Das letzte Kapitel heißt Ten (dt. „Schatten“).
Die Verflechtung von Gestern und Heute bestimmt den Textaufbau. Das Gerüst ist so gut zusammenmontiert, dass kein Kapitel ausgelassen werden kann, ohne dass das Ganze zerfällt. Die deutsche Fassung ist gekürzt, jedoch die Gesamtkonstruktion ist für die dekoder-Leser komplett beibehalten worden.
Titel
Der Originaltitel Delo Chottabytscha (dt. „Der Fall Chottabytsch“) spielt mit dem Wiederkennungseffekt: Den Flaschengeist aus dem Filmklassiker Der alte Chottabytsch (1958) kennt jeder russische Leser. Er ist ein eigenwilliger Zauberer mit langem grauem Bart, exzentrisch, stur und sympathisch. Den Kosenamen gaben Dmitrijew seine Kollegen und Freunde.
dekoder macht hier einen Schritt auf seine Leserschaft zu und ändert den Titel. Mit der Redewendung Die Geister der Vergangenheit kann das deutschsprachige Publikum mehr anfangen. Durch diese Änderung verlagert sich auch der Schwerpunkt: Die Hauptfigur tritt in den Hintergrund und es wird signalisiert: Es geht um die nicht aufgearbeitete russische Geschichte, um ihre nicht ruhenden Geister.
Einführung
Dem Titel folgt im Russsischen Original ein Vorspann aus der Ich-Perspektive:
„Am 1. Juni beginnt in Petrosawodsk der Prozess gegen einen der unglaublichsten Menschen, die ich kenne: den Lokalhistoriker Juri Dmitrijew. Ein Mann, der sein Leben der Sorge um die Toten gewidmet hat. Ihm wird vorgeworfen, Kinderpornografie hergestellt oder Waffen besessen zu haben. Begonnen hat dieser Fall aber bereits vor 80 Jahren – im Wald, in der Umgebung der 1. Schleuse des Belomorkanals.” (Übers. A. Shibarova)
Das ist ein klassischer Teaser, der neugierig machen soll. Bei der Wahl zwischen Spannung und Vermittlung entscheidet dekoder hier zugunsten der zweiten Option. Der Teaser wird durch eine informative Einführung, bei dekoder Vorspann genannt, ersetzt. Sie ist länger (53 Wörter/243 Wörter), mit Gnosen und Links versehen und fasst das Wichtigste der Vorgeschichte kompakt zusammen. Auch der Name Chottabytsch wird erklärend erwähnt.
Memorialez
Gleich zu Beginn taucht im russischen Original ein besonderes Wort auf. Es lautet memorialez .
„Von Juri Dmitrijew habe ich erstmals diesen Winter gehört, nach seiner Verhaftung.
Freunde erzählten mir die merkwürdige Geschichte von einem Memorial-Mitarbeiter aus Karelien, der wegen Kinderpornographie festgenommen worden war.”
Das ist kein allgemeinverständliches Wort, der kundige Leser versteht es aber sofort. Der Begriff ist Ende der 1980er Jahre mit der Gründung der NGO Memorial aufgekommen. Er bedeutet so viel wie „Mitarbeiter/Mensch von Memorial“; im weiteren Sinn sind Aktivisten und Gleichgesinnte im Umfeld der NGO ebenfalls Memorialzy. In den letzten Jahren, als der staatliche Druck, aber auch die Sichtbarkeit der NGO zunahmen, hat das Wort weitere Verbreitung gefunden. Manchmal werden darauf Emotionen projiziert: Für die einen ist es ein Ehrentitel, für die anderen ein Schimpfwort.
Die Übersetzungslösung ist nüchtern: ein Memorial-Mitarbeiter. Der dekoder-Leser nimmt womöglich keine subtilen Untertöne wahr, dafür bekommt er eine Gnose zur NGO und einen Link zu Karelien, so dass die Stelle sich nicht mehr linear liest. Im russischen Text impliziert das Insiderwort Memorialez Fragen an Leser: Verstehst du es auf Anhieb? Was steckt dahinter? Welche Assoziationen ruft es bei dir hervor? Der entschlüsselnde dekoder wendet sich an Leser ohne Vorwissen, eine Art Tabula rasa. Der Text sondiert nicht, sondern erklärt.
Erzählton
Ein Satz gleich danach: Die Erzählkamera zoomt auf das Porträt von Juri Dmitrijew:
Ja sales w set i uwidel fotki chudowo, borodatowo mushika s sedymi patlami s tjashelym wsgljadom.
„Ich kam nach Hause, suchte im Netz und sah Fotos von einem dürren, bärtigen Mann mit grauen Zotteln und schwerem Blick.“
Der russische Text klingt schroff. Die Aneinanderreihung von umgangssprachlichen Ausdrücken erzeugt einen direkten, ungeschönten Ton. Mein Leser und ich, wir verstehen uns, gibt der Ton zu erkennen. Hier braucht es keine erlesenen Wörter. Auch der Protagonist, Juri Dmitrijew, spricht so.
Der Satz wirkt, trotz der Zotteln, etwas gekämmter
Wie das Pathetische lässt sich aber auch das Saloppe nie eins zu eins aus einer Sprache in die andere übersetzen. Jennie Seitz konstruiert den deutschen Satz mit Fingerspitzengefühl. Die Zotteln übernimmt sie, den groben „mushik“ (dt. Typ, Kerl) übersetzt sie neutral, als Mann. So klingt der Satz zwar genauso schmucklos wie der russische, wirkt aber dennoch, trotz der Zotteln, etwas gekämmter. Die kleinen Glättungen verändern leise den Ton, auch Distanz zum Leser wird dadurch größer.
Kürzungen
Die deutsche Fassung ist um circa 2000 Wörter kürzer als das russische Original. Die Auslassungen haben eine Logik.
Burtin schreibt nicht nur über seinen Protagonisten. Er erzählt auch über seine Auseinandersetzung mit dem Thema. Der Zugang fiel ihm sehr schwer:
„Aus der Anklage war schwer zu ersehen, was von der Sache zu halten ist.
Einerseits kann man sich von einem Memorial-Mitarbeiter so etwas Abwegiges schwer vorstellen. Andererseits – kein Rauch ohne Feuer: Die Ermittler konnten das doch nicht alles erfunden haben!“
Damit ist die Passage in der dekoder-Fassung zu Ende. Im Original geht der Text aber weiter. Burtin erzählt, wie er zu Beginn seiner Recherche eine diffamierende TV-Sendung gegoogelt hat. „Memorial ist nicht bloß eine Ansammlung von ausländischen Agenten, sondern ein Nest pädophiler Monster“ (ne prosto sborischtsche inostrannych agentow, a gnesdo upyrei-pedofilow ), zitiert er daraus, und es geht eine Weile so weiter.
Die anzügliche Sprache der Propaganda will dekoder seinem Publikum offenbar nicht zumuten, diese Passage fehlt in der Übersetzung. Auch darüber, wie verunsichert die Kolleginnen von Dmitrijew am Anfang wirkten, lesen wir nur im russischen Original. Der dekoder-Leser erfährt nichts davon, dass der Artikel fast nicht geschrieben worden wäre:
„Vom Ausdruck ‚Kinderpornografie‘ wollte ich mich einfach fernhalten und vergessen. Und das tat ich dann auch.
Aber irgendwann dachte ich, dass ich dieser merkwürdigen Geschichte trotzdem nachgehen will, was auch immer dabei herauskommt.“ (Üb. Shibarova)
Schura Burtin versteht sich als Journalist und Schriftsteller; die Priorität von dekoder ist Journalistik. Kein Wunder, dass es gerade die Ich-Anteile der Erzählung sind, die im deutschen Text manchmal fehlen. Abschweifungen, psychologische Details, ausführliche Beschreibungen, darunter manche schrillen Details – all das kommt verkürzt vor.
Aber auch in dieser gekürzten Fassung, die dem deutschsprachigen Publikum von dekoder entgegenkommt, hören wir die unverwechselbare Stimme des Autors. Die Eigenheit seines Zugangs – „ein subjektives aufrichtiges Schreiben zum aktuellen Anlass,“ wie Burtin sein Format in einem Interview definierte – lebt in der dekoder-Version weiter. „Was für ein trauriger + starker Text“.
Postskriptum nach Kriegsbeginn
Krieg und Terror rütteln unser Vokabular um. Nach dem 24. Februar lesen und hören wir anders. Das Wort Memorialez klingt für mich jetzt noch stärker nach Widerstand, und ich frage mich: Hat der Ausdruck memorialez eine Zukunft im Russischen? Hat das Wort Memorialez eine Chance im Deutschen? Findet es eines Tages Eingang in den Duden? Ich wünsche das diesem stolzen Wort.
Am 5. August 2022 fand in Sandarmoch wieder die Veranstaltung zum Gedenken an die Opfer des Großen Terrors statt. Die Menschen organisierten sich durch soziale Netze und fuhren nach Sandarmoch. Auch internationale Vertreter waren dabei. Wer nicht kam, schickte ein Video, auf dem er oder sie der Tradition nachkam und Namen der Opfer vorlasen.
Der Memorialez Juri Dmitrijew konnte aus seiner mordwinischen Kolonie einen Gruß an die Teilnehmenden übermitteln.