Was heißt journalistisches Übersetzen, und wo findet es statt? Während in den meisten Medien oft nur einzelne Beiträge übersetzt werden, ist das Übersetzen bei dekoder ein tragender Teil des Konzepts. Wie funktioniert so etwas? Und was bedeutet das für Übersetzer:innen und Redakteur:innen?

Professionelle journalistische Medien wie dekoder veröffentlichen in der Regel Beiträge, die sich gut lesen: Sie wirken in sich stimmig, aus einem Guss. Was ihnen nicht anzumerken ist: Um zu diesem Ergebnis zu kommen, ist eine Reihe von Bearbeitungsschritten nötig. Bei Originalbeiträgen, das heißt, wenn Texte auf Deutsch für ein deutschsprachiges Medium verfasst werden, wird die Textidee meist mit der Redaktion abgesprochen. Dann beginnt die Autorin mit der Konzeption und Recherche und erstellt einen Entwurf, der zu einer fertigen Fassung ausgearbeitet wird. Das hier ist ein solcher Text.

Als nächstes geht ein Redakteur ans Werk. Seine Aufgabe ist es, das Manuskript publikationsreif zu machen: Er prüft es auf inhaltliche Richtigkeit – große Redaktionen haben eine eigene Faktencheck-Abteilung –, überarbeitet es bei Bedarf sprachlich und stimmt größere Änderungen, Streichungen oder Ergänzungen mit der Autorin ab.

Übersetzte Beiträge als Besonderheit im Journalismus – warum?

Übersetzte Beiträge stellen in aktuellen journalistischen Medien eher die Ausnahme dar. Sie werden, besonders bei hohem Zeitdruck, nicht immer so sorgfältig betreut wie Beiträge in der eigenen Sprache – bei dekoder gehören sie jedoch zum Markenkern: Hier besteht ein zentrales Ziel darin, dem deutschen Publikum und dem russischen/belarussischen Publikum einen direkten Einblick in die öffentliche Debatte im jeweils anderen Land zu verschaffen. dekoder veröffentlicht regelmäßig aktuelle Beiträge aus russischen und belarussischen Medien – teils auch von Social-Media-Plattformen – auf Deutsch; seit einiger Zeit sind auch Übersetzungen aus deutschen Medien ins Russische hinzugekommen. Dabei durchläuft ein bereits im Ursprungsland publizierter journalistischer Beitrag noch weitere Phasen, bevor er auf dekoder erscheint: Die redaktionelle Auswahl, Aufbereitung, die Übersetzung, die Übersetzungsredaktion und die Kontextualisierung.

Dem fertigen Text sieht man diese vielgliedrige Fertigung nicht mehr an, und eben das macht ihn zu einem Text im emphatischen Sinn: zu einem in sich geschlossenen, zusammenhängenden Beitrag. Das lateinische Verb texere, das dem Begriff zugrunde liegt, bedeutet „weben, flechten“. Wenn die „kommunikative Handlung“, die ein Text aus sprachwissenschaftlicher Sicht darstellt (Wikipedia), ihr Ziel erreichen soll, muss dieses Gewebe gut verarbeitet sein. Aber woraus besteht es eigentlich? Und wie läuft die Bearbeitung im Einzelnen ab? Im Folgenden wollen wir das ein wenig näher schildern und uns dabei vor allem auf das Übersetzen und Redigieren konzentrieren.

Was brauchen Sachtexte?

In journalistischen Medien wie dekoder erscheinen überwiegend Sachtexte – also Texte, bei denen der Schwerpunkt auf der inhaltlichen Thematik liegt. Das kann ein zu erklärender Sachverhalt (etwa die Auswirkungen der jüngsten Sanktionen auf Russlands Finanzsystem), ein politisches Anliegen (etwa die Aufarbeitung des Stalinschen Terrors), eine zu schildernde Begebenheit (etwa der Giftanschlag auf Alexej Nawalny), ein Konzept (etwa die „Russische Welt“) oder Ähnliches sein. Das Erzählen als solches oder ästhetische Aspekte wie Bildsprache, Klanggestalt und so weiter, sind zwar nicht unwichtig, gerade bei Reportagen, aber sie sind dem Gegenstand untergeordnet, während sie bei literarischen Texten ein Eigengewicht haben.

Ein Sachtext braucht einen tragfähigen argumentativen Aufbau, gedankliche Stringenz und sprachliche Klarheit, um seinen Gegenstand angemessen zur Geltung zu bringen. Eine geübte Autorin weiß das natürlich, es gehört zum Handwerk des Schreibens. Aber mit dem Schreiben allein ist es nicht getan. Je höher die Anforderungen an einen Text sind, desto wichtiger ist es, dass er nicht nur professionell geschrieben, sondern vor der Publikation auch professionell gelesen wird. Es gehört zum Berufsbild des Redakteurs, den Text aus der Leserperspektive zu beurteilen und zu überarbeiten. Er schlägt Änderungen, Erweiterungen und/oder Kürzungen vor, stellt um, formuliert um, gliedert neu und fügt Überschriften hinzu, um den Text in die Form zu bringen, die seinem Inhalt und Zweck optimal entspricht.

Übersetzen als Umbau oder Neubau

Die Übersetzerin nimmt eine Zwischenstellung zwischen Autorin und Redakteur ein: Sie muss den Text in der Ausgangssprache – zum Beispiel Russisch – aufs Genaueste lesen und dann in der Zielsprache – zum Beispiel Deutsch – neu schreiben. Denn ein Text lässt sich nicht in einem Schwung aus einer Sprache in die andere bringen. Er muss bis ins Detail zerlegt und neu zusammengebaut werden. Damit der Text in der Zielsprache seinen Zweck ebenso gut erfüllt wie in der Ausgangssprache und eine vergleichbare Wirkung erzielt, muss vieles verändert werden: Verschiedene Sprachen gebrauchen unterschiedliche Bilder und Redewendungen; ausgreifende Beschreibungen und Wiederholungen, die etwa im Russischen gar nicht auffallen, würden auf Deutsch umständlich und redundant wirken; rhetorische Stilmittel wie Ironie, Sarkasmus oder Pathos funktionieren unterschiedlich; Begriffe (etwa narod/Volk, woshd/Führer) lösen verschiedene Assoziationen aus und verlangen entsprechende Vorsicht. Manchmal muss man auch die Reihenfolge von Informationen in einem Satz oder Absatz verändern, um die Klarheit und Folgerichtigkeit zu erhalten. Im Deutschen gilt es beispielsweise als Grundregel, dass niedriger Informationsgehalt (Bekanntes) vor hohem Informationsgehalt steht („das Wichtigste zum Schluss“). In anderen Sprachen verhält sich das oft anders.

Tanz mit Zielgruppen und Textsorten

Dazu kommen die spezifischen Anforderungen, die die jeweilige Textform stellt. Auf dekoder finden sich ganz unterschiedliche Textsorten: Glossen, Interviews, Reportagen, Analysen et cetera. Über ihren Sachbezug hinaus haben diese Formen wenig gemeinsam. So erfordern Analysen einen möglichst sachlichen Ton, während bei Glossen Zwischentöne und Mehrdeutigkeiten transportiert werden müssen, hier ist der persönliche Stil der Autorin wichtig. Reportagen erzählen eine Geschichte, Interviews brauchen eine schriftliche Form für gesprochene Sprache. Auch hier kommt bei übersetzten Beiträgen, wie dekoder sie veröffentlicht, eine zweite Ebene ins Spiel. Denn die Erwartungen an die verschiedenen Textsorten unterscheiden sich je nach Land. Meinungsartikel in russischen Medien – das umfasst auch Social Media oder Exilmedien, wohin sich der kremlkritische Diskurs seit dem 24. Februar in großen Teilen verlagert hat – sind oft in einem schärferen Ton gehalten, während deutsche Medien eine zurückhaltendere, einordnende Herangehensweise bevorzugen.

Wichtig ist nicht zuletzt auch, in welchem Umfeld der Text steht und für welche Leserschaft er gedacht ist: Ein Meinungstext in Bild funktioniert anders als ein Leitartikel in der Zeit. Bei dekoder ist das noch komplizierter: Denn einerseits muss die Übersetzung dieses Umfeld des Originaltextes mit berücksichtigen und abbilden: Es ist Teil der zu vermittelnden Information, ob er beispielsweise in einem unabhängigen Medium erschienen ist, dessen Leserschaft sich eigenständig mit kontroversen Positionen auseinandersetzt – oder ob es sich um einen Text in einem Staatsmedium handelt, der im Sinn der Regierung mobilisieren will. Andererseits wird der übersetzte Text wiederum von Menschen gelesen, die nicht im Land leben und ganz andere Voraussetzungen mitbringen als das Publikum des Originals. Sie verstehen zum Beispiel bestimmte Bezüge und Anspielungen nicht, weil ihnen das Kontextwissen fehlt.

Übersetzungsredaktion

Aus all diesen Gründen ist es wichtig, dass die Übersetzung ihrerseits noch einmal redigiert und kontextualisiert wird. Längere Texte werden nicht immer komplett übersetzt; hier stellt sich schon vor dem Übersetzen die Frage, welche Passagen für die Leser im anderen Land besonderen Informationswert haben.

Bei dekoder wird der übersetzte Text dann noch einmal von einer Redakteurin bearbeitet, die die übersetzerische Arbeit aus eigener Erfahrung kennt, den zielsprachlichen Text mit dem ausgangssprachlichen vergleichen kann und ihn vor diesem Hintergrund professionell gegenliest. Sie gibt dem Text den letzten Schliff, entschlackt und strafft ihn, wo nötig, und entscheidet, wo er zusätzliche Erklärungen braucht. Die von dekoder entwickelten Formen der Blurbs (Hinweisen in Sprechblasenform, etwa zu Namen, Ereignissen, Begriffen) und Gnosen (im Text verlinkte Hintergrundartikel) eröffnen die Möglichkeit, Zusatzinformationen anzubieten, ohne den Beitrag selbst damit zu beschweren. So kann der übersetzte Text einen sehr lebendigen Eindruck vom Charakter der Veröffentlichung in ihrem Ursprungskontext vermitteln, erschließt sich aber dank der zusätzlichen Ebenen – wozu auch redaktionelle Informationen zu Autor und Ort der Originalveröffentlichung und die Einordnung etwa in einer bestimmten Debatte zählen – auch einem weniger informierten Lesepublikum.

Das ewige Dilemma des Übersetzens zwischen „Eingemeinden“ und „Fremdlassen“ ist damit nicht ein für alle Mal gelöst, aber auf elegante Weise ausbalanciert und sogar fruchtbar gemacht.