Straßenkunst gegen das Regime

Text: Muriel Fischer26.04.2024

Am 12. Juni 2023, knapp eineinhalb Jahre nach dem Beginn der russischen Totalinvasion der Ukraine, brennt auf einem leerstehenden Grundstück die Zukunft Russlands. Der Künstler error hatte am Tag Russlands in übergroßen kyrillischen Buchstaben das Wort buduschtscheje (dt. Zukunft) aufgestellt, die auf Metall-Gerüsten befestigten Holzplatten in Brand gesteckt, die Aktion gefilmt und sie mit einer Soundcollage aus Gedichtfragmenten bedeutender russischer Poeten unterlegt. Während die Flammen an dem Wort hochzüngeln, werden die Stimmen immer lauter, überlappen sich, erzeugen ein Echo. Sie geben dem symbolischen Akt des Abbrennens der Zukunft etwas Spukhaftes, das in Bezug auf den Krieg keineswegs nur als Metapher dient … 

error – Die Zukunft steht in Flammen

„Es sind wir, die brennen!“ – so endet das Video. error erklärt in der Beschreibung dazu: Eigentlich ist es der russische Staat, der die Zukunft des Landes abbrennt. Potenzieller Kritik daran, es stünde ihm als Russen nicht zu, über eine verlorene Zukunft zu jammern, kommt er zuvor. Er drückt seine Trauer über die Kriegsverbrechen in der Ukraine aus und fordert von russischen Künstler:innen, mehr Antikriegsinhalte zu schaffen.

Über error selbst gibt das Internet nichts preis. Außer: Er lebt im Ausland. Protest ist gefährlich geworden in Russland, jede öffentliche Kritik am Staat könnte zu einer Haftstrafe führen. Seit Beginn des Angriffskriegs werden die Repressionen immer umfangreicher: Wöchentlich erscheinen neue Einträge in der Liste „ausländischer Agenten“, darin sind allein 84 Medien und 99 Medienschaffende enthalten. Zwei Jahre nach Kriegsbeginn wurden laut Angaben der Menschenrechtsorganisation OWD-Info fast 20.000 Menschen aufgrund eines Paragraphens verurteilt, der die „Diskreditierung der russischen Streitkräfte“ unter Strafe stellt.1 Sogar Passant:innen, die an Gedenkstätten für Opfer politischer Verfolgung Blumen niederlegen, werden verhaftet. Wer nicht den Desinformations-Narrativen der russischen Regierung eines angeblichen Befreiungskrieges von den Nazis folgt, wird wie ein Staatsfeind behandelt.

Trotzdem stellen sich viele Russ:innen mutig der Macht entgegen. Sie gehen allein auf die Straße, basteln, kleben und schreiben für den Frieden. Auch Street Artists kämpfen mit Spraydosen gegen die Propaganda. Mit ihren Methoden der subversiven Stadtgestaltung – meistens anonym, immer illegal – holen sie sich den öffentlichen Raum zurück. Der Desinformationslandschaft in Russlands Städten Symbole und Botschaften entgegenzusetzen, ist für die mentale Gesundheit aller überlebenswichtig geworden, die der Regierung skeptisch gegenüberstehen. Dies gilt insbesondere, da patriotische Graffitis seit der Krim-Annexion 2014 zu einer beliebten Form der Propaganda-Massenkunst geworden sind.

Per Handykamera in die Welt

Die visuellen Symbole des Antikriegsprotests aus verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens haben sich im Laufe der Zeit zu einer Coded Language  entwickelt. Wo immer weniger gesagt werden darf, muss Kreativität helfen: Auf den ersten Blick harmlose Plakate mit Sternen, Fischen oder Ballerinen transportierten tatsächlich politische Botschaften, die von den Betracher:innen entschlüsselt werden.

Schwanensee steht für Menschen, die in Russland aufgewachsen sind, für den Abgesang sowjetischer Staatsmänner. Heute ist mit der Referenz die Hoffnung auf den Tod Putins verbunden. Zusätzlich kodiert dieses Graffiti mit einmal drei und fünf Ballerinen die Ablehnung zum Krieg („Net Woine“). / © aus der virtuellen Ausstellung Net Woble!, zur Verfügung gestellt von Alexandra Archipowa

Wie diese Zeichen im Alltag sichtbar werden, zeigt Telegram: Hier organisiert sich ein Großteil der Antikriegs-Aktivist:innen, ihre Kanäle arbeiten als digitale (Bild-)Archive des Protests. Diese Archivierung und Verbreitung ist mithilfe eines Chatbots sogar anonym möglich. Sie ist ein essentieller Bestandteil des Widerstands: Wenn an einer Stelle viele Fotos mit ähnlichem Inhalt zu finden sind, entsteht bald der Eindruck einer kritischen Masse. Für die Einzelkämpfer:innen der russischen Gegenöffentlichkeit ist dies eine der wenigen sicheren Möglichkeiten, Momentum zu generieren – schnell und einfach per Handy. 

Ein prominentes Beispiel für einen solchen Telegram-Kanal ist der Feministische Widerstand gegen den Krieg2, kurz FAS. Die Bewegung führt Straßenproteste im ganzen Land durch, die sich durch ihr kreatives Format auszeichnen. Oft sorgt sie damit auch international für Aufsehen. Eine dieser Aktionen aus dem Sommer 2023 hieß Du bist nicht allein3: Angelehnt an die von verschiedenen unabhängigen russischen Medien ins Leben gerufene Spendenaktion für politische Gefangene haben die Feminist:innen virtuelle Wandbilder mit Porträts von Antikriegs-Aktivistinnen an Regierungsgebäuden in den jeweiligen Heimatstädten der Betroffenen angebracht. Der digitale Raum dient hier als Imaginationsraum, der ermöglicht, was in der Realität kaum denkbar wäre – ein echtes Bild wäre sofort entfernt worden. Doch auch für physische Proteste ist das Virtuelle relevant, denn die Wirkung einer Botschaft entfaltet sich teilweise erst durch ihre Verbreitung in den Medien.

Virtuelle Wandbilder mit Porträts verfolgter Antikriegs-Aktivistinnen an Gerichts- und Verwaltungsgebäuden in ihren Heimatstädten. Die Porträts wurden von russischen und belarussischen Künstlerinnen für die Ausstellung von FAS in Paris angefertigt

Klein, still, unauffällig: Protestiert wird meistens allein

Weil jederzeit das Risiko besteht, dass Aktivist:innen festgenommen oder Informationsträger konfisziert werden, kommt es bei öffentlicher Intervention darauf an, Botschaften möglichst schnell zu verbreiten. So werden Geldnoten, Bibliotheksbücher und sogar Preisschilder zweckentfremdet, um über den Krieg aufzuklären. Bekannt dafür wurde die Künstlerin Alexandra Skotschilenko, die im November 2023 zu sieben Jahren Lagerhaft verurteilt wurde, weil sie Preisschilder in einem Supermarkt gegen Informationen über russische Kriegsverbrechen ausgetauscht hatte. 

Auch Kleider, Accessoires und sogar Geld werden als Informationsträger genutzt. Diese Variante des sogenannten Tichi Piket (dt. stiller Streik), bei dem Aktivist:innen warten, bis sie von Passant:innen angesprochen werden, ohne aktiv auf sich aufmerksam zu machen, zeigt, wie sich die Dissident:innen an die zunehmenden Repressionen anpassen. Nachdem zunächst öffentliche Protestkundgebungen zu gefährlich wurden, entstand aus der Not das Format der Einzelproteste. Inzwischen sind auch sie riskant.

Eine weitere Variation des Pikets oder der „Mahnwache“ ist der Malenki Piket (dt. kleiner Protest), ewa in Form von Knetfigürchen, die auf winzigen Plakaten große Worte hochhalten: „Frieden“, „Stop Bloody Vladdy“ oder „Hör auf, Kinder zu töten“. Ins Leben gerufen hat ihn der Sankt Petersburger Künstler Jewgeni.4 Nachdem er fliehen musste, setzten andere seine Arbeit fort und platzierten die Figürchen nach Jewgenis Vorbild überall in der Stadt. Das Instagram-Profil, das Fotos der „kleinen Tapferen“ sammelt, hat mittlerweile über 1000 Beiträge – Tendenz steigend.

Die Knetfigur hält ein Schild in der Hand mit der Aufschrift „Denk und erinner dich während eines Krieges an die Menschen, die gestorben sind, und nicht an den Zuckerpreis. Die Menschen sind wichtiger.“ / © aus der virtuellen Ausstellung Net Woble!, zur Verfügung gestellt von Alexandra Archipowa

Jewgeni, error, Alexandra Skotschilenko – sie alle arbeiten allein. Es gibt kein Anti-Kriegs-Kollektiv, das gemeinsam für den Frieden kämpft. Zu seinem Video schreibt error: „Für viele (für die Glücklichsten von uns!) gibt es jetzt keine Zukunft mehr, es gibt nur noch Future, Futuro, Momavali, Gelecek, Buducnost, Nākotnē, Avenir …“, denn wer nicht mit dem Regime einverstanden ist, muss fliehen. Was sie eint, ist ihr Ziel, die Desinformationsnarrative des Kreml zu stören und der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen – denn die ist bekanntlich das erste Opfer im Krieg.

    Im Original „ты не одна“ (ty ne odna). Im Russischen werden Adjektive gegendert, hier wurde „allein“ als feminin markiert.