Partisanen der Zeichen

Text: Muriel Fischer26.04.2024

„Ich möchte, dass mein Nachbar, wenn er das Haus verlässt, um Brot zu kaufen, schon im Fahrstuhl meine Inschrift liest und weiß, dass wir den Krieg angefangen haben und dass wir uns schämen sollten“, sagt ein 19-jähriger Straßenkünstler im Gespräch mit der Sozialanthropologin Alexandra Archipowa. Seine Botschaft ist nicht an das Regime adressiert – sich den Mächtigen entgegenzustellen, ist zwecklos . Das stellt auch eine anonyme Kriegsgegnerin im Interview mit der schweizer Radiosendung Echo der Zeit zynisch fest: „Heute glauben nur noch Idioten, dass sie etwas verändern können.“1

Die russische Streetart richtet sich deshalb nach dem Credo der Kommunikationsguerilla: Codes entstellen, nicht zerstören. Diese Form des Aktivismus versucht, Desinformation und Propaganda zu entlarven, indem sie etablierte Symbolstrukturen durchbricht. Es ist eine stille Art des Protests – und oft eine einsame. Doch wo von der Regimelinie abweichende Meinungsäußerung in der Öffentlichkeit nicht möglich ist, ist Kommunikationsguerilla die letzte Zuflucht der Dissidenz.

An einem bewölkten Augusttag 2016 taucht am Pirogowskaja Ufer in Sankt Petersburg ein Banner mit der Aufschrift „Ihr kreuzigt die Freiheit, doch die menschliche Seele kennt keine Fesseln“ auf. Ein Déjà Vu für Putin, falls er es gesehen hat: Vierzig Jahre zuvor hatte er als junger KGB-Offizier die Entfernung eben jener Inschrift veranlasst – damals zierte sie die Wände der unweit gelegenen Peter-und-Paul-Festung, eines ehemaligen Gefängnisses für politische Gefangene. Die ursprünglichen Künstler:innen erhielten für einen der ersten Fälle moderner Protestkunst in der Sowjetunion jeweils sechs und sieben Jahre Haft. Die Losung ist auch heute noch beliebt: Am 1. März 2024 tauchte sie auf dem Instagram-Profil malenkiy_piket auf, das Bilder winziger Knetfiguren mit Antikriegsbotschaften sammelt – fotografiert am Palast-Ufer, direkt gegenüber der Festung.

Mit Markern gegen das Regime

Protestkunst ist aktuell eines der wichtigsten Ventile der Dissidenz in Russland. Massenkundgebungen oder Flashmobs sind so gut wie nicht mehr möglich, nicht einmal Einzelproteste: Viele Kriegsgegner:innen haben sich in die innere Emigration geflüchtet. 

Das heißt nicht, dass sie stumm bleiben. Mit Markern, Spraydosen und Stickern holen sie sich den öffentlichen Raum zurück – indem sie die Symbolik der Regimepropaganda auf den Kopf stellen, verdrehen oder entfremden. Die Botschaften im sogenannten stillen Protest sind verschlüsselt, die Kunst versteckt. Je unauffälliger, je geschützter das Werk, desto größer seine Überlebenschance. Denn: Was zu offensichtlich platziert ist, wird sofort übertüncht. Nur mit dieser verdeckten Kommunikation haben Nachrichten die Chance, im öffentlichen Raum zu überdauern und so ihre Adressat:innen zu erreichen. Große Botschaften werden auf kleine Sticker gequetscht, diese wiederum an leicht übersehbare Orte des Dazwischens wie Straßenpfosten platziert. „Semiologische Partisanen“ nennt Archipowa solche Akteur:innen, die mittels kodierter Sprache in den Räumen des Alltags kämpfen.2

Streetart als „semiologische Guerilla“

Die Idee geht auf Umberto Ecos semiologische Guerilla von 1967 zurück. Mit den aufkommenden Massenmedien ging die Befürchtung einher, dass die Gesellschaft sich zu leicht von ihnen beeinflussen lässt. Für Eco war klar: „Ein Land gehört demjenigen, der die Kommunikation kontrolliert“.3 Als Beispiel für Kommunikationsguerilla nennt er das Feuilleton, das Medienbeiträge hinterfragt und analysiert. Aktivist:innen fingen an, Kritik in die massiv übertragenen Botschaften einzubauen, indem sie allgemein gültige kulturelle Codes verfremdeten. In Deutschland zeigte sich dies während der 68er-Proteste, bei denen Studierende mit gewitzten Plakaten und Reden Hörsäle, Straßen und andere öffentliche Einrichtungen besetzten. Aus dieser Tradition gingen zahlreiche Bewegungen wie die Yes Men oder das Zentrum für politische Schönheit hervor.

Auf diese Weise will die Kommunikationsguerilla die Empfänger:innen aus ihrer Passivität locken und Reflektionsprozesse anstoßen. Sie beanstandet zumeist die Ungleichverteilung von Macht.4 In autokratischen Staaten erlangt diese Form der Subversion eine besondere Relevanz, weil sie oft – wie in Russland – die einzige Möglichkeit zur politischen Meinungsäußerung ist. So nutzt ein Kunstwerk in Jekaterinburg das Logo vom Propaganda-Kanal Rossija 1. Doch statt des Wortes „Rossija“ steht hier „pisdjosh“, deutsch: gequirlte Scheiße. Zusammen ergeben sie die Phrase „Eine einzige gequirlte Scheiße“, ein Verweis auf die Verlogenheit der Medien. 

© aus der virtuellen Ausstellung Net Woble!, zur Verfügung gestellt von Alexandra Archipowa

Mit solchen Umkehrungen von Bekanntem antwortet Streetart auf die Informationsblockade des Kreml.5 Dieser Mechanismus trifft insbesondere die Kriegssymbolik, die Front spiegelt sich in den Zeichen beider Seiten wider . Dazu gehören die (persiflierte) Verwendung des Georgsbands oder der lateinischen Buchstaben Z und V, die ihre kyrillischen Entsprechungen З und В ersetzen. Auf diese Metallstrebe in Moskau hat jemand das Wort „Slo“ (dt. das Böse) geschrieben und allein durch die Verwendung des lateinischen Z einen unmissverständlichen Bezug zum Krieg hergestellt.

© aus der virtuellen Ausstellung Net Woble!, zur Verfügung gestellt von Alexandra Archipowa

Die Großstadt – ein „Vieleck aus Zeichen, Medien und Codes“

Die Straßenkunst greift in die zum Desinformationsraum verzerrte Öffentlichkeit ein und stört die darin vorherrschenden Narrative durch subversive Codes – die Künstler:innen werden zu Partisan:innen der Zeichen. Dieses Tauziehen um bemalte Hauswände und Plakate ist dabei keine Nebensächlichkeit: Für den französischen Soziologen Jean Baudrillard liegt die Macht im Urbanen in der Semiokratie, also der Herrschaft über die Zeichen. Die Großstadt bezeichnet er als „Vieleck aus Zeichen, Medien und Codes“, als Zentralstelle der Codes geht die Macht deshalb vom Urbanen aus. Die Straße gilt als „alternative und subversive Form aller Massenmedien“. Der Einbruch von Graffiti in das Stadtbild gleicht einem Einbruch in die Welt der Zeichen, also einem Angriff auf die Macht der Medien, die er als „Effektoren der Ideologie“ bezeichnet. Streetart reißt das Narrativ aus den Händen derer, die über die Medien bestimmen und verarbeitet es in einem „wilden, kulturellen Prozess“.6 

Eine wichtige Rolle im Kampf um die Zeichenhoheit spielt deshalb im 21. Jahrhundert Social Media. Noch nie war es so einfach, Informationen aus dem ganzen Land zu dokumentieren und sie überallhin zu verbreiten. Diese Möglichkeit hat die Rezeption von Streetart als naturgemäß eher flüchtige Kunstform radikal verändert. Zudem können zunächst gewöhnlich scheinende Bilder digital bearbeitet und vergrößert werden. Manches winzige Straßenkunstwerk offenbart erst so seine eigentliche Aussage. Insbesondere Instagram hat sich hier zu einem Vorreiter für politischen Aktivismus entwickelt. Dabei geht es nicht nur ums Sehen und Gesehenwerden, sondern auch darum, Bildmaterial gemeinsam zu verwenden und zu agitieren.7

Doch die neuen Technologien bieten noch mehr Möglichkeiten zur politischen Kommunikation. So finden ausgedruckte QR-Codes immer wieder Eingang in die subversive Stadtgestaltung. Unscheinbar aussehend, eröffnen sie ihre wahren Botschaften, sobald man sie mit dem Telefon scannt. Dieser als „IKEA-Ausverkauf“ getarnte Code beinhaltet einen Link zum TV-Sender Current Time TV, der täglich unzensierte Nachrichten aus der Ukraine streamt.

© aus der virtuellen Ausstellung Net Woble!, zur Verfügung gestellt von Alexandra Archipowa

Im Krieg müssen auch Künstler:innen sich positionieren

Auf diese Art verschwinden in Russland zunehmend die Grenzen zwischen Kunst und Aktivismus. Nicht zuletzt, weil die Losung L’art pour l’art (Kunst um der Kunst Willen) im Krieg ihre Gültigkeit verliert: Die politische Extremsituation zwingt Künstler:innen dazu, sich zu positionieren: Für oder gegen den Krieg? Mit Putin oder gegen ihn? Wer schweigt, gibt sein stilles Einverständnis. Ein expressives Beispiel für diese Vermischung von Kunst, Alltag, Technologie und Aktivismus sind die Werke der ukrainischen Künstlerin Zina Isupova, deren Atelier in Berlin ist. In ihre Collagen flechtet sie QR-Codes ein, die auf ukrainische Vereine und Initiativen verweisen, aber auch auf Archive voller russischer Kriegsverbrechen.

Isupovas Kunst kommuniziert einen offenen Appell, sich gegen den Krieg zu engagieren und verzichtet auf die übliche Metaphorik, mit der sich Kunst sonst von Aktivismus abgrenzt. Ganz neu ist diese Art der kreativen Intervention nicht: Schon bei den spektakulären Auftritten des Kollektivs Pussy Riot 2012 haben Beobachter:innen nach den Grenzen der Kunstfreiheit gefragt. Solche aufsehenerregenden Auftritte sind im heutigen Russland unvorstellbar. Dennoch stellt sich die Frage nach der Politisierung von Kunst, die unter Putin zu einem maßgebenden Werkzeug der Meinungsbildung geworden ist. Auch Graffitis von Kriegsbefürworter:innen finden sich auf der Straße, und der Kreml selbst lässt riesige Wandgemälde in Auftrag geben, um die Soldat:innen der sogenannten Spezialoperation zu glorifizieren. Er macht damit die Straße zu einem institutionellen Ort der Kunstrezeption, der nicht nur den Adressat:innenkreis für kreative Propaganda erhöht, sondern auch versucht, die Aktionen der Gegenseite zu delegitimieren, indem er sie übermalt oder zerstört.

Kunst auf den Straßen der Sowjetunion

Dazu inspiriert hat Putin vielleicht die Kulturpolitik der Sowjetunion. Schon damals war die Straße ein stark umkämpfter Kommunikationsraum, der Kunst und Aktivismus verwob. Die russischen Futuristen riefen in ihrem Dekret über die „Demokratisierung der Kunst“ bereits 1918, ein Jahr nach der Revolution, dazu auf, die Kunst auf die Straße zu tragen.

Zu den markantesten Verflechtungen zwischen Kunst und Agitation in der Sowjetunion gehören die Werbe- und Propagandaplakate des Avantgarde-Künstlers Alexander Rodtschenko, die er teilweise zusammen mit dem berühmten Dichter Wladimir Majakowski entwarf. Die sogenannte Agitprop verbreitete das Politbüro über Poster und Plakate, aber auch über Schauspiel, Architektur – und Street Art. Monumentale Wandbilder im Stil des sozialistischen Realismus bestimmten bald das Stadtbild. 

Die Inschrift zur gekreuzigten Freiheit gehörte 1976 zu den ersten künstlerischen Protestaktionen der Sowjetunion. Als sie im August 2016 erneut auftauchte, kommentierte dies auch einer der Originalkünstler, Juli Rybakow: „Nun, ich kann nur sagen, dass sie ihre Relevanz nicht verloren hat“.

    Eco, Umberto (1967): Für eine semiologische Guerilla

    Teune, Simone (2004): Kommunikationsguerilla. Ursprünge und Theorie einer subversiven Protesttaktik

    Baudrillard, Jean (1978): Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen, S.101

    Maier, Tanja (2021): Visueller Aktivismus mit Instagram. Politische Kommunikation in sozialen Medien