Im September 2001 hält Putin eine Rede im Deutschen Bundestag.

In den ersten vier Jahren seiner Präsidentschaft war Putin nicht nur mehrfach in Deutschland. Er war auf Staatsbesuchen in zahlreichen Ländern.

In den letzten vier Jahren ist das Bild ein anderes: Putins Welt ist sehr viel kleiner geworden.

Unsere Daten zeigen wie.

Wie Putins Welt schrumpfte

Text: Jonas von OlbergDatenvisualisierung: Daniel Marcus17.09.2024

Am 25. September 2001 steht Wladimir Putin vor dem Deutschen Bundestag. Er ist zu diesem Zeitpunkt seit anderthalb Jahren Präsident der Russischen Föderation. Der Plenarsaal ist gefüllt. Gerhard Schröder, der zu Beginn des Jahres bereits mit dem Ehepaar Putin orthodoxe Weihnachten gefeiert hatte, sitzt in der ersten Reihe. Das deutsche Publikum ist neugierig, was der Präsident Russlands zu sagen hat.  

Nach einer Begrüßung auf Russisch wechselt er auf Deutsch, die Sprache von Goethe, Schiller und Kant, wie er meint. Er beschwört Deutschland und Russland als Teile einer gemeinsamen europäischen- und Weltkultur. Gute Beziehungen zwischen den beiden Ländern bezeichnet Putin als Voraussetzung für Demokratisierung in Russland und eine gemeinsame Sicherheitspolitik in Europa, der Kalte Krieg – beendet! 

25. September 2001, Berlin. Wladimir Putin hält eine Rede im deutschen Bundestag

Etwa 20 Jahre später spricht an derselben Stelle der Bundeskanzler Olaf Scholz. Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine beschreibt er als Zeitenwende, den Widerstand gegen die russische Aggression als die historische Herausforderung der Gegenwart.  

In der Zwischenzeit gab es Gipfeltreffen und Konferenzen, Wirtschaftskrisen, eine Pandemie und Krieg. Wladimir Putin und Dimitri Medwedew  sind als Präsidenten Russlands viel gereist. Jede Rede, jedes Treffen und jede Pressekonferenz der letzten 24 Jahre wurde auf der Internetseite des Kreml veröffentlicht. 

In einem vergangenen Projekt haben wir die Reden der letzten 24 Jahre auf ihre Inhalte hin untersucht. Mit einem interaktiven Tool können Sie selbst testen, wann welche Schlagwörter Konjunktur hatten – und wann sie wieder aus den Reden des Kreml verschwanden. Mithilfe des selben Datensatzes konnten wir nun aufschlüsseln, wo diese Reden gehalten wurden . Es wird sichtbar, wo sich der Kremlchef in den letzten 24 Jahren bewegt hat. Wie sich außenpolitische Prioritäten verlagerten. Und wie seine Welt schließlich immer kleiner wurde.   

Mit seiner Rede vor dem Bundestag trifft Putin einen Nerv. Er bedient die Hoffnung auf einen Modernisierer, der Stabilität und Kooperation verspricht. Zwei Wochen vor dieser Rede war Putin der erste Staatschef, der zu den Anschlägen des 11. Septembers in den USA Stellung bezog, und seine Solidarität zum Ausdruck brachte. Den eigenen Krieg in Tschetschenien interpretiert er in der Folgezeit als Teil des globalen Kampfs gegen den Terrorismus. Ein Narrativ, das in vielen westlichen Staaten verfängt.  

Putin gilt als Partner, das hohe Wirtschaftswachstum trägt dazu bei, dass Russland seine Handelsbeziehungen intensiviert. Auch die „strategische Partnerschaft“ zu Deutschland entsteht zu dieser Zeit. Der Petersburger Dialog, jährliche Regierungskonsultationen und die Energieprojekte Nord-Stream 1 und 2 bieten für Putin Gelegenheit Deutschland häufig zu besuchen.

Nach der Ukraine und Kasachstan liegt Deutschland in den ersten 8 Jahren von Putins Präsidentschaft auf Platz 3 der meistbesuchten Länder. Frankreich, Italien und die USA befinden sich ebenfalls unter den Top 10. Putin reist auch nach Südamerika, in den Nahen Osten und nach Asien. Im Durchschnitt in 20 unterschiedliche Länder pro Jahr. 

Auch im Februar 2007 reist er nach Deutschland. In München kommen wie jedes Jahr Fachleute aus Wirtschaft, Militär und Politik zusammen, um Themen der internationalen Sicherheit zu diskutieren. Putin wird auf der Sicherheitskonferenz als erster russischer Staatschef eine Rede halten. Das Format abseits diplomatischer Höflichkeit möchte er nutzen, um zu teilen, was er wirklich über die Probleme internationaler Sicherheit denkt.  

Er wirft den USA vor, eine „unipolare Weltordnung“ anzustreben, und für den Anstieg an Gewalt in der Welt verantwortlich zu sein. Die NATO-Osterweiterung bezeichnet er als Provokation, bei der russische Interessen ignoriert worden seien. Bei den Gästen der Konferenz und in den Medien stößt diese Rede auf Kritik und Verwunderung. Man war von einem freundschaftlichen Verhältnis ausgegangen. 

In Russland selbst jedoch kritisiert Putin die USA schon weitaus länger. Im September 2004 hatte er kurz nach der Geiselnahme von Beslan im russischen Fernsehen darüber spekuliert, ob nicht amerikanische Geheimdienste hinter dem Anschlag steckten . Und auch Umfragen zeigen, dass sich die öffentliche Wahrnehmung der USA in Russland seit den 1990er Jahren kontinuierlich verschlechterte.

Medwedew besuchte in seiner Amtszeit etwa 30 Länder pro Jahr

Dimitri Medwedew scheint als Präsident Russlands von 2008 bis 2012 ein freundschaftliches Verhältnis zu den USA anzustreben. Um die Wogen zu glätten, die unter anderem der Georgienkrieg im August 2008 ausgelöst hatte, vereinbaren Russland und die USA 2009 einen „Reset“. Der Richtungswechsel hinsichtlich des von George W. Bush forcierten Raketenabwehrschirms bewirkt zunächst eine neuerliche Annäherung. Medwedew gibt sich betont prowestlich, interessiert sich für Technologie, trifft bei einem Besuch 2010 etwa den Apple-Gründer Steve Jobs, der ihm das neue iPhone 4 schenkt. 

Foto © kremlin.ru (CC BY 4.0)

Insgesamt pflegt Medwedew gute Beziehungen zum Westen. 2008 initiiert er mit Deutschland eine Modernisierungspartnerschaft. 2010 wird eine Partnerschaft mit der EU beschlossen. Und 2012 tritt Russland schließlich der Welthandelsorganisation bei. 

Im Februar 2014 besetzen russische Soldaten ohne Hoheitsabzeichen Militärstützpunkte und Polizeistationen auf der Krim.

Einen Monat später annektiert Russland die Halbinsel im Schwarzen Meer.

Während Putins erster Amtszeit war die Ukraine das Land, das er am häufigsten besuchte.

Seit 2014 war er nur noch auf der Krim.

Putin war nie wieder in einem baltischen oder skandinavischen Land, nie mehr in Belgien, den Niederlanden oder Großbritannien.

Und auch in Zentraleuropa hat er Polen, Tschechien, die Slowakei und Rumänien nie wieder besucht. 

Die Annexion der Krim und der Beginn des Kriegs gegen die Ukraine im Donbas bilden eine Zäsur in den Auslandsreisen russischer Präsidenten. Zehn Jahre zuvor war die Ukraine das Land gewesen, das Putin am häufigsten besucht hatte. 1997 hatten die beiden Länder einen Freundschaftsvertrag unterschrieben. Darin war festgehalten, dass Russland weiterhin den Schwarzmeerhafen Sewastopol nutzen darf und beide Länder ihre territoriale Integrität anerkennen. Im Juli 2013 fand der letzte Besuch Putins auf dem ukrainischen Festland statt. 

Die Aggression von 2014 bricht nicht nur die Beziehungen zur Ukraine. Auch im Baltikum und in zentraleuropäischen Ländern wie Polen oder Tschechien steigen die Sorgen gegenüber Russland. Die USA und die EU sanktionieren Politiker, die direkt in die Annexion oder den Krieg im Donbas involviert sind, und verhängen ein Wirtschaftsembargo über die Krim. Frankreich und Deutschland halten jedoch an ihren Energie-Partnerschaften fest und bemühen sich weiterhin um gute Beziehungen zu Russland. Der Kreml versucht gleichzeitig durch die Unterstützung extremer Parteien und Auslands-Propaganda Dissens in der europäischen Russland-Politik zu stiften. 

Zur selben Zeit wird im Reiseverhalten eine andere Entwicklung sichtbar. China ist in der Zeit nach Putins erneuter Amtsübernahme mit großem Abstand das meistbesuchte Land. Auf Platz zwei folgt Kasachstan. Bereits 2012 hatte Russland den „Schwenk nach Asien“ verkündet. Moskau erhofft sich von dem chinesischen Infrastrukturprojekt Neue Seidenstraße Investitionen und einen Ausgleich für die Verluste durch westliche Sanktionen. Russland und China intensivieren ihre Handelsbeziehungen und entwickeln Energieprojekte. Diese neue Partnerschaft wird auch durch den Besuch von Xi Jinping zur Militärparade am 9. Mai 2015 öffentlich zelebriert.  

Durch die russische Intervention im Bürgerkrieg in Syrien intensiviert Moskau auch seine Beziehungen in den Nahen Osten. Obwohl Russland und die Türkei unterschiedliche Konfliktparteien unterstützen, entwickelt sich ab 2015 auch hier eine Kooperation: Erdogan und Putin besuchen sich in dieser Zeit häufiger, entwickeln die Gas-Pipeline TurkStream und initiieren gemeinsam mit dem Iran den Astana-Prozess, in dem der Konflikt nach den eigenen Vorstellungen gelöst werden soll. Auch der Iran ist aufgrund westlicher Sanktionen isoliert. Russland unterstütz das Land in den Bereichen der Atom- und Militärtechnik.  

In den beiden Jahren vor der Corona-Pandemie reiste Putin in 26 verschiedene Länder auf vier Kontinenten.

Covid-19 brachte auch die Reisen des russischen Staatschefs zum Erliegen.

Es gibt viele Länder wie Deutschland, Frankreich oder Brasilien, in die Putin seit Beginn der Pandemie nie wieder gereist ist.

Putin legt sich und seinem Umfeld während der Pandemie ein striktes Sicherheitsprotokoll auf. Er selbst hält sich meist in seinen Residenzen am Stadtrand von Moskau oder in Sotschi auf. Besprechungen werden online abgehalten, vor einem persönlichen Kontakt müssen Personen zwei bis drei Wochen Quarantäne absolvieren. Dadurch ist er von vielen Beratern zunehmend abgeschnitten. Nur einer seiner Berater, Juri Kowaltschuk, wohnt dauerhaft in seiner Residenz, sie sprechen angeblich viel über den Konflikt mit dem Westen und russische Geschichte. Nach Recherchen von Verstka fällt Putin in dieser Zeit die Entscheidung, die Ukraine ganz offen anzugreifen. 

Die Invasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 bildet die größte Zäsur in Putins Auslandsreisen. Wegen der Aggression wird Russland international mit weiteren Sanktionen belegt und aus dem Banksystem SWIFT ausgeschlossen. Die EU verbietet die russischen Staatsmedien RT, Sputnik und RIA Novosti, russisches Vermögen im Ausland wird eingefroren. 

Im März 2023 erlässt der Internationale Strafgerichtshof (ICC) einen Haftbefehl gegen Wladimir Putin. Ihm wird vorgeworfen, für die Verschleppung von Kindern aus den annektierten Gebieten der Ukraine verantwortlich zu sein. Putin vermeidet es zunächst, ICC-Mitgliedstaaten zu bereisen, Anfang September 2024 kommt er jedoch in die Mongolei. Sein Kalkül geht auf: Die mongolischen Behörden verhaften Putin nicht. Die Mongolei grenzt nur an Russland und China und ist wirtschaftlich im höchsten Maße von diesen Autokratien abhängig. Diese Abhängigkeit schränkt den außenpolitischen Spielraum des Landes ein, Putins Festnahme wäre also sehr riskant.  

In der unabhängigen russischen Öffentlichkeit wird gewitzelt, der Staatsbesuch erinnere an die Tributreisen der Moskauer Großfürsten zu den Khans der Goldenen Horde im 13. Jahrhundert: Mit der Reise bestätige Putin seine Herrschaft und demonstriere der Weltöffentlichkeit, dass er nicht international isoliert sei.  

Die Auftritte von Putin seit dem 24. Februar 2022. Türkis: Mitgliedsstaaten des Internationalen Strafgerichtshofs, in denen Putin seit März 2023 eine Verhaftung zu befürchten hätte.

Putins Reiseziele und seine Reden haben sich in den letzten 24 Jahren verändert. Vor dem Bundestag verweist er auf eine gemeinsame europäische Kultur und wünscht positive Beziehungen zu Deutschland und den westlichen Ländern. Mit der Münchner Sicherheitskonferenz verlagern sich seine Themen: Er macht die USA verantwortlich für Unsicherheit und Gewalt in der Weltpolitik und kritisiert die NATO-Osterweiterung als eine Bedrohung Russlands. Nach der Annexion der Krim verlagern sich Russlands Kontakte nach Asien und in den Nahen Osten – im Westen schwindet die Zahl seiner Partner.  

Seine Entscheidungen, die Krim zu annektieren, den Krieg in der Ostukraine zu beginnen, schließlich sein Nachbarland auch ganz offen anzugreifen und der Welt mit Atomwaffen zu drohen, haben Russland in die Isolation geführt. Nun wendet sich Putin seinen verbliebenen Kontakten zu. Im Juni 2024 besucht Putin Pjöngjang und demonstriert gegenseitige Unterstützung. Zuvor war er das letzte Mal im Juli 2000 in Nordkorea gewesen.  

Wladimir Putin und Kim Jong Un bei einem Staatsbesuch in Pjöngjang im Juni 2024 / Quelle © Kremlin.ru gemeinfrei
Foto © kremlin.ru (CC BY 4.0)

Text: Jonas von Olberg
Datenvisualisierung: Daniel Marcus
Redaktion: Julian Hans
Veröffentlicht: 17.09.2024