Unter Palmen
Gleich nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine machte der Fotograf Ludwig Nikulski sich auf zu einer Reise entlang den westlichen Grenzen des angegriffenen Staates – und wachte eines Morgens unerwartet unter Palmen auf. Seine Arbeit Pod Palmami – Unter den Palmen ist eine künstlerisch-subjektive Auseinandersetzung mit einem sich verändernden Gebiet – der geografischen Linie, die den Rest Europas von diesem Krieg trennt. Nikulski geht der Frage nach, „wie sich die Anwesenheit des russischen Angriffskrieges in seiner Abwesenheit bemerkbar macht“.
Die Fotografien entstanden zwischen 2022 und 2024 mit einer analogen Großformatkamera in den Ländern Polen, Slowakei, Ungarn, Rumänien, Moldau sowie im russisch kontrollierten Separatistenstaat Transnistrien und der autonomen Region Gagausien.
13.03.2022
Die Morgendämmerung ist friedlich: Keine Wolken, blau-rot-violetter Himmel, Barschilder, Plastikpalmen, Vergnügungshütten, zerrissene Plakate, umgedrehte Boote, idyllische Sitzplätze am Seeufer. Auf dem Boden Plastikbecher und eine einsam-leere Jack-Daniels-Dose. Der See ist zugefroren, das dunkle Eis gesprenkelt mit weißen Blasen wie ein dichter Sternenhimmel. Alles ist still. Bis auf einen Uhu, eine Krähe und drei streunende Straßenhunde, die gezielt Müllsäcke zerbeißen. Ab und zu brummen Militärfahrzeuge, und der Box-Automat gibt beiläufig alarmierende Sirenen von sich.
Okuninka, Polen, Länderdreieck Polen-Belarus-Ukraine
11.02.2024
Nichts Offensichtliches passiert hier. Nichts, was auf den Krieg hinweist. Keine Anspannungen, keine öffentlichen Bauchschmerzen. Zwei Jahre nach Kriegsbeginn hat sich die Aufregung wohl gelegt. Ich frage mich, was ich hier tue. Nach Motiven suchen, die es nicht gibt? Zweihundert Meter weiter, hinter der Grenze, herrscht Kriegsrecht. Hier bekommt man nichts davon mit. Wenigstens darf hier der Fahrer des Schulbusses während der Fahrt noch rauchen. Vom Leben entnervt, guckt er leer durch die Frontscheibe und zieht an seiner Zigarette, während die Kinder aussteigen.
Záhony, Ungarn
12.03.2022
„Plötzlich taucht in der Ferne ein Autoscheinwerfer auf. Mein Herz klopft. Das Licht kommt näher und bleibt bei mir stehen. Ich höre ein Hello Sir und ziehe schnell meine Schuhe an, um wenigstens etwas seriös zu wirken. Es ist die Grenzpolizei. Der Beamte erklärt mir, dass ich hier nicht sein dürfe und gerade gegen das Gesetz verstoßen hätte. Er müsse das an die Regierung weiterleiten und ich müsse jetzt eine Strafe zahlen. Das hier sei die verbotene Zone. Zweihundert Meter von hier beginne Belarus. Die Grenze sei ein schmaler Fluss, leicht zu überqueren. Ich könnte nachts von kriegserfahrenen Leuten mit Gewehr oder Messer getötet und in den Wald geworfen werden. Denen sei ich egal, sagt man mir freundlich.“
No-Go-Area am Länderdreieck Polen-Belarus-Ukraine
12.03.2022
„Ich werde gefragt, was ich hier mache. Ob ich Flüchtlinge über die Grenze bringe, ob ich Waffen dabei habe. Nur das Messer, mit dem ich mein Brot schneide, sage ich. Warum ich kein Hotel nehme und hier an der Grenze schlafen will, wo es nachts am Fluss minus zehn Grad wird und die Gefahr lauert. Das passt alles nicht zusammen. Ich sage, weil ich kein Geld habe, weil ich gerne draußen schlafe und weil ich hier fotografieren will. Die Landschaft, den Himmel. Alles erzählt vom Krieg. Und irgendwie auch nicht. Der Himmel ist immer da, egal was ist. Das fände ich spannend, sage ich mit zitternder Stimme.“
No-Go-Area am Länderdreieck Polen-Belarus-Ukraine
12.03.2022
„Nach einem langen Gespräch und der Kontrolle aller möglichen Nummern, die ich bei mir habe, wird mir gesagt, dass ich keine Strafe bekomme. Der Beamte glaubt mir, dass ich kein Geld habe. Er sagt, dass sie mich von hier wegbringen, von diesem gefährlichen und verbotenen Ort. Dorthin, wo ihre Division stationiert sei. Ich solle ihnen folgen. Man schaut mir ernst und eindringlich in die Augen. Ich werde eskortiert. Vorbei an Grenzkontrollen, vorbei an Wald, Dunkelheit und klarer Luft. Nach wenigen Minuten erreichen wir den Ort, an dem ich in Sicherheit sein soll. Ich sehe eine geschmückte Hütte. Und noch eine. Coca-Cola-Plakate, geschlossene Imbissbuden, große Schriftzüge, etwas verwildert eine Lichterkette. Eine Feriensiedlung mit Soldaten im Laternenlicht.“
Okuninka, Polen, Länderdreieck Polen-Belarus-Ukraine
17.02.2023
„Wassja fährt uns Richtung Odessa, vorbei am Militärkontrollpunkt von Tiraspol und weiter über brüchige Straßen. Routiniert und ruckartig weicht er den Schlaglöchern aus. Manchmal fahren wir dafür halb durch ein Gebüsch. Es kratzt laut an den Scheiben und im Radio läuft Life is Life.“
Transnistrien, Republik Moldau
10.02.2023
„Delikatessen, Sindbad Kebab, ein Luxushotel, das Amt für öffentliche Sicherheit, ein Schaufenster mit Spielzeugpanzern, zwei Menschen in Warnwesten, ein Soldat und drei Polizisten, die mich mit meiner Kamera des Platzes verweisen. Nicht viel erinnert ein Jahr später an die Millionen von Geflüchteten, die diesen Bahnhofsvorplatz sahen, als sie mit dem Zug in Przemyśl ankamen und nicht wussten, wohin sie gehen sollten. Das Bahnhofscafé war voll mit Journalisten. Es gab nichts mehr zu essen. Es gab nur noch Schnitzel.“
Przemyśl, Polen
15.02.2024
„Drei Sterne an einer Schnellstraße. Satu Mare: Bröckelnder Asphalt vor roten Leuchtschildern, auf denen Bar und Restaurant steht. Verschnörkelte Stühle in einem weiß verkleideten Speisesaal. Schweinshaxe mit Pommes. Neben dem Hotel wurde eine Tankstelle platziert. Ihr gegenüber ist ein Parkplatz, auf dem ein zerstörter Lastwagen vergessen wurde. Hinter ihm rauscht die Autobahn. Vereinzelt steigen Rauchschwaden in der Abenddämmerung auf. Das schwarze Kabeltelefon neben meinem Bett und selbst das orangene Licht in meinem Zimmer, das von den Straßenlaternen in Blade-Runner Manier durch die Gardinen leuchtet, erzählen von Ernsthaftigkeit. Nichts hier ist mehr spielerisch. Alles ist ernst. Mittags steht der Mond über dem Asphalt und von Weitem wirken die Karpaten mit ihren Industrie-Sillhouetten im Dunst wie ein weit entfernter Traum von Ruhe.“
Satu Mare, Rumänien
16.02.2023
„In der Nacht träume ich, dass P. und seine Soldaten uns umzingeln. Zum ersten Mal in meinem Leben nehme ich ein Gewehr in die Hand und töte einen Menschen. Ein Erfolgserlebnis überkommt mich. Plötzlich bin ich allein. Alle meine Kameraden sind fort. Ich verlasse unseren Stützpunkt und gehe dorthin, wo eben noch der Feind stand. Niemand ist da. In der Ecke taucht ein Schatten auf. Ich nehme ein kleines Küchenmesser und will zustechen. Eine alte Frau erscheint. Wir schauen uns einen Moment lang verwirrt an, tun so, als sei nichts geschehen, und gehen wortlos aneinander vorbei wie im Großstadtverkehr. Als ich aufwache, frage ich mich: Wenn der Krieg überschwappt, wer von uns wird dann an die Front geschickt?“
Tiraspol, Transnistrien, Republik Moldau
13.02.2023
„Umgeben von unheimlicher Stille, weiten, flachen Maisfeldern und schönem Abendlicht werde ich von einem Kollegen der Toten zu einem Schnaps eingeladen. Ich fühle mich geschmeichelt von der Gastfreundschaft der Menschen hier und werde sensibel für die Spannung, die immer da ist und irgendwie auch nicht. Ich frage mich, wie meine Wahrnehmung hier gefiltert wird. Was bedeutet noch eine Landschaft? Wann wird die nächste Rakete einschlagen?“
Przewodow, Polen
dekoder: Sie sind entlang der ukrainischen Grenze durch fünf unterschiedliche Länder gereist. Haben Sie die Reise am Stück gemacht?
Ludwig Nikulski: Ich war insgesamt vier Mal vor Ort: In der dritten Kriegswoche, also im März 2022, war ich fünf Tage in Polen. Ein Jahr später bin ich zum Jahrestag der Vollinvasion wieder dorthin gereist. Direkt im Anschluss war ich fünf Tage in Transnistrien. Und dann habe ich im Februar dieses Jahres die große Tour gemacht: drei Wochen lang Slowakei, Ungarn, Rumänien, Moldau bis ans Schwarze Meer.
Kannten Sie die Region denn vorher?
Eigentlich gar nicht. Bis auf Polen. Ich bin in Greifswald aufgewachsen, da ist Polen nicht weit und ich war auch als Schüler im Ferienlager dort. Aber in allen anderen Ländern war ich zum ersten Mal. Das war vielleicht ein bisschen naiv. Aber andererseits war dieser ungetrübte Blick von jemandem, der diese Orte zum ersten Mal sieht, auch bewusst gewählt. Ich habe auch bewusst vorher nicht viel recherchiert.
Warum?
Unser Blick ist oft geprägt von visuellen Vorurteilen. Aus den Medien haben wir alle bestimmte Bilder von verschiedenen Regionen der Welt im Kopf. Wenn wir dann dort hinreisen, suchen wir genau diese Bilder. Und als Fotograf tappt man dann leicht in die Falle, diese Bilder auch mit heimzubringen und anderes zu übersehen. Ich wollte die ukrainische Grenze aber nicht zu einer Projektionsfläche für unsere Vorstellungen machen.
Das birgt aber auch Risiken.
Allerdings. Dass es Gagausien überhaupt gibt, habe ich zum Beispiel erst erfahren, als ich dort war!
Was ist Gagausien?
Das ist eine autonome Region innerhalb Moldaus, die ärmste des Landes. Die Gagausen sind ein Turkvolk, das seit der Zeit des osmanischen Imperiums dort lebt. Sie sprechen ihre eigene Sprache, Gagausisch, das dem Türkischen ähnlich ist, aber auch Russisch. Viele Gagausen haben Verwandte in Russland, sie beziehen billiges Gas von dort und lehnen eine Annäherung Moldaus an die Europäische Union ab. Da ist es schon besser, wenn man das weiß, bevor man als Europäer da hinreist.
Waren die Gagausen denn anti-ukrainisch eingestellt?
So einfach ist es dann auch wieder nicht. Ich habe dort einen Tourismus-Komplex besucht, der tatsächlich von der EU gefördert wurde. Mit Hochzeitssaal und Garten und einem fantastischen Restaurant. Die Betreiber bauen selbst Gemüse an und weben Teppiche. Es ist alles sehr traditionell. Als der Krieg begann, sind sehr viele Menschen aus der Ukraine dorthin geflüchtet. Sie wurden wie selbstverständlich aufgenommen und verpflegt.
Einige Ihrer Bilder erwecken den Eindruck von Vergnügungsparks oder Urlaubsgebieten, aus denen plötzlich die Menschen verschwunden sind.
Das hat mit meiner ersten Reise zu tun, als ich einfach losgefahren bin ins Dreiländereck Polen–Ukraine–Belarus. Ich dachte ganz naiv: Ich fotografiere tagsüber und schlafe nachts im Auto. Und dann war ich da, habe meine Zähne geputzt, die Schuhe ausgezogen, da kommt auf einmal aus der Ferne Scheinwerferlicht. Das waren polnische Grenzsoldaten, die haben mich aufgeklärt, dass ich mich hier nicht aufhalten darf, weil das Gebiet zu dicht an der Grenze mit Belarus liegt. Nachdem ich ihnen erklärt hatte, was ich vorhabe, sagten sie: „Okay, du kriegst keine Strafe, aber du kannst hier nicht bleiben. Wir bringen dich jetzt ins nächste Dorf, da ist unsere Division stationiert. Da kannst du auch im Auto schlafen. Die wissen jetzt Bescheid.“ Im Laternenlicht erkannte ich Soldaten, in meiner Vorstellung war ich auf dem Gelände einer Kaserne. Aber als ich dann am nächsten Morgen aufgewacht bin, sah ich einen See und abgeknickte Palmen aus Plastik und Spielautomaten. Alles sah nach einem Urlaubsdorf aus, fast idyllisch und gleichzeitig düster und skurril.
Staaten werden schnell nervös, wenn es um den Schutz ihrer Grenzen geht. War es schwer, dort als Fotograf zu arbeiten?
Es ist immer wieder vorgekommen, dass ich bestimmte Dinge oder Orte nicht fotografieren dufte. Zum Beispiel haben Grenzschützer mir verboten, den Fluss zu fotografieren. Für die meisten Betrachter ist ein Bild von einem Flussufer einfach eine Landschaftsaufnahme. Aber man kann darin eben auch nach Hinweisen suchen, an welcher Stelle die Grenze illegal überquert werden kann. Meine Tagebucheinträge sollen helfen, dort, wo ich nicht fotografieren konnte, die Lücke zu füllen.
Sie schreiben von der Abwesenheit der Anwesenheit des Krieges. Wie wirkt sich der Krieg denn auf die Grenzregion aus?
Das ist von Ort zu Ort und von Person zu Person sehr unterschiedlich. Die Betreiber dieser Urlaubs-Anlage in Gagausien waren hilfsbereit bis zur Erschöpfung. Derweil gab es im gleichen Ort einen Brandanschlag auf ein Auto vor einer Unterkunft, in der Geflüchtete lebten. Ich habe den polnischen Grenzpolizisten, der mich an der belarussischen Grenze vernommen hat, gefragt: „Was hat sich verändert durch den Krieg?“ Seine Antwort war: „Alles hat sich verändert.“ Und dann habe ich im Nachbarort einem Hotelier die gleiche Frage gestellt, und er hat geantwortet: „Nichts hat sich verändert.“ Es kommt immer sehr darauf an, wie die einzelnen Menschen betroffen sind. Für Wiktoria aus Przewodów, die ich an ihrem 18. Geburtstag fotografierte, hatte der Krieg sehr direkte Auswirkungen: Zwei Arbeitskollegen ihres Vaters sind durch eine fehlgeleitete Flugabwehrrakete aus der Ukraine ums Leben gekommen.