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„Dieses Buch zu lesen, fällt schwer. Unerträglich schwer“

Nina Weller
Text: Nina Weller12.11.2024

Wie entstand das Buch Feuerdörfer? Warum wurde es zu einem solch prägenden Buch, das nicht nur die sowjetische Literatur veränderte? Was sind die Gründe, dass es 50 Jahre gedauert hat, bis eine deutsche Übersetzung erscheinen konnte? 

Diese und anderen Fragen beantwortet die Slawistin Nina Weller

Die Gedenkstätte Chatyn in Belarus – jeder schwarze Quader steht symbolisch für eines der Dörfer, die unter der NS-Besatzung vernichtet wurden / Foto © Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas 

„Haben Sie schon mal von Chatyn gehört? … von Lidice? … von Oradour?“ – fragt eine Reporterin Ende der 1960er Jahre einige internationale Touristen, die gerade in Minsk eingetroffen sind. Oradour, der französische Ort, wo die deutsche Waffen-SS im Juni 1944 ein Massaker verübte, sagt allen etwas. Über Lidice, das tschechische Dorf in Mittelböhmen, das im Juni 1942 von den Nationalsozialisten zerstört und dessen gesamte Einwohnerschaft erschossen oder im KZ interniert wurde, ist nur wenigen etwas bekannt. Chatyn, das die deutschen Besatzer im März 1943 mitsamt seinen Bewohnerinnen und Bewohnern niederbrannten, sagt den Touristen gar nichts: Non, No, Nein, Nje.  

Die Szene stammt aus dem Dokumentarkurzfilm Chatyn, 5 km (1968) von Iwan Kolowski.1 In einer experimentellen Bild-Text-Klang-Ästhetik zeigt er, aus der Perspektive des Überlebenden Josif Kaminski, die Errichtung der Gedenkstätte in Chatyn. Sie steht stellvertretend für die zigtausend durch die Nationalsozialisten zerstörten belarussischen Dörfer. Was für diese Zeit in sowjetischen Filmen und Büchern über Krieg und Besatzung ungewöhnlich war: Der Film bindet die mündlich erzählten Erinnerungen von Überlebenden an die Ermordung von Angehörigen und an die Zerstörung ihrer Heimatdörfer ein.  

Zum Filmteam gehörte als Co-Autor des Drehbuchs auch der Schriftsteller Ales Adamowitsch.2 Die Erzählungen der Überlebenden gaben ihm den entscheidenden Impuls zur Entwicklung einer neuartigen Zeugenliteratur: „Auf einmal wusste ich über was die Erzählung berichten muss. […] Gesichter, Gesichter, Stimmen, Erzählungen und Augen, die Augen der Überlebenden …“3 Aus dieser Schlüsselerfahrung heraus entstanden die Chatyner Erzählung (1971)4 und das Buch Feuerdörfer (1975): In der Chatnyer Erzählung montierte Adamowitsch erstmals O-Töne Überlebender in den Erzähltext. Für Feuerdörfer vollzog er, gemeinsam mit Janka Bryl und Uladsimir Kalesnik, einen noch entschiedeneren Schritt zum Dokumentarischen, hin zur vielstimmigen Zeugenliteratur. Die Initiative dazu erwuchs aus dem Gefühl, dem „Chatyn-Gedächtnis“, trotz Erfolgs der Erzählung, nicht gerecht geworden zu sein. „Die Idee für ein dokumentarisches Buch ist das Ergebnis einer literarischen Niederlage … Ich bin der festen Überzeugung, dass keine Literatur auch nur ansatzweise an die Wahrheit herankommt, die in den Augen, in der Stimme, in den Worten dieser Menschen liegt.“5

„So etwas habe ich noch nie gelesen!“ 

Adamowitsch, Bryl und Kalesnik reisten zwischen 1970 und 1973 durchs Land und zeichneten in 147 Dörfern über 300 Gespräche auf. Adamowitsch erinnert sich: „Und immer die Angst, sich den Geschichten zu nähern, aber es war, als ob sie sich gegenseitig suchten […]. Sie fanden sich, und ein Kontext von Stimmen wurde geboren, sehr unterschiedliche, aber alle über eine Sache, alle über eine Sache. Und diese Stimmen waren bereits ein ‚Chor‘ – der Chor einer Tragödie, einer Volkstragödie […]. So wurde das Buch geschrieben – als ob es sich selbst schreiben würde.“6 Ganz von selbst schrieb sich das Buch allerdings nicht. Es war eine enorme Arbeit, die Transkription der mündlichen, umgangssprachlich und dialektal geprägten Erzählungen zu bewältigen. Eine weitere Herausforderung bestand darin, die O-Töne als „Chor der Stimmen“ zusammen mit der Erzählerstimme in eine erzählerische Kohärenz zu bringen, ohne sie allzu stark zu verfremden. 

Erste Kapitel als Vorabversionen erschienen zwischen 1971 und 1972 unter dem Titel Pamjaz (dt. Gedächtnis) und 1973 unter dem endgültigen Titel Ja s wohnennaj wjoski… (dt. Ich bin aus einem Feuerdorf…) in der Zeitschrift Maladosz (dt. Jugend).7 Das Echo war groß. „Dieses Buch zu lesen, fällt schwer. Unerträglich schwer“, schrieb der Literaturkritiker Lasar Lasarew in einer Rezension.8  Der Schriftsteller Sakrat Janowitsch äußerte gegenüber Janka Bryl: „So etwas habe ich noch nie gelesen, nicht nur auf Belarussisch! Ein überwältigender Eindruck!! Ich habe gelesen und geweint!“9 Von anderer Seite folgte der Vorwurf, das Buch zeige nur Opfer, kein Heldentum.10 Die Redaktion von Maladosz setzte sich gegen die Vorbehalte der staatlichen Behörden für die Publikation des Buches ein. Für die erste Buchfassung entfernte die Zensur dennoch zahlreiche Passagen, insbesondere solche, in denen von gewalttätigem Vorgehen der Partisanen gegen die zivile Bevölkerung oder von Kollaboration berichtet wird.11

Die belarussische Erstausgabe der Feuerdörfer erschien 1975 im Minsker Verlag Mastazkaja literatura. Wie die Vorabdrucke enthielt sie Porträtfotografien der Zeitzeug*innen, Fotos von Dörfern und Landschaften, nun ergänzt durch historische Aufnahmen, die die nationalsozialistischen Verbrechen dokumentierten, sowie Archivmaterial zum nationalsozialistischen „Generalplan Ost“. Außerdem waren dem Buch zwei dünne Schallplatten mit ausgewählten O-Tönen beigelegt.12 Zwischen 1977 und 2022 folgten mehrere Folgeausgaben auf Belarussisch und in russischer Übersetzung (russ. Ja is ognennoi derewni…), darunter eine Doppelausgabe zusammen mit dem Blockadebuch (1991). Bis Anfang der 1980er Jahre wurde Feuerdörfer ins Ukrainische, Polnische, Bulgarische, Tschechische, Ungarische und Englische übersetzt.  

Ein Schlüsseltext zur Erinnerung der Wehrmachtsverbrechen 

Mit der Übersetzung von Thomas Weiler für den Aufbau Verlag liegt das Buch nun erstmal auf Deutsch vor. Warum aber hat es Jahrzehnte gedauert, obwohl beim Verlag Volk und Welt bereits 1974 der Vorschlag für eine deutschsprachige Ausgabe in der DDR auf dem Tisch lag? Man könnte meinen, dass man die Drastik in der Gewalt-Darstellung der Leserschaft nicht zumuten wollte. Der Gutachter zeigte sich allerdings wenig ergriffen. Er störte sich vor allem am kompilatorischen monotonen Charakter der Zeugenstimmensammlung und an den subjektiven Wahrnehmungen der „einfachen Leute“. Die Kommentare der Autoren sei zu wenig analytisch und zu sehr von einem didaktischen, pathetischen Gestus getragen – letzteren Kritikpunkt hatte das Buch seit seiner Ersterscheinung tatsächlich begleitet.13 Als der Verleger Leonhard Kossuth einige Jahre später vor dem Dilemma stand, das Blockadebuch oder doch Feuerdörfer, dem die Gutachter inzwischen weitaus positiver gegenüberstanden, in deutscher Übersetzung herauszubringen, entschied er sich für das Blockadebuch.14

Die Arbeit an Feuerdörfer war Katalysator für Adamowitschs weiteres Schaffen: Er beendete seine langjährige Arbeit an dem fiktional-dokumentarischen Buch Karateli (1981, dt. Henkersknechte) und schrieb das Drehbuch zu Elem Klimows Film Idi i smotri (1985, dt. Komm und sieh). Es diente als Vorbild für das berühmte Blockadebuch (1979), in dem er zusammen mit Daniil Granin Stimmen der Überlebenden der Blockade Leningrads versammelte. Feuerdörfer hat Swetlana Alexijewitsch zu ihrem chorischen Schreiben inspiriert. Bis heute ist es vielen Belarusinnen und Belarusen ein schmerzhaft prägender Bezugspunkt der Erinnerung an die „verbrannten Dörfer“. Dass es sich bei dem Buch um einen Schlüsseltext zur Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen in Belarus und zur dokumentarischen Zeugenliteratur handelt, ist in der deutschen Erinnerungskultur nur bei wenigen15 angekommen. Fast fünfzig Jahre nach Erscheinen der Erstausgabe und fast achtzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs könnte und sollte sich das nun ändern.


Anmerkung der Redaktion:
Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


    Fußnoten

    Belarus’film (Youtube): https://www.youtube.com/watch?v=5RqNu8mqVhw

    Adamowitsch schrieb Ende der 1960er Jahre das Drehbuch für den vierteiligen Dokumentarfilmzyklus Zweihundert Lidices, wovon nur Chatyn, 5 km realisiert wurde. 1970 war Chatyn, 5 km bei den XVI. Kurzfilmtagen in Oberhausen zu sehen. In der UdSSR durfte er erst ab 1988 gezeigt werden. Vgl. u.a. Thomas Weiler: Journal zur Übersetzung von Feuerdörfer: https://www.toledo-programm.de/journale/7362/n-a

    Vgl. Ales’ Adamovič: Dvaždy perežitoe. In (Ders.): Izbrannye proizvedenija v dvuch tomach. Tom 2. Minsk: Mastackaja litaratura 1977, S. 440‒448, hier: S. 444

    Dt. Stätten des Schweigens, übersetzt von Heinz Kübart, Aufbau Verlag 1974

    Ales’ Adamovič: Dvaždy perežitoe, S. 447, 446

    Ales’ Adamovič: Dvaždy perežitoe, S. 447

    Vgl. Maladosz 4/1971, S. 117‒124; 7/1973, S.14-74; 9/1973, S.12-54; 10/1973, S. 14-69

    Lazar’ Lazarev: Ljudi v ogne. In: Novyj mir 4/1975, S. 258 (Zitatübers. Thomas Weiler)

    Sakrat Janovič: Brief an Janka Bryl vom 10.09.1973. In: Belaruski dzjaržaŭny archiŭ-muzej litaratury i mastactva: http://bdamlm.by/gallery/vystava-u-suautarstve-z-narodam (Zitatübers. Thomas Weiler)

    Vgl. Ales’’ Adamovič: „Otvet na anketu isdatelstva ‚Kniga‘. In: Sobranije i sočiinenii v četyrech tomach. Tom 4, Minsk: Mastackaja literatura 1983, S. 282-311, hier: S. 297

    Darüber berichtet u.a. Janka Bryl. Vgl. Sergej Šapran: Oni byli pervymi, S 7. 

    Die digitalisierten Audiodateien finden sich im Online-Katalog der Belarussischen Nationalbibliothek. 

    Verlagsarchiv Volk & Welt, Archiv der Akademie der Künste Berlin, Signatur: VuW 923

    Ebd. 

    Vgl. Franziskas Davies/Katja Makhotina. Offene Wunden Osteuropas: Reise Zu Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs. Darmstadt: Wbg Theiss, 2022